Bsw33234/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Valiuliene gg. Litauen, Urteil vom 26.3.2013, Bsw. 33234/07.
Spruch
Art. 3 EMRK - Keine gerichtliche Verfolgung häuslicher Gewalt.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK (6:1 Stimmen).
Keine Notwendigkeit, die Beschwerde auch unter Art. 8 EMRK zu untersuchen (6:1 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. behauptet, zwischen 3.1. und 4.2.2001 insgesamt fünf Mal von ihrem Lebensgefährten J.H.L. ins Gesicht geschlagen, getreten, gewürgt und an den Haaren gezogen worden zu sein. Die Verletzungen wurden in forensischen Untersuchungen dokumentiert und jeweils als gering eingestuft.
Am 14.2.2001 erhob die Bf. Privatklage beim Bezirksgericht und brachte vor, dass die wiederholten Gewalttaten den Tatbestand der leichten Körperverletzung nach Art. 116 Abs. 3 des zu diesem Zeitpunkt geltenden Strafgesetzbuches erfüllten. Sie beantragte die Einleitung eines Strafverfahrens gegen J.H.L. sowie eine Anklage und Bestrafung iSd. genannten Bestimmung. Sie legte darüber hinaus medizinische Gutachten über ihre Verletzungen und eine Liste von Zeugen vor.
Am 21.1.2002 leitete ein Richter des Bezirksgerichts die Beschwerde mit der Anordnung an den Staatsanwalt weiter, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, damit die Untersuchung des Falles nicht verjähre. Als Begründung dieses Antrages gab der Richter an, dass J.H.L. wiederholt nicht vor Gericht erschienen sei. Am 1.2.2002 wurde dieser wegen des Verdachts der leichten Körperverletzung in Untersuchungshaft genommen und im Laufe des Jahres angeklagt. Die Ermittlungen wurden mehrere Male eingestellt und wieder aufgenommen. Im Dezember 2002 und Januar 2003 erklärte der polizeiliche Ermittler, dass keine ausreichenden Beweise für die Taten vorlägen. Die erste dieser beiden Entscheidungen wurde von einem Staatsanwalt zunächst aufgehoben, die zweite im Februar 2003 bestätigt. Im Zuge der Berufungen der Bf. wurde das Verfahren am 9.2.2004 durch Entscheidung eines höherrangigen Staatsanwalts wieder aufgenommen, da die Ermittlungen nicht sorgfältig genug durchgeführt worden seien.
Am 10.6.2005 stellte der Staatsanwalt zwar fest, dass die Ermittlungen die Begehung der Tat durch J.H.L. ergeben hätten, entschied aber dennoch, dass das Verfahren aufgrund einer Gesetzesänderung im Jahre 2003, wonach eine leichte Körperverletzung vom Opfer mit einer Privatklage verfolgt werden müsse, nicht weiterzuführen sei. Darüber hinaus bestehe an dem Fall kein öffentliches Interesse. Die dagegen eingelegten Rechtsmittel der Bf. blieben erfolglos.
Am 28.9.2005 erhob die Bf. wegen der Gewalttaten Privatklage gegen J.H.L. Aufgrund der forensischen Gutachten und der Zeugenaussage der Bf. kam das Gericht zu dem Schluss, dass die Taten dem Tatbestand des Art. 140 Abs. 1 des neuen Strafgesetzbuches entsprächen, für den eine Verjährung von einem Jahr gelte. Am 15.12.2005 wurde die Beschwerde der Bf. als verjährt zurückgewiesen. Am 4.1.2006 interpretierte das Landesgericht die Verjährungsfrist – diese würde fünf Jahre betragen – neu und gab der Berufung der Bf. statt. Das Bezirksgericht wies die Beschwerde am 21.2.2006 erneut als verjährt zurück, da die letzten Verletzungen durch J.H.L. vom 4.2.2001 länger als fünf Jahre zurücklägen. Diese Entscheidung wurde vom Landesgericht am 8.2.2007 bestätigt.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK
Im Hinblick auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) rügt die Bf., dass es die nationalen Behörden versäumt hätten, die Akte häuslicher Gewalt gegen sie zu untersuchen, und dass die Strafverfahren unangemessen lang gewesen seien. Der GH prüft die genannten Beschwerdepunkte unter Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK.
