Bsw35943/10 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Vona gg. Ungarn, Urteil vom 9.7.2013, Bsw. 35943/10.
Spruch
Art. 11, 17 EMRK - Auflösung einer rechtsextremen Vereinigung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 11 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist der Vorsitzende der Vereinigung »Ungarische Garde« (Magyar Gárda Egyesület; »die Vereinigung«), die am 8.5.2007 durch zehn Mitglieder der politischen Partei »Bewegung für ein besseres Ungarn« (Jobbik Magyarországért Mozgalom) gegründet wurde und den Schutz der ungarischen Tradition und Kultur verfolgte.
Die Vereinigung gründete ihrerseits am 18.7.2007 die Bewegung »Ungarische Garde« (Magyar Gárda Mozgalom; »MGM«), deren Ziel es gemäß ihrer Gründungserklärung war, »Ungarn physisch, spirituell und intellektuell zu verteidigen«. Zu ihren Aufgaben gehörten das physische und mentale Training ihrer Mitglieder sowie die Anregung eines öffentlichen Dialogs im Zusammenhang mit der Katastrophenhilfe und der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit.
Am 4.10.2007 forderte die Staatsanwaltschaft Budapest die Vereinigung auf, ihre rechtswidrigen Aktivitäten einzustellen, da unter anderem die Ziele der MGM weder mit denen der Vereinigung übereinstimmten noch mit deren traditionsbewusster Ausrichtung vereinbar seien. Daraufhin gab der Bf. am 9.11.2007 der Staatsanwaltschaft die Änderung des Statuts der Vereinigung bekannt, wonach zu deren Zielen auch die Anregung eines Dialogs mit der Gesellschaft und die Organisation öffentlicher Veranstaltungen zu die Sicherheit der Bürger betreffende Themen wie Katastrophenhilfe, nationale Verteidigung und Lebensrettung gehörten.
Zur Verfolgung dieser Ziele führten Mitglieder der MGM, in Uniformen gekleidet, Kundgebungen und Demonstrationen in Ungarn durch, auch in Dörfern mit hohem Roma-Anteil, und riefen zur Verteidigung der »ungarischen Rasse« gegen die sogenannte »Zigeuner-Kriminalität« auf. Dies wurde durch die Behörden nicht untersagt. Eine solche Demonstration mit etwa 200 Teilnehmern fand am 9.12.2007 in Tatárszentgyörgy statt, wo die anwesende Polizei den Durchmarsch durch eine von Roma bewohnte Straße untersagte.
Als Reaktion auf die Ereignisse erhob der Generalstaatsanwalt von Budapest am 17.12.2007 Anklage und beantragte die Auflösung der Vereinigung, da die MGM und ihre Aktivitäten einen erheblichen Teil der Vereinigung darstellen würden. Im anschließenden Verfahren brachte Letztere vor, dass keine organisatorische Verbindung und damit auch keine Verantwortlichkeit bestehe.
Am 16.12.2008 gab das Landesgericht Budapest dem Antrag der Staatsanwaltschaft statt und löste die Vereinigung gemäß Art. 16 Abs. 2 des Gesetzes Nr. II über die Vereinigungsfreiheit von 1989 auf, da ein »symbiotisches Verhältnis« zur MGM vorliege.
Das Berufungsgericht von Budapest und der Oberste Gerichtshof bestätigten diese Entscheidung.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 11 EMRK (hier: Vereinigungsfreiheit) durch die Auflösung der Vereinigung.
Zur Zulässigkeit
Die Regierung bringt vor, dass die Beschwerde im Hinblick auf Art. 17 EMRK als ratione materiae unzulässig zurückzuweisen sei, da die Vereinigung einen institutionellen Rahmen schaffe, um Fremdenfeindlichkeit gegen Juden und Roma Ausdruck zu verleihen.
Der GH beobachtet zunächst, dass die vorliegende Beschwerde eine erhebliche Beschränkung der Vereinigungsfreiheit des Bf. betrifft, die zum Entzug der Rechtspersönlichkeit der Vereinigung führte. Der vorliegende Fall unterscheidet sich insofern von Garaudy/F und Lehideux und Isorni/F, als es bei diesen um die Rechtfertigung nationalsozialistischer Anschauungen ging. Die Feststellung eines Missbrauchs iSd. Art. 17 EMRK gründete folglich auf der Tatsache, dass sich Gruppen mit totalitären Motiven auf Art. 10 EMRK beriefen.
