JudikaturAUSL EGMR

Bsw67724/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Oktober 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache C. N. und V. gg. Frankreich, Urteil vom 11.10.2012, Bsw. 67724/09.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK, Art. 13 EMRK - Leibeigenschaft in Diplomatenhaushalt.

Zulässigkeit der Beschwerde mit Ausnahme des Teils unter Art. 3 EMRK hinsichtlich der ZweitBf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ErstBf. im Hinblick auf die positiven Verpflichtungen des Staates, einen gesetzlichen und administrativen Rahmen einzurichten, der einen wirksamen Kampf gegen Leibeigenschaft und Zwangsarbeit ermöglicht (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ErstBf. im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Verpflichtungen des Staats, eine wirksame Untersuchung im Bezug auf die Leibeigenschaft und die Zwangsarbeit durchzuführen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ZweittBf. (einstimmig).

Keine Notwendigkeit, die Beschwerde auch unter Art. 13 EMRK zu untersuchen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,- pauschal für alle Schäden an die ErstBf. (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um zwei Schwestern, die in Burundi geboren wurden. Aufgrund des dortigen Bürgerkriegs kamen die ErstBf. im Jahr 1994 im Alter von sechzehn Jahren und die ZweitBf. 1995 im Alter von zehn Jahren, beide über Vermittlung ihrer Tante M., nach Frankreich. M. wohnte mit ihrem Mann, einem Diplomaten in Diensten der UNESCO, und sieben Kindern, wovon eines behindert war, in der Nähe von Paris. Dort wurden auch die beiden Schwestern aufgenommen. Die ZweitBf. wurde im Gegensatz zur ErstBf. im Mai 1995 eingeschult. Letztere wurde im Haushalt der Familie eingesetzt.

Am 4.1.1999 zeigte der Verein »Enfance et Partage« bei der Staatsanwaltschaft Nanterre an, dass die beiden Bf. unter Bedingungen untergebracht waren, die gegen die Menschenwürde verstießen. Sie lebten im nicht beheizten und heruntergekommenen Keller der Familie M. Die ErstBf. würde als »Mädchen für alles« eingesetzt und müsste sich insbesondere auch um den behinderten Sohn der Familie kümmern; die ZweitBf. hätte sie bei diesen Tätigkeiten zu unterstützen. Die beiden Bf. behaupteten, keine Bezahlung dafür zu bekommen und auch keinen Ruhetag zu haben. M. verweigerte der ZweitBf. weiters den Kauf eines Fahrausweises für ihre Fahrt zur Schule, so dass diese entweder 45 Minuten zu Fuß in die Schule gehen oder schwarzfahren musste. M. kümmerte sich auch nicht um die für die ZweitBf. dringend notwendige Zahnpflege. Die ErstBf. behauptet weiters, mehrmals ins Krankenhaus eingeliefert worden zu sein, weil sie von einem der Söhne von M. geschlagen worden wäre. Es sei auch zu Misshandlungen und körperlichen Angriffen von Seiten von M. gekommen, die ihnen überdies regelmäßig drohte, sie zur Strafe wieder nach Burundi zu schicken.

Der Oberstaatsanwalt von Nanterre leitete am 29.1.1999 eine Voruntersuchung ein. Am 16.2.1999 wurde gegen M. und ihren Mann eine gerichtliche Untersuchung wegen Verletzung der Menschenwürde nach den Art. 225-14 und 225-15 des Strafgesetzbuches und gegen M. wegen Körperverletzung eingeleitet. In diesem Rahmen betonten die Bf. die maßgebliche Rolle von M. bei den Geschehnissen, während deren Mann eher zu vermitteln versuchen würde.

Am 5.2.2001 verwies der Untersuchungsrichter die Sache per Beschluss an das Strafgericht Nanterre. Nach mehreren Rechtsgängen wegen Aufhebung der Immunität des Ehepaars M. entschied das Gericht am 17.9.2007, dass das Ehepaar der ihnen angelasteten Handlungen schuldig sei. M. und ihr Mann beriefen dagegen.