Zur Zulässigkeit
Der GH widmet sich zunächst dem Argument der Regierung, dass die Beschwerdepunkte der Bf. wegen des geringen Ausmaßes ihrer Verletzungen nicht unter Art. 3 EMRK fallen. Er wiederholt, dass eine unmenschliche Behandlung einen gewissen Schweregrad aufweisen muss, um vom Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK erfasst zu sein. Im vorliegenden Fall nimmt der GH zunächst die physische Gewalt, die die Bf. erlitten hat, zur Kenntnis. Laut der forensischen Gutachten wurden bei ihr Quetschungen an Hüfte und Oberschenkel, Schürfwunden an Wange und Arm, Quetschungen im Gesichtsbereich und am Schienbein sowie eine Schürfwunde am Schienbein festgestellt. Die Ansicht der Regierung, dass einige der Verletzungen nicht ausreichend dokumentiert seien, teilt der GH nicht. Die Sachverständigen untersuchten die Bf. zwischen einem und drei Tagen nach dem jeweiligen Vorfall. Darüber hinaus wurden diese Verletzungen in der Entscheidung zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens am 10.6.2005 als »bewiesen« angesehen. Dieser Ansicht schien auch das Strafgericht gewesen zu sein. Die Entscheidung des Ermittlers vom 21.1.2003 wurde vom Staatsanwalt als zu oberflächlich aufgehoben, woraufhin die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden. Aus diesem Grund kann der GH zu keinem anderen Schluss kommen, als dass die Bf. die genannten Verletzungen erlitten hat.
Der GH beobachtet weiters, dass sich die Gewalttaten innerhalb eines Monats, nämlich zwischen 3.1. und 4.2.2001, ereigneten. Die Bf. brachte jedoch vor, dass sich die Misshandlung auch nach ihrer Beschwerdeerhebung am 14.1.2001 fortsetzte. Über die Beweiskraft einer E-Mail, in der die Bf. angeblich am 12.6.2001 durch den Sohn des J.H.L. massiv bedroht wurde, kann der GH nicht entscheiden, da diese E-Mails den litauischen Behörden niemals vorgelegt wurden. Dass die Taten zwischen Januar und Februar 2001 stattfanden, brachte die Bf. in ihrer Privatklage am 28.9.2005 vor. Sie erstreckten sich somit über eine gewisse Zeitspanne. Der GH wird die Taten daher als eine andauernde Situation behandeln, was einen erschwerenden Faktor darstellt.
Schließlich müssen auch die psychologischen Aspekte der Misshandlung berücksichtigt werden. Die Bf. hat glaubhaft gemacht, dass sie über einen gewissen Zeitraum Bedrohungen ihrer körperlichen Integrität ausgesetzt war und es tatsächlich zu fünf Fällen von Belästigungen oder Übergriffen kam. Der GH erkennt an, dass die psychologischen Auswirkungen eine bedeutende Rolle bei häuslicher Gewalt spielen. Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist die Ansicht der Bf. nicht vollständig nachvollziehbar, dass sie als Frau automatisch in die Kategorie besonders verletzlicher Personen falle. Der GH stellt dennoch fest, dass derartige Straftaten nach dem Gesetz über den Schutz gegen häusliche Gewalt von öffentlichem Interesse sind. Im Hinblick auf diese Feststellungen ist er der Ansicht, dass die Misshandlung der Bf. im Zusammenhang mit Gefühlen der Angst und Hilflosigkeit einen ausreichenden Schweregrad iSd. Art. 3 EMRK erreicht und daher die positiven Verpflichtungen der Regierung auf den Plan ruft.
Die Regierung bringt vor, dass der Bf. im Hinblick auf ihre Beschwerde über die Straflosigkeit häuslicher Gewalt der Zivilrechtsweg offen stand. Der GH nimmt zur Kenntnis, dass die Bf. vollständigen Gebrauch von den strafrechtlichen Rechtsmitteln machte. Im Mittelpunkt des vorliegenden Falles steht die Frage der Straflosigkeit von Taten häuslicher Gewalt, wobei es sich um einen Sachverhalt handelt, der an die Strafgerichte zu richten ist. Für den Fall, dass einer Person mehrere nationale Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, ist diese berechtigt, denjenigen auszuwählen, der sich auf ihre zentrale Beschwerde richtet. Wenn ein Rechtsbehelf ergriffen wurde, ist somit kein weiterer mit demselben Gegenstand erforderlich.
Da die Beschwerdepunkte nach Art. 3 EMRK nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig sind, müssen sie für zulässig erklärt werden (einstimmig). Da die Beschwerde nach Art. 8 EMRK auf denselben Tatsachen beruht, ist auch diese für zulässig zu erklären (einstimmig).