Im vorliegenden Fall wurde von der Regierung nicht vorgebracht, dass der Bf. Verachtung für die Opfer eines totalitären Regimes äußerte oder zu einer Gruppe mit totalitären Zielen gehörte. Der Bf. war im fraglichen Zeitraum der Vorsitzende einer eingetragenen Vereinigung, die nach Ansicht der nationalen Gerichte eine Einheit mit der MGM darstellte. Die von ihm gerügte Auflösung der Vereinigung und der MGM beruhte hauptsächlich auf einer nach nationalem Recht nicht für rechtswidrig erklärten und nicht gewalttätigen Demonstration. Unter diesen Umständen kann der GH nicht zu dem Ergebnis kommen, dass die Aktivitäten der Vereinigung totalitäre Anschauungen rechtfertigen oder propagieren wollten.
Diese Aktivitäten, deren Vereinbarkeit mit Art. 11 EMRK in der Sache zu prüfen ist, zeigen prima facie kein Handeln, das sich gegen die Rechte und Freiheiten der Konvention richtet, oder eine Intention des Bf. zur Rechtfertigung oder Propaganda totalitärer Anschauungen. Erst nach einer vollständigen Überprüfung ist der GH in der Lage zu entscheiden, ob Art. 17 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist. Daraus folgt, dass die Beschwerde keinen Missbrauch iSd. Art. 17 EMRK darstellt und nicht ratione materiae unzulässig ist. Da die Beschwerde auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK
Der GH nimmt zur Kenntnis, dass die Auflösung der durch den Bf. vertretenen Vereinigung sich auch auf die MGM auswirkte. Es liegt daher ein Eingriff in das Recht des Bf. nach Art. 11 EMRK vor.
Zur Frage, ob der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war und ein legitimes Ziel verfolgte
Der GH beobachtet, dass die Vereinigung und folglich die MGM gemäß Art. 16 Abs. 2 lit. d iVm. Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. II über die Vereinigungsfreiheit von 1989 aufgelöst wurden. (Anm: Nach Art. 16 Abs. 2 lit. d des Gesetzes Nr. II über die Vereinigungsfreiheit von 1989 hat das Gericht im Falle der Anklage durch die Staatsanwaltschaft eine Vereinigung aufzulösen, wenn unter anderem eine Beeinträchtigung der Rechte und Freiheiten anderer iSd. Art. 2 Abs. 2 dieses Gesetzes vorliegt.) Das Berufungsgericht und der Oberste Gerichtshof stellten fest, dass die MGM im Zuge der Auslegung des nationalen Rechts nicht als unabhängig anzusehen sei, sondern als eine Einheit mit der Vereinigung. Sie sahen die hauptsächliche Aktivität der Vereinigung in der Gründung, Leitung und Finanzierung der MGM. Der GH erkennt keine Anzeichen für Willkür in der Rechtsanwendung. Im Hinblick darauf, dass die Gründung der MGM ein Projekt der Vereinigung war, dass sich beide ein Bankkonto teilten, dass über die Aufnahme neuer Mitglieder in die MGM durch die Vereinigung entschieden wurde und die MGM ihre Uniformen bei der Vereinigung kaufte, hält der GH die Ansicht der Gerichte für nachvollziehbar.
Folglich ist der GH der Ansicht, dass die Auflösung der Vereinigung wegen der Handlungen der MGM im Hinblick auf das durch die nationalen Gerichte festgestellte gegenseitige Verhältnis »gesetzlich vorgesehen« war und die angefochtene Maßnahme die Ziele der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und den Schutz der Rechte anderer verfolgte. Diese sind als legitim iSd. Art. 11 EMRK zu betrachten – trotz der Behauptung des Bf., dass keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder Verletzungen der Rechte anderer durch die nationalen Gerichte gezeigt wurden. Es bleibt zu prüfen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.
Zur Frage, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war
Der GH betont zunächst, dass, auch wenn politische Parteien und soziale Organisationen gleichermaßen unter den Schutz von Art. 11 EMRK fallen, Letztere nur einen indirekten Beitrag zum Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft leisten.