Am 29.6.2009 hob das Berufungsgericht das Urteil, das in Abweichung vom ursprünglichen strafrechtlichen Vorwurf wegen des Delikts der Unterwerfung von mehreren verwundbaren Personen, darunter mindestens einer minderjährigen, unter unwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen ergangen war, auf und wies die Schadenersatzklagen der Bf. wegen des diesbezüglich erlittenen Schadens ab. Es bestätigte lediglich die Schuld von M. wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung hinsichtlich der ZweitBf. Diesbezüglich wurde M. zu einer Geldstrafe von € 1.500,– und zur Zahlung des symbolischen Betrags von einem Euro an immateriellem Schadenersatz verurteilt.

Die sowohl von den beiden Bf. als auch von M. gegen das Urteil eingelegten Revisionsanträge wurden vom Cour de cassation am 23.6.2010 zurückgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit) wegen Verletzung der positiven Verpflichtungen Frankreichs, da sie vom Ehepaar M. in Leibeigenschaft gehalten und Zwangs- bzw. Pflichtarbeit unterworfen worden seien. Sie rügen außerdem eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz). Die ZweitBf. beschwert sich weiters über eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die ZweitBf. kann nicht mehr behaupten, Opfer einer Verletzung von Art. 3 EMRK zu sein, da M. von den innerstaatlichen Gerichten bereits rechtskräftig wegen schwerer Körperverletzung verurteilt und der ZweitBf. auch der von ihr beanspruchte Schadenersatz zugesprochen wurde. Dieser Teil der Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zum Vorliegen von »Zwangs- oder Pflichtarbeit«

Der GH erinnert daran, dass der Staat im Rahmen seiner positiven Verpflichtungen aus Art. 4 EMRK auch für seine Versäumnisse betreffend den wirksamen Schutz der Opfer von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangs- oder Pflichtarbeit verantwortlich gemacht werden kann.

In Van der Mussele/B und Siliadin/F hat der GH unter besonderer Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 1 der ILO-Konvention von 1930 über die Zwangsarbeit erwogen, dass »Zwangs- oder Pflichtarbeit iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK eine Arbeit bezeichnet, die unter der Androhung irgendeiner Strafe verlangt wurde, dem Willen des Betroffenen zuwiderläuft und für die sich dieser nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.«

Im vorliegenden Fall behaupten die Bf., in Form der Hausarbeit im Haus von M. eine Arbeit durchgeführt zu haben, der sie nicht zugestimmt hatten. Der GH ist allerdings nicht überzeugt davon, dass sich beide Bf. in einer ähnlichen Situation befanden, was den Umfang der durchgeführten Arbeit anbelangt. Die ErstBf. war mit der gesamten Hausarbeit belastet und musste sich um den behinderten Sohn von M. kümmern. Sie arbeitete jeden Tag ohne Ruhetag oder Bezahlung, stand früh auf, ging spät schlafen (und musste manchmal sogar in der Nacht aufstehen, um sich um den behinderten Sohn von M. zu kümmern) und hatte keine Freizeit. Die ZweitBf. wurde dagegen eingeschult und besaß Zeit für ihre Hausaufgaben, wenn sie aus der Schule zurückkam. Danach half sie der ErstBf. bei der Hausarbeit.

Nicht jede Arbeit, die von einem Einzelnen unter Androhung einer »Strafe« verlangt wird, stellt notwendigerweise eine »Zwangs- oder Pflichtarbeit« dar, die von Art. 4 Abs. 2 EMRK verboten ist. Es ist nämlich zweckmäßig, insbesondere Natur und Umfang der fraglichen Aktivität zu berücksichtigen. Diese Umstände erlauben es, eine »Zwangsarbeit« von dem zu unterscheiden, was lediglich Arbeiten gleichkommt, die vernünftigerweise unter dem Titel der familiären Unterstützung oder des Zusammenlebens verlangt werden können.

