Bsw21565/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Julius Kloiber Schlachthof GmbH u.a. gg. Österreich, Urteil vom 4.4.2013, Bsw. 21565/07.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 1.Prot. EMRK - Zuschläge für nicht bezahlte Agrarmarketingbeiträge.
Verbindung der Beschwerden (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde wegen behaupteter fehlender Entscheidung durch ein Tribunal und behaupteten Fehlens einer Verhandlung (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK mangels Entscheidung durch ein Tribunal (einstimmig).
Keine Notwendigkeit, die Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK auch wegen Fehlens einer Verhandlung zu untersuchen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 3.679,44 an die ErstBf., € 3.402,32 an die ZweitBf., € 3.263,76 an die DrittBf., € 5.504,20 an die ViertBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vier bf. Unternehmen Julius Kloiber Schlachthof GmbH (die »ErstBf.«), Firma Pöll Günter ( die »ZweitBf.«), Pöll-Fleisch GmbH (die »DrittBf.«) und Schweinespezialbetrieb Innviertel GmbH (die »ViertBf.«) führen die Schlachtung von Vieh und Schweinen durch. Dadurch sind sie nach dem Agrarmarktgesetz verpflichtet, Agrarmarketingbeiträge an die Agrarmarkt Austria (»AMA«) zu zahlen.
Die AMA erließ 2006 Zahlungsbescheide gegen die Bf. Die ErstBf. wurde zur Zahlung von ausstehenden Beiträgen für die Jahre 2003 und 2004 in Höhe von € 56.573,62 verpflichtet. Zusätzlich wurde ihr ein Zuschlag von 10 % des nicht bezahlten Beitrags auferlegt. Die ZweitBf. bzw. die DrittBf. hatten € 12.556,43 bzw. € 5.936,01 an ausstehenden Beiträgen zu bezahlen, plus ebenfalls je einen Zuschlag in Höhe von 10 %. Die ViertBf. hatte ausstehende Beiträge in Höhe von € 96.050,48 und einen Zuschlag von 60 % dieses Beitrags zu leisten.
Die Bf. legten gegen die Bescheide Berufung ein, da das obige System gegen EU-Bestimmungen verstoßen würde und verlangten in den Berufungsverfahren nach einer mündlichen Verhandlung. Der Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft wies die Berufungen am 17.7.2006 ohne Anhörung ab.
Gegen die Entscheidung des Bundesministers brachten die Bf. Beschwerden beim VfGH und VwGH ein. Vor dem VfGH rügten sie, dass die auferlegten Zuschläge ihr Recht auf Eigentum verletzt hätten. Beim VwGH beschwerten sie sich unter anderem darüber, dass es bis dato zu keiner öffentlichen Verhandlung gekommen sei und kein Gericht im Sinne des Art. 6 EMRK über den erhobenen strafrechtlichen Vorwurf entschieden hätte. Die Bf. baten den VwGH um eine öffentliche Verhandlung.
Der VfGH lehnte es mangels Erfolgsaussichten ab, die Beschwerden zu behandeln. Der VwGH wies die Beschwerden mit Verweis auf eine frühere Entscheidung am 30.1.2007 ab.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da in den Verfahren wegen der ihnen auferlegten Zuschläge kein »Gericht« im Sinne dieser Bestimmung entschieden habe und keine mündliche Verhandlung erfolgt sei. Sie beschweren sich weiters nach Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) darüber, dass die Zuschläge nicht verhältnismäßig zum verfolgten Ziel gewesen seien.
Der GH beschließt, die Beschwerden zu verbinden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK wegen keiner Entscheidung durch ein Tribunal
Die Regierung brachte den Einwand, dass Art. 6 EMRK auf die vorliegenden Verfahren gar nicht anzuwenden war, da es hier weder um die Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen noch um ein strafrechtliches Verfahren gegangen sei. Die Auferlegung eines Zuschlages wie hier in Frage stehend sei gewöhnliches Verwaltungsrecht.
Der GH beobachtet, dass die Bf. von der AMA zur Zahlung von Zuschlägen verpflichtet wurden, da sie es verabsäumt hatten, Marktbeiträge zu zahlen. Dabei handelt es sich um steuerähnliche Abgaben.
Im Fall Steininger/A hat der GH mit Verweis auf den Fall Jussila/FIN festgestellt, dass Art. 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf Verfahren anzuwenden war, welche die Auferlegung von Zuschlägen für Abgaben wie die von der AMA erhobenen Beiträge betreffen. Der GH sieht keinen Grund, warum er in den vorliegenden Fällen zu einem anderen Schluss kommen sollte. Art. 6 EMRK ist daher unter seinem strafrechtlichen Aspekt anzuwenden. Die Einrede der Regierung ist zurückzuweisen.