In einigen Mitgliedstaaten des Europarates genießen politische Parteien einen besonderen Rechtsstatus, der ihnen die politische Teilhabe erleichtert; darüber hinaus haben sie besondere, rechtlich verankerte Funktionen im Wahlprozess und bei der öffentlichen Meinungsbildung. Soziale Organisationen genießen üblicherweise derartige rechtliche Privilegien nicht und haben geringere Möglichkeiten, die politische Entscheidungsfindung zu beeinflussen. Viele nehmen nicht am politischen Leben teil, obwohl keine strikte Trennung zwischen den verschiedenen Formen von Vereinigungen in dieser Hinsicht besteht und die jeweilige politische Bedeutung nur aufgrund einer Einzelfallbetrachtung feststellbar ist. Auch wenn der Einfluss sozialer Organisationen auf das politische System geringer ist, ist er dennoch zu berücksichtigen, wenn eine gewisse Gefahr für die Demokratie festgestellt wurde.
Nach Ansicht des GH ist ein Staat berechtigt, vorbeugende Maßnahmen zum Schutz von Demokratie auch gegenüber derartigen Institutionen, die keine Parteien sind, zu treffen, wenn eine hinreichend erhebliche Beeinträchtigung der Rechte anderer die fundamentalen Werte einer demokratischen Gesellschaft untergräbt. Einer dieser Werte ist das gesellschaftliche Zusammenleben ohne Ausgrenzungen aufgrund der Rasse, was in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar ist. Es kann nicht vom Staat verlangt werden abzuwarten, bis eine Organisation Handlungen unternimmt, um die Demokratie zu untergraben, oder Gewalt ergreift. Er ist berechtigt, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, wenn es sich herausgestellt hat, dass konkrete Schritte in der Öffentlichkeit unternommen werden, um eine Anschauung zu verbreiten, die unvereinbar mit der Konvention oder Demokratie ist.
Um die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu beurteilen, nimmt der GH zur Kenntnis, dass der vorliegende Fall nicht die Auflösung einer politischen Partei, sondern die einer Vereinigung und einer Bewegung betrifft. Die Verantwortlichkeit, die sich aus der besonderen verfassungsrechtlichen Rolle und den rechtlichen Privilegien von politischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten ergibt, kann im Fall sozialer Organisationen nur Anwendung finden, wenn diese einen vergleichbaren politischen Einfluss haben. Der GH ist sich bewusst, dass der Entzug der Rechtspersönlichkeit der Vereinigung und der MGM eine schwere Sanktion darstellt, da er geeignet ist, diese Gruppen von den rechtlichen, finanziellen und praktischen Vorteilen abzuschneiden, die üblicherweise in den meisten Rechtsordnungen für eingetragene Vereinigungen gewährleistet sind. Daher muss auch die Auflösung einer Vereinigung – wie die einer politischen Partei – von hinreichenden Gründen gestützt werden, obwohl die Rechtfertigung einer vorbeugenden restriktiven Maßnahme im Falle einer Vereinigung wegen des geringeren nationalen Einflusses weniger zwingend sein kann als bei einer politischen Partei. Nur Letztere erfordert die zwingende Überprüfung, ob eine Beschränkung ihrer Vereinigungsfreiheit notwendig ist. Bei Vereinigungen mit politischen Zielen und politischem Einfluss hängt der Grad der Prüfung von der tatsächlichen Art ihrer Organisation im Hinblick auf die Umstände des Falles ab.
Die MGM wurde von der Vereinigung »Ungarische Garde« gegründet, die den Zweck verfolgte, »Ungarn physisch, spirituell und intellektuell zu verteidigen«. Die Aktivitäten der MGM beinhalteten Kundgebungen und Demonstrationen, bei denen die Mitglieder Uniformen trugen und sich militärisch formierten. Dies geschah an verschiedenen Orten des Landes, und insbesondere in Dörfern mit hohem Roma-Anteil wie Tatárszentgyörgy. Das Ergebnis dieser Vorkommnisse war die rassistische Einschüchterung von Roma. Die Feststellung der Gerichte in den anschließenden Verfahren, dass beide Institutionen eine Einheit bilden, betrachtet der GH im Hinblick auf die genannten Argumente als nachvollziehbar und nicht willkürlich.