Im vorliegenden Fall wurde die ErstBf. dazu gezwungen, in einem solchen Ausmaß Arbeitsleistungen zu erbringen, dass das Ehepaar M. ohne ihre Hilfe auf eine professionelle und daher zu bezahlende Hausangestellte zurückgreifen hätte müssen. Die ZweitBf. hat allerdings nicht auf ausreichende Weise dargetan, dass sie zum Haushaltsunterhalt des Ehepaars über Gebühr beitrug. Auch wenn die ZweitBf. von ihrer Tante misshandelt wurde, so wurde nicht festgestellt, dass dies im Zusammenhang mit der Ausbeutung durch Arbeit stand. Die Misshandlungen der ZweitBf. unterfallen daher nicht dem Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK.

Nach dem Vorgesagten erfüllt allein die ErstBf. die Voraussetzungen der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK. Es bleibt die Frage, ob diese Arbeit »unter Androhung irgendeiner Strafe« ausgeführt wurde.

Der GH betont, dass »Strafe« im Gesamtbericht »Die Kosten des Zwangs«, der von der Internationalen Arbeitskonferenz im Jahr 1999 angenommen wurde, weit definiert wird. Wenn daher »Strafe« auch bis zu Gewalt oder physischem Zwang gehen kann, kann sie auch eine subtilere, psychische Form annehmen wie die Anzeige von illegal Beschäftigten bei der Polizei oder den Einwanderungsbehörden.

Im vorliegenden Fall drohte M. regelmäßig damit, die Bf. nach Burundi, dem Land, das für die ErstBf. für Tod und Verlassen ihrer jüngeren Schwestern stand, zurückzuschicken. Der GH stellt auch fest, dass die ErstBf. die von ihr geforderte Arbeit unter der Androhung des Zurückschickens in ihr Heimatland ausführte. Nach Ansicht des GH wurde ein Zurückschicken nach Burundi von der ErstBf. daher als »Strafe« angesehen und die Androhung eines solchen Zurückschickens als die »Androhung« der Vollstreckung dieser »Strafe«. Der GH schließt daraus, dass die ErstBf. vom Ehepaar M. einer »Zwangs- oder Pflichtarbeit« iSd. Art. 4 Abs. 2 EMRK unterworfen wurde. Die ZweitBf. war dagegen in einer anderen Situation, die nicht der genannten Bestimmung unterfiel.

Zum Vorliegen von »Leibeigenschaft«

Die Leibeigenschaft bildet eine besondere Qualifizierung der Zwangs- oder Pflichtarbeit oder anders gesagt eine »erschwerte Form« derselben. Im vorliegenden Fall liegt das grundlegende Element, das die Leibeigenschaft von der Zwangs- oder Pflichtarbeit unterscheidet, im Gefühl der Opfer, dass ihr Zustand unabänderlich ist und sich ihre Situation nicht weiterentwickeln kann. Diesbezüglich reicht es, dass dieses Gefühl auf objektiven Elementen beruht, die von den Tätern hervorgerufen oder aufrechterhalten werden.

Die ErstBf. war im gegenständlichen Fall der Überzeugung, dass ihre administrative Stellung auf französischem Territorium von ihrer Unterbringung beim Ehepaar M. abhing und sie sich aus ihrer Bevormundung nicht befreien konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich ohne Aufenthaltsgenehmigung wiederzufinden. Außerdem wurde die ErstBf. nicht eingeschult und hatte auch keine berufliche Ausbildung, die es ihr erlaubt hätte, darauf zu hoffen, eines Tages gegen Bezahlung und außerhalb des Hauses des Ehepaars M. zu arbeiten. Da sie keinen Ruhetag und auch keine Freizeit hatte, hatte sie keine Möglichkeit, Kontakte nach außen zu knüpfen, die es ihr erlaubt hätten, Hilfe zu erbitten. Die ErstBf. hatte daher das Gefühl, dass ihr Zustand, nämlich der Umstand, im Haus des Ehepaars M. eine Zwangs- oder Pflichtarbeit durchzuführen, sich nicht weiterentwickeln konnte und dass dieser Zustand unabänderlich war, umso mehr, als er bereits vier Jahre dauerte. Die ErstBf. wurde daher vom Ehepaar M. in Leibeigenschaft gehalten.