In der Sache
Wenn der GH festgestellt hat, dass Gewalt, von der Personen betroffen sind, einen Schweregrad erreicht, der den Schutz iSd. Art. 3 EMRK erfordert, besteht die gefestigte Rechtsprechung, dass diese Bestimmung die Einführung ausreichender strafrechtlicher Schutzmechanismen verlangt. Die Reichweite der positiven Verpflichtungen eines Staates kann jedoch variieren, je nachdem ob die mit Art. 3 EMRK unvereinbare Behandlung durch Staatsbedienstete oder durch Privatpersonen geschieht. Der GH beobachtet zunächst, dass bezüglich der Taten der fraglichen Privatpersonen keine direkte Verantwortlichkeit bei Litauen liegt. Aber auch bei einer fehlenden direkten Verantwortlichkeit für Handlungen von Privatpersonen iSd. Art. 3 EMRK kann sich eine Verantwortlichkeit eines Staates durch die Verpflichtung gemäß Art. 1 EMRK ergeben. Die Verpflichtung der Vertragsparteien nach Art. 1 EMRK, jeder Person unter ihrer Hoheitsgewalt die Rechte und Freiheiten der Konvention zu garantieren, erfordert in Verbindung mit Art. 3 EMRK, dass Staaten Maßnahmen ergreifen um sicherzustellen, dass Personen nicht von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe betroffen sind, einschließlich der Misshandlung durch Privatpersonen.
Darüber hinaus verlangt Art. 3 EMRK, dass Staaten, um von der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Integrität abzuschrecken, effektive strafrechtliche Bestimmungen zur Prävention, Unterdrückung und Bestrafung derartiger Taten erlassen. Dieses Erfordernis bezieht sich auch auf Misshandlungen durch Privatpersonen. Andererseits kann Art. 1 EMRK nicht derartig interpretiert werden, dass Staaten durch ihr Rechtssystem garantieren müssen, dass es zu keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zwischen Personen kommt, oder dass Strafverfahren in einem solchen Fall notwendigerweise zu einer bestimmten Sanktion führen. Um eine Verantwortlichkeit eines Staates feststellen zu können, muss nach Ansicht des GH gezeigt werden, dass das nationale Rechtssystem und insbesondere das im Einzelfall anwendbare Strafrecht keinen tatsächlichen und effektiven Schutz der Rechte iSd. Art. 3 EMRK bieten.
Es ist nicht Aufgabe des GH zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft oder die nationalen Gerichte das nationale Strafrecht richtig angewandt haben. Im vorliegenden Fall geht es nicht um die individuelle strafrechtliche Schuld, sondern um die staatliche Verantwortlichkeit iSd. Konvention. In diesem Zusammenhang besteht die Verpflichtung des Staates zur gerichtlichen Verfolgung von Tätern von nicht mit Art. 3 EMRK vereinbaren Handlungen hauptsächlich in der Garantie, dass Misshandlungen nicht von den zuständigen Behörden ignoriert werden, sowie in der Bereitstellung eines effektiven Schutzes gegen solche Handlungen.
Im Bezug auf die strafrechtlichen Schutzmechanismen des litauischen Rechtssystems im Zusammenhang mit den staatlichen Verpflichtungen iSd. Art. 3 EMRK ist festzustellen, dass Art. 116 des alten und Art. 140 Abs. 1 des neuen Strafgesetzbuches eine leichte Körperverletzung als strafrechtliches Delikt definieren. Weiters waren bei derartigen Straftaten bis 1.5.2003 Ermittlungen durch den Staatsanwalt möglich. Ab diesem Datum sind Straftaten, die eine leichte Körperverletzung hervorrufen, nur auf die Privatklage des Opfers hin zu verfolgen. Die Staatsanwaltschaft kann Ermittlungen aufnehmen, wenn die Straftat im öffentlichen Interesse liegt oder das Opfer nicht in der Lage ist, seine Interessen zu vertreten. Der GH ist daher davon überzeugt, dass das litauische Recht zum für den vorliegenden Fall relevanten Zeitpunkt einen hinreichenden Rechtsrahmen bot, um die dem J.H.L. vorgeworfenen Straftaten zu verfolgen.
Der GH muss nun prüfen, ob die angefochtenen Regelungen und Maßnahmen, insbesondere die Einhaltung der entsprechenden prozessrechtlichen Bestimmungen durch die nationalen Behörden, sowie die Art der Durchsetzung strafrechtlicher Schutzmechanismen im vorliegenden Fall mangelhaft waren, so dass eine Verletzung der positiven Verpflichtungen iSd. Art. 3 EMRK des verantwortlichen Staates vorliegt. Die Bf. hat sich am 14.2.2001 an das Bezirksgericht gewandt, um Privatklage zu erheben. Sie stützte sich dabei auf forensische Gutachten, die kurz nach den Vorfällen angefertigt worden waren und diese im Detail beschrieben, und nannte fünf Zeugen. Sie brachte vor, dass die Gewalttaten Straftaten iSd. Art. 116 des alten Strafgesetzbuches, nämlich eine leichte Körperverletzung, darstellten und legte die relevanten medizinischen Dokumente vor. Der GH ist somit der Ansicht, dass die litauischen Behörden ausreichende Informationen für den Verdacht der Begehung einer Straftat erhalten haben. Ab diesem Zeitpunkt waren die Behörden dazu verpflichtet, der strafrechtlichen Beschwerde der Bf. entsprechend zu handeln.