Die nationalen Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass, auch wenn es bei den Aktivitäten nicht zu Gewalt gekommen ist, die Vereinigung und die MGM dafür verantwortlich seien, durch ihre Demonstrationen sowohl verbal als auch visuell eine gegen Roma gerichtete Atmosphäre geschaffen zu haben, was einem Missbrauch der Vereinigungsfreiheit gleichkomme, sich gegen die Menschenwürde richte und die Rechte anderer beeinträchtige, nämlich die der Roma. Die Gerichte beobachteten, dass das zentrale Thema der Kundgebung in Tatárszentgyörgy die »Zigeuner-Kriminalität« war, einem rassistischen Konzept, und insbesondere dass die Kundgebungen in militärähnlichen Uniformen stattfanden, militärische Befehle und Salute beinhalteten sowie Armbinden verwendet wurden, die an die der Pfeilkreuzlerpartei (Anm: Die Pfeilkreuzlerpartei war eine nationalsozialistische Partei in Ungarn, unter deren Regierung es von Ende 1944 bis Anfang 1945 zur Verfolgung und Ermordung tausender Juden und Roma kam.) erinnerten. Im Berufungsverfahren wurde außerdem festgestellt, dass die Bewohner der Dörfer als unfreiwilliges Publikum der Bewegung dienten, da sie sich den extremen Anschauungen nicht entziehen konnten. Nach Ansicht der Gerichte schuf dies eine öffentliche Bedrohung, indem soziale Spannungen und eine Atmosphäre bevorstehender Gewalt geschaffen wurden.
Der GH betrachtet die Feststellungen der ungarischen Gerichte weder als nicht nachvollziehbar noch als willkürlich und teilt deren Ansicht, dass sich die Aktivitäten und Äußerungen der MGM auf die Minderheit der Roma richteten. Er hat bereits im Zusammenhang mit Art. 10 EMRK festgehalten, dass Anschauungen oder Verhaltensweisen nicht nur deshalb nicht vom Schutz iSd. Konvention erfasst werden, weil sie ein Gefühl der Unbehaglichkeit in bestimmten Bevölkerungsgruppen hervorrufen oder von einigen als respektlos angesehen werden können. Nach Ansicht des GH muss dies auch für die Vereinigungsfreiheit gelten, wenn es um eine Vereinigung von Personen zur Verbreitung nicht allgemein anerkannter oder auch schockierender oder aufwühlender Anschauungen geht. Strikte Maßnahmen, die fundamentale Rechte wie die Vereinigungsfreiheit beschränken, sind schwer mit dem Gedanken der Konvention zu vereinbaren, die den Ausdruck politischer Anschauungen mit allen friedlichen und rechtmäßigen Mitteln, Vereinigungen und Versammlungen eingeschlossen, gewährleisten will, außer wenn die betreffende Vereinigung als ein Herd von Gewalt anzusehen ist oder die Ablehnung von Demokratie hervorruft.
Es ist folglich zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Handlungen der Vereinigung und der MGM sich innerhalb der Grenzen friedlicher und rechtmäßiger Aktivitäten bewegten. In diesem Zusammenhang muss der GH insbesondere berücksichtigen, dass die Aktivisten mehrere Kundgebungen wie in Tatárszentgyörgy durchführten, an denen 200 Personen in einem Dorf mit etwa 1800 Einwohnern teilnahmen. Es trifft zu, dass es nicht zu Gewalt kam, wobei jedoch nicht feststellbar ist, ob dies aufgrund der Anwesenheit der Polizei der Fall war. Die Aktivisten marschierten in das Dorf ein, während sie Uniformen und Armbinden trugen und sich militär-ähnlich formierten. Nach Ansicht des GH war eine solche Kundgebung geeignet, Anwesenden die Botschaft zu vermitteln, dass die Organisatoren die Absicht und Möglichkeit haben, zur Erreichung ihrer Ziele auf eine paramilitärische Organisation zurückzugreifen. Die paramilitärische Formation erinnerte an die ungarische Pfeilkreuzler-Bewegung, die das Rückgrat des Regimes bildete, das unter anderem für die massenhafte Auslöschung der Roma in Ungarn verantwortlich war. Im Hinblick darauf, dass organisatorische Verbindungen zwischen der Vereinigung und der Bewegung bestanden, stellt der GH darüber hinaus fest, dass der einschüchternde Effekt der Kundgebungen dadurch verstärkt wurde, dass er von einer eingetragenen, rechtlich anerkannten Vereinigung ausging.