Die Regierung verwies weiters darauf, dass die Bf. den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft hätten, da sie während der nationalen Verfahren nicht darauf hingewiesen hätten, dass in diesen kein Gericht im Sinne des Art. 6 EMRK entschieden habe.
Die Bf. brachten in ihren Beschwerden vor dem VwGH vor, dass die strafrechtlichen Anklagen gegen sie nicht von einem unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht entschieden worden seien und stützten sich diesbezüglich auf Art. 6 EMRK. Auch diese Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.
Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Im vorliegenden Fall verpflichtete die AMA die Bf., Zuschläge zu bezahlen, und der Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft entschied über ihre Berufung gegen die Zahlungsbescheide. Beides sind keine »Tribunale« im Sinne des Art. 6 EMRK.
Im Fall Steininger/A befand der GH überdies, dass weder der VwGH noch der VfGH als »Gerichte« im Sinne des Art. 6 EMRK anzusehen seien. Zum VfGH stellte er fest, dass dieser für die Zwecke des gegenständlichen – strafrechtlichen – Verfahrens keinen »Spruchkörper mit voller Kognitionsbefugnis« darstelle, auch wenn er bereits in zivilrechtlichen Verfahren als solcher angesehen worden sei. Hinsichtlich des VwGH kam der GH zum Schluss, dass dieser bezüglich strafrechtlicher Verfahren aufgrund seiner bloß nachprüfenden Kontrolle ebenfalls kein »Tribunal« im Sinne von Art. 6 EMRK sei.
Diese Feststellungen finden in Anbetracht der Ähnlichkeiten des vorliegenden Falls auch in diesem Anwendung. Die Bf. hatten daher in den gegenständlichen Verfahren keinen Zugang zu einem »Tribunal« im Sinne des Art. 6 EMRK. Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK hinsichtlich des Fehlens einer Verhandlung
Diese Beschwerde steht mit der oben untersuchten in Zusammenhang und muss daher gleichfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Angesichts der obigen Ausführungen, wonach die Verfahren wegen der Zuschläge nicht vor einem Gericht im Sinne des Art. 6 EMRK geführt wurden, erachtet es der GH nicht für notwendig zu untersuchen, ob auch eine Verletzung von Art. 6 EMRK vorlag, weil es an einer öffentlichen Verhandlung fehlte, da nur eine Verhandlung vor einem Körper, der als »Tribunal« im Sinne des Art. 6 EMRK anzusehen ist, sinnvoll gewesen wäre (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK und den übrigen Beschwerden
Der GH wiederholt, dass hinsichtlich des Rechts der Staaten, Gesetze anzunehmen, von denen sie glauben, dass sie notwendig sind, um im Sinne von Art. 1 1. Prot. EMRK »die Zahlung von Steuern sicherzustellen«, dem Gesetzgeber ein weiter Ermessensspielraum gewährt werden muss.
Im vorliegenden Fall hatten die Erst-, Zweit- und DrittBf. jeweils Zuschläge in der Höhe von 10 % der ausstehenden Beiträge zu bezahlen, die ViertBf. 60 %. Unter Berücksichtigung des weiten Ermessensspielraums der Staaten und der auf dem Spiel stehenden Beträge kann der GH nicht zum Schluss kommen, dass diese Beträge eine individuelle und exzessive Last für die Bf. darstellten. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Für die weiteren Rügen der Bf. nach Art. 6 Abs. 3 lit. a, Art. 7, Art. 13 EMRK und Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK gibt es keinen Anschein einer Verletzung eines Konventionsrechts. Dieser Teil der Beschwerde ist daher ebenso offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 3.679,44 an die ErstBf., € 3.402,32 an die ZweitBf., € 3.263,76 an die DrittBf. und € 5.504,20 an die ViertBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Anmerkung
In der Zulässigkeitsentscheidung Tauernfleisch Vertriebs GmbH u.a. gg. Österreich und 21 weiteren Beschwerden vom 12.3.2013 erklärte der GH ähnlich gelagerte Beschwerden hingegen auch hinsichtlich Art. 6 EMRK für unzulässig, weil die Bf. den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft hatten.
Vom GH zitierte Judikatur:
Jussila/FIN v. 23.11.2006 (GK) = NL 2006, 303
Steininger/A v. 17.4.2012 = NL 2012, 126
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.4.2013, Bsw. 21565/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 117) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_2/Kloiber.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.