Wie die Maßnahme vom 21.1.2002 zeigt, unternahm das Bezirksgericht unverzüglich Schritte, um J.H.L. gerichtlich zu verfolgen. Da dieser jedoch mehrere Male nicht zur Verhandlung erschien, entschied das Gericht, die Sache dem Staatsanwalt zu übergeben. Nach Ansicht des GH haben die litauischen Behörden bis zu diesem Zeitpunkt ohne unangemessene Verzögerung gehandelt. Nach der Übertragung der Sache an den Staatsanwalt wurden die Ermittlungen zweimal aus Mangel an Beweisen eingestellt. Beide Male zeigte die Bf. großes Interesse an ihrem Fall und unternahm ernsthafte Versuche zur gerichtlichen Verfolgung von J.H.L. Auf die wiederholt eingelegten Rechtsbehelfe der Bf. hin hoben die Staatsanwälte die Ermittlungsentscheidungen mangels genügender Sorgfalt auf. Der GH ist der Meinung, dass es sich dabei um gravierende Fehler auf Seite des Staates handelte.
Obwohl sich die litauische Strafprozessordnung im Mai 2003 geändert hatte, entschied der Staatsanwalt erst im Juni 2005, somit zwei Jahre nach der Gesetzesreform, den Fall wieder der Bf. für eine Privatklage zu übertragen. Dies brachte sie in ihre Ausgangssituation zurück, in der sie sich vier Jahre zuvor befunden hatte, als sie sich erstmalig an das Bezirksgericht gewandt hatte. Die Entscheidung des Staatsanwalts wurde trotz der Beschwerde der Bf., dass bei einer Verjährung das Risiko der Straffreiheit des J.H.L. bestehe, von einem höherrangigen Staatsanwalt und danach von einem Gericht bestätigt. Der GH befindet es weiters als erwähnenswert, dass gemäß Art. 409 Abs. 1 der Strafprozessordnung nach der Reform im Mai 2003 eine leichte Körperverletzung selbst dann staatsanwaltlich verfolgt werden kann, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt.
Nach Abschluss des durch den Staatsanwalt eingeleiteten Strafverfahrens ergab sich der Hergang der Ereignisse so, wie es die Bf. vorgebracht hatte. Obwohl sie die Privatklage unverzüglich an das Bezirksgericht richtete, wurde diese als verjährt abgewiesen. Schließlich wurde diese Entscheidung vom Landesgericht bestätigt, was die Bf. in einer rechtlichen Grauzone ließ. Somit waren alle Versuche der Bf. zur Verfolgung ihres Angreifers erfolglos.
Bezüglich der Frage der staatlichen Verantwortlichkeit gemäß Art. 3 EMRK wiederholt der GH, dass es – innerhalb der Grenzen der Konvention – grundsätzlich im Ermessensspielraum der nationalen Behörden liegt, welche Maßnahmen sie ergreifen, um die Vereinbarkeit mit Art. 3 EMRK im Hinblick auf das Verhältnis von Privatpersonen untereinander zu gewährleisten, vorausgesetzt dem Opfer stehen strafrechtliche Schutzmechanismen zur Verfügung. Daher ist es nicht die Aufgabe des GH Überlegungen dazu anzustellen, ob die Beschwerde der Bf. vom Staatsanwalt oder durch Privatklage hätte verfolgt werden sollen. In jedem Fall wurden die Umstände des Falls nie durch ein zuständiges Gericht geprüft. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass es eines der Ziele strafrechtlicher Sanktionen ist, den Täter zu hindern und davon abzuschrecken, weiteren Schaden zu verursachen. Dieses Ziel kann jedoch schwer erreicht werden, wenn der Sachverhalt nicht von einem zuständigen Strafgericht untersucht wird. Der GH kann daher nicht feststellen, dass der Zweck eines effektiven Schutzes gegen Misshandlungen erreicht wird, wenn die Strafverfahren wegen Verjährung nicht fortgeführt werden und dies – wie gezeigt – auf Fehlern der staatlichen Behörden beruht.
Er ist daher der Ansicht, dass die Vorgehensweise im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit der Einführung der strafrechtlichen Schutzmechanismen keinen angemessenen Schutz der Bf. gegen Gewalttaten bot und eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegt (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Jociene). Im Hinblick auf diese Feststellungen befindet es der GH nicht als notwendig, die Beschwerde gemäß Art. 8 EMRK gesondert zu prüfen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Jociene).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
A./GB v. 23.9.1998 = NL 1998, 191 = ÖJZ 1999, 617
M. C./BG v. 4.12.2003 = NL 2003, 316
Beganovic/HR v. 25.6.2009
Milanovic/SRB v. 14.12.2010
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.3.2013, Bsw. 33234/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 107) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/13_2/Valiuliene.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.