Der GH ist der Meinung, dass die Zurschaustellung der Möglichkeit und Absicht politischer Protagonisten, eine paramilitärische Streitmacht zu organisieren, über den Gebrauch friedlicher und rechtmäßiger Mittel hinausgeht, um politische Anschauungen auszudrücken. Unter Berücksichtigung historischer Erfahrungen – wie die der Pfeilkreuzlerpartei in Ungarn – müssen paramilitärische Demonstrationen einer Vereinigung, die rassische Trennung zum Ausdruck bringt und implizit zu rassistischen Handlungen aufruft, einen einschüchternden Effekt auf Mitglieder einer Minderheit haben, insbesondere wenn sie sich als unfreiwilliges Publikum in ihren Häusern befinden. Für den GH überschreitet dies die äußerste Grenze des Anwendungsbereichs der Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit nach der Konvention und kommt einer Einschüchterung gleich, die eine echte Bedrohung darstellt. Der Staat ist daher berechtigt, Mitglieder betroffener Gruppen davor zu schützen, insbesondere wenn der Grund der Einschüchterung in ihrer Rasse und ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe liegt. Ein paramilitärischer Marsch geht über das Ausdrücken einer aufwühlenden oder aggressiven Anschauung hinaus, da die Aussage von der physischen Präsenz einer bedrohlichen Gruppe von Aktivisten begleitet wird. Wenn eine Meinungsäußerung mit einem Verhalten zusammentrifft, kann das Schutzniveau, das der Meinungsäußerungsfreiheit grundsätzlich zukommt, nach Ansicht des GH gegenüber gewichtigen Interessen der öffentlichen Ordnung eingeschränkt werden. Wenn das Verhalten einschüchternd oder bedrohlich ist oder ein anderes Recht iSd. Konvention aus Gründen der Rasse einschränkt, kann dies auch im Zusammenhang mit Art. 10 und 11 EMRK nicht unberücksichtigt bleiben.
Im vorliegenden Fall zielten die umstrittenen Aktivitäten deutlich auf die Minderheit der Roma ab. Der GH ist nicht vom Argument des Bf. überzeugt, dass es nicht die Absicht der aufgelösten Institutionen war, diese verletzliche Gruppe auszugrenzen oder einzuschüchtern. Wie er bereits betont hat, kann unter solchen Umständen von den Behörden nicht verlangt werden, die weitere Entwicklung abzuwarten, bevor sie zum Schutz der Rechte anderer eingreifen, da die MGM konkrete Schritte in der Öffentlichkeit unternommen hat, um eine Anschauung zu verbreiten, die nicht mit den Grundsätzen der Konvention vereinbar ist. Der einschüchternde Charakter der Kundgebungen überwiegt somit, auch wenn die betreffende Versammlung nicht von den Behörden verhindert wurde und es nicht zu Gewalt oder Verbrechen kam. Ausschlaggebend ist, dass die wiederholte Durchführung geeignet war, andere einzuschüchtern und dadurch ihre Rechte zu beeinträchtigen, insbesondere unter Berücksichtigung der Orte der Kundgebungen.
Bezüglich der Auflösung der Vereinigung steht fest, dass die Demonstrationen an sich nicht unrechtmäßig waren und es vorliegend nicht Aufgabe des GH ist zu entscheiden, in welchem Ausmaß diese einer Ausübung der Versammlungsfreiheit gleichkamen. Durch das tatsächliche Verhalten bei derartigen Demonstrationen können die wahre Natur und die Ziele einer Vereinigung zu Tage treten. Die Serie von Kundgebungen mit paramilitärischen Paraden gegen »Zigeuner-Kriminalität« ist nach Ansicht des GH geeignet, den Gedanken der Rassentrennung zu verbreiten. Tatsächlich können sie als erste Schritte zur Realisierung einer im Kern rassistischen »Law and Order«–Politik gesehen werden.
Der GH betont, dass, wenn die Versammlungsfreiheit wiederholt in Form von einschüchternden Kundgebungen großer Gruppen ausgeübt wird, der Staat berechtigt ist, einschränkende Maßnahmen bezüglich der Vereinigungsfreiheit insofern vorzunehmen, als dies notwendig ist, um die von einer solchen Einschüchterung ausgehende Gefahr für die Demokratie zu verhindern. Eine koordinierte Einschüchterung durch große Gruppen, die sich auf die Befürwortung rassistischer Anschauungen richtet und nicht mit den fundamentalen Werten einer Demokratie vereinbar ist, kann einen Eingriff des Staates in die Vereinigungsfreiheit trotz des engen Ermessensspielraums in diesem Bereich rechtfertigen. Grund dafür sind die negativen Konsequenzen, die eine solche Einschüchterung auf die politische Einstellung der Bevölkerung haben kann. Während die Befürwortung anti-demokratischer Ideen an sich nicht ausreicht, um aufgrund zwingender Notwendigkeit eine politische Partei und noch weniger eine – im Gegensatz zu einer Partei keinen besonderen Status genießende – Vereinigung zu verbieten, können die Gesamtumstände, insbesondere koordinierte und geplante Aktionen, hinreichende und maßgebliche Gründe für eine derartige Maßnahme darstellen, vor allem wenn keine anderen möglichen Formen für die Äußerung schockierender Ansichten direkt betroffen sind.
Im Hinblick auf die obigen Feststellungen ist der GH davon überzeugt, dass die von den nationalen Behörden herangezogenen Argumente maßgeblich und ausreichend waren, um das dringende soziale Bedürfnis für die angefochtene Maßnahme zu verdeutlichen. Auch wenn ihm bewusst ist, dass die Auflösung der MGM und der Vereinigung eine drastische Maßnahme darstellt, ist er dennoch der Ansicht, dass die Behörden das mildeste und einzig nachvollziehbare Mittel wählten, um diesem Problem zu begegnen. Darüber hinaus muss zur Kenntnis genommen werden, dass, obwohl die nationalen Behörden die Vereinigung zunächst auf die unrechtmäßigen Aktivitäten der MGM hinwiesen, im Laufe des Verfahrens weitere Kundgebungen stattfanden. Nach Ansicht des GH konnte die Bedrohung der Rechte anderer durch die Kundgebungen nur durch den effektiven Entzug der organisatorischen Unterstützung durch die Vereinigung beseitigt werden. Hätten die Behörden nichts gegen die anhaltenden Aktivitäten der MGM und der Vereinigung getan, indem sie ihre Rechtspersönlichkeit und die damit verbundene Privilegierung aufrecht erhalten hätten, hätte die Öffentlichkeit annehmen können, dass der Staat diese Bedrohung legitimiere. Das hätte bedeutet, dass die Vereinigung die MGM weiterhin hätte unterstützen können und der Staat dadurch indirekt die Inszenierung ihrer Aufmärsche erleichtert hätte. Weiters nimmt der GH zur Kenntnis, dass keine zusätzlichen Sanktionen gegen die Vereinigung oder die MGM erfolgten oder ihre Mitglieder in irgendeiner Form gehindert wurden, weiterhin politischen Aktivitäten nachzugehen. Unter diesen Umständen war die Maßnahme nicht unverhältnismäßig zum verfolgten Ziel. Keine Verletzung von Art. 11 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).
Vom GH zitierte Judikatur:
United Communist Party of Turkey u.a./TR v. 30.1.1998 (GK) = NL 1998, 23
Lehideux und Isorni/F v. 23.9.1998 (GK)= NL 1998, 195 = ÖJZ 1999, 656
Refah Partisi (The Welfare Party) u.a./TR v. 13.2.2003 (GK)= NL 2003, 30 = EuGRZ 2003, 206 = ÖJZ 2005, 975
Garaudy/F v. 24.6.2003 (ZE)
Güneri u.a./TR v. 12.7.2005
Vajnai/H v. 8.7.2008 = NL 2008, 208
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 9.7.2013, Bsw. 35943/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 245) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_4/Vona.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.