Der GH trifft nicht die gleiche Einschätzung, was die ZweitBf. betrifft. Sie wurde eingeschult und hatte so die Möglichkeit, sich außerhalb des Hauses des Ehepaars M. zu entwickeln. Sie erwarb Basiskenntnisse des Französischen und war weniger isoliert als ihre Schwester. So konnte sie ihre Lage auch der Schulkrankenschwester melden. Sie besaß überdies Zeit, ihre Hausaufgaben zu erledigen, wenn sie heimkam. Die ZweitBf. wurde daher vom Ehepaar M. nicht in Leibeigenschaft gehalten.

Insgesamt unterfiel die Situation der ErstBf. daher als Leibeigenschaft bzw. Zwangsarbeit Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK. Da die Situation der ZweitBf. dagegen nicht Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK unterfiel, kann der Staat diesbezüglich nicht wegen einer Verletzung dieser Bestimmungen zur Verantwortung gezogen werden. Keine Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ZweitBf. (einstimmig).

Zu den positiven Verpflichtungen des Staates

Hinsichtlich der positiven Verpflichtung des Staates, jede Handlung, die auf eine Verletzung von Art. 4 EMRK gerichtet ist, zu kriminalisieren und wirksam zu ahnden, ist es nötig, dass die Staaten einen gesetzlichen und administrativen Rahmen installieren, der die Zwangs- oder Pflichtarbeit, die Leibeigenschaft und Sklaverei untersagt und ahndet.

Im Urteil Siliadin/F hatte der GH festgestellt, dass die damals geltenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches der minderjährigen Bf. keinen konkreten und wirksamen Schutz bezüglich der gegen sie gerichteten Handlungen gewährten, da diese Bestimmungen von einem Gericht zum anderen einer weit auseinanderfallenden Auslegung unterliegen konnten.

Für den vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass die Rechtslage die gleiche ist wie jene, die im Fall Siliadin/F maßgeblich war. Außerdem hatte wie dort das Fehlen einer Revision des Generalstaatsanwalts gegen das zum Freispruch des Ehepaars M. bezüglich des Delikts nach Art. 225-14 des Strafgesetzbuches führende Berufungsurteil zur Folge, dass der Cour de cassation lediglich im zivilrechtlichen Teil des Falls angerufen werden konnte. Der GH sieht keinen Grund, warum er im vorliegenden Fall vom Schluss abweichen soll, zu dem er in Siliadin/F gelangt ist. Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ErstBf. wegen Missachtung der positiven Verpflichtung des Staates, einen gesetzlichen und administrativen Rahmen einzurichten, der einen wirksamen Kampf gegen Leibeigenschaft und Zwangsarbeit ermöglicht (einstimmig).

Hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Verpflichtung des Staates, eine wirksame Untersuchung im Bezug auf die Leibeigenschaft und die Zwangsarbeit durchzuführen sieht der GH keinen Beweis für einen schlechten Willen der Behörden, die Verantwortlichen zu verfolgen und zu identifizieren. Es erfolgte daher diesbezüglich keine Verletzung von Art. 4 EMRK hinsichtlich der ErstBf. (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Da die verfahrensrechtlichen Pflichten nach Art. 4 EMRK lex specialis zu Art. 13 EMRK sind und im vorliegenden Fall nicht verletzt wurden, erachtet es der GH nicht für notwendig, die Beschwerde gesondert hinsichtlich einer Verletzung von Letzterem zu untersuchen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 30.000,– pauschal für alle Schäden an die ErstBf. (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Van der Mussele/B v. 23.11.1983 = EuGRZ 1985, 477

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Rantsev/CYP und RUS v. 7.1.2010 = NL 2010, 20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.10.2012, Bsw. 67724/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 332) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_5/C.N. und V..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise