JudikaturAUSL EGMR

Bsw27540/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
25. September 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Jehovas Zeugen in Österreich gg. Österreich, Urteil vom 25.9.2012, Bsw. 27540/05.

Spruch

Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK, § 1 Abs. 2 lit. d AuslBG, § 15 Abs. 1 Z. 14 lit. b ErbStG - Privilegierung anerkannter Religionsgesellschaften.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK hinsichtlich des Verfahrens nach dem AuslBG (einstimmig).

Keine Notwendigkeit, die Beschwerde über das Verfahren nach dem AuslBG auch unter Art. 9 EMRK alleine zu untersuchen (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK hinsichtlich des Verfahrens nach dem ErbStG (einstimmig).

Keine Notwendigkeit, die Beschwerde über das Verfahren nach dem AuslBG auch unter Art. 9 EMRK alleine  oder iVm. Art. 14 EMRK zu untersuchen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung der Verletzung stellt eine ausreichende Entschädigung hinsichtlich des immateriellen Schadens dar; € 12.834,45 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. war zum relevanten Zeitpunkt eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft im Sinne des Bundesgesetzes über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBl. I Nr. 19/1998. Seit 7.5.2009 genießt sie den Status einer Religionsgesellschaft.

Antrag an das AMS Wien auf Befreiung vom Geltungsbereich des AuslBG

Die Bf. beabsichtigte, ein philippinisches Ehepaar, die beide dem »Orden der Sondervollzeitdiener« der Zeugen Jehovas angehörten, einzustellen. Um einen Aufenthaltstitel zu erhalten, musste es jedoch über eine Arbeitserlaubnis verfügen oder darlegen, nicht den Bestimmungen des AuslBG zu unterliegen.

Die Bf. wandte sich daraufhin am 16.4.2002 an das AMS Wien und beantragte die Feststellung, dass die entgeltliche Seelsorgetätigkeit des genannten Ehepaares vom sachlichen Geltungsbereich des AuslBG ausgenommen sei. Begründend wurde ausgeführt, die Regelung des § 1 Abs. 2 lit. d AuslBG (Anm: Danach ist das Bundesgesetz nicht auf Ausländer hinsichtlich ihrer seelsorgerischen Tätigkeiten im Rahmen von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften anzuwenden.) sei dahingehend zu verstehen, dass davon auch die Pastoralarbeit von religiösen Gemeinschaften erfasst sei. In jedem Fall würden die dem Ehepaar zugewiesenen Aufgaben keine Beschäftigung im Sinne des AuslBG darstellen.

Mit Bescheid vom 21.10.2002 wies das AMS Wien das Begehren mit dem Hinweis auf die eindeutige Gesetzeslage als unbegründet ab. Gleichzeitig hielt es fest, dass die Arbeit des Ehepaares typische Merkmale einer Beschäftigung aufweisen würde. Das dagegen erhobene Rechtsmittel blieb erfolglos.

In der Folge rief die Bf. den VfGH mit der Behauptung einer Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte (Art. 7 Abs. 1 B-VG iVm. Art. 2 StGG; Art. 9 iVm. Art. 14 EMRK) sowie wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (§ 1 Abs. 2 lit. d AuslBG) an.

Mit Erkenntnis vom 10.10.2003, B 1768/02 u.a., wies der VfGH die Beschwerde ab. Er hielt fest, dass die Ausnahmebestimmung des § 1 Abs. 2 lit. d AuslBG offenkundig lediglich solche Religionsgesellschaften im Auge habe, die nach den Bestimmungen des Anerkennungsgesetzes anerkannt worden seien. Die Beschäftigung von Ausländern als Seelsorger im Rahmen einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft unterliege demgegenüber dem AuslBG und setze daher das Vorliegen eines entsprechenden Beschäftigungstitels voraus. Zwar sei die seelsorgerische Betätigung vom Schutzbereich des Art. 9 EMRK umfasst. Darunter falle auch das Beschäftigungsverhältnis eines Seelsorgers zu einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft. Die vom Gesetzgeber auf dem Gebiet des Arbeitsmarkts geschaffene Ordnung sei jedoch iSd. Art. 9 Abs. 2 EMRK als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu beurteilen. Die Unterscheidung zwischen gesetzlich anerkannten und nicht anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sei verfassungsgesetzlich vorgegeben. Mit der Anerkennung erlange die Kirche oder Religionsgesellschaft die im Gesetz näher beschriebene Stellung, die es ihr erlaube, an der Gestaltung des staatlichen öffentlichen Lebens teilzunehmen. Da dieser Status bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen allen Kirchen und Religionsgesellschaften zuerkannt werden müsse, begegne die Differenzierung zwischen gesetzlich anerkannten und anderen Gemeinschaften als solche keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Am 15.12.2004 wies der VwGH die vom VfGH an ihn abgetretene Beschwerde mit der Begründung ab, die von der Bf. aufgeworfene Frage der Diskriminierung wäre bereits von diesem erschöpfend behandelt worden.

Zum Erbschafts- bzw. Schenkungsverfahren

Im Oktober 1999 erhielt die Bf. eine Schenkung auf den Todesfall. Mit Bescheid vom 2.5.2001 forderte das Finanzamt für Gebühren und Verkehrssteuern sie zur Zahlung von Erbschafts- bzw. Schenkungssteuer in der Höhe von 14?% des erhaltenen Geldbetrags auf. Es fand, dass sich die Bf. nicht auf § 15 Abs. 1 Z. 14 lit. b ErbStG (Anm: Danach bleiben Zuwendungen unter Lebenden von körperlichen beweglichen Sachen und Geldforderungen an inländische Institutionen gesetzlich anerkannter Kirchen und Religionsgesellschaften steuerfrei.) stützen könnte, da die darin genannten Steuerprivilegien sich ausschließlich auf gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften beziehen würden.

Die Bf. erhob dagegen erfolglos Einspruch beim Unabhängigen Finanzsenat mit der Begründung, seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften am 10.1.1998 würde sich die Ausnahmeregelung des § 15 Abs. 1 Z. 14 lit. b ErbStG auch auf eingetragene Religionsgemeinschaften wie die ihre erstrecken.

Eine Beschwerde an den VfGH wegen behaupteter Diskriminierung aus Gründen der Religion wurde wegen fehlender Aussicht auf Erfolg abgelehnt und dem VwGH abgetreten, der sie als unbegründet abwies.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 9 EMRK (Recht auf Religionsfreiheit) und von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), jeweils alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK bezüglich des Beschäftigungsverfahrens

Die Bf. beklagt sich über die Weigerung der Behörden, die entgeltliche Seelsorgetätigkeit des philippinischen Ehepaares vom Geltungsbereich des AuslBG wegen ihres Status als nicht gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft auszunehmen.

Zur Zulässigkeit

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Der GH hat wiederholt festgestellt, dass die autonome Existenz von religiösen Gemeinschaften unerlässlich für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft ist und daher besonderen Schutz unter Art. 9 EMRK genießt. Da die Befreiung von Religionsgesellschaften von den Bestimmungen des AuslBG, was die Beschäftigung von Ausländern bezüglich pastoraler Aktivitäten anlangt, zum Ziel hat, das ordnungsgemäße Wirken von religiösen Gruppen sicherzustellen und damit ein von Art. 9 EMRK geschütztes Ziel verfolgt, fällt die gegenständliche Ausnahmebestimmung in dessen Anwendungsbereich. Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK ist daher anwendbar.

Im vorliegenden Fall bezog sich die in § 1 Abs. 2 lit. d AuslBG festgelegte Ausnahme vom Anwendungsbereich dieses Bundesgesetzes ausschließlich auf die Anstellung von Ausländern für Pastoralarbeit als Teil einer Kirche oder gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft. Zum Zeitpunkt, zu dem die Bf. ihren Feststellungsantrag beim AMS Wien einbrachte, hatte sie jedoch den Status einer eingetragenen Religionsgemeinschaft – und nicht den einer Religionsgesellschaft. Es bestand daher kein Anlass, sie nach geltendem Recht von der gegenständlichen Ausnahme zu befreien. Der GH muss daher prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung, welche die Bf. als nicht dem Anerkennungsgesetz 1874 unterliegende Religionsgemeinschaft gegenüber anerkannten Religionsgesellschaften erfuhr, objektiv gerechtfertigt war.

In den Fällen Lang/A, Gütl/A und Löffelmann/A untersuchte der GH, ob die Weigerung der Behörden, die Bf. in ihrer Eigenschaft als Zeugen Jehovas vom Zivil- bzw. Militärdienst zu befreien, Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK verletzt habe. Sie hatten sich darüber beklagt, dass die unterschiedliche Behandlung, die ihnen als aktive Mitglieder der Zeugen Jehovas im Vergleich zu solchen, die ähnliche Funktionen innerhalb einer gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft innehatten, zuteil wurde, ungerechtfertigt sei.

In seinem Urteil Lang/A hielt der GH Folgendes fest: »Der GH verweist auf den Fall Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A, welchen zwar die Stellung als eingetragene Religionsgemeinschaft zukam, die aber beabsichtigten, eine Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz 1874 und damit eine juristische Person öffentlichen Rechts zu werden. Wenn nun aber ein Staat Regelungen zur rechtlichen Anerkennung von religiösen Gruppen erlässt und mit der Anerkennung derartige Vorteile gewährt, gebietet die dem Staat aus Art. 9 EMRK erwachsende Pflicht zur neutralen Ausübung behördlicher Befugnisse, dass alle religiösen Gruppen eine faire Möglichkeit zur Erlangung der Anerkennung haben und die dafür notwendigen Kriterien in nicht diskriminierender Weise angewendet werden. Im vorliegenden Fall basierte die Weigerung, die Bf. vom Militär- bzw. Zivildienst zu befreien, auf dem Grund, dass diese nicht Mitglieder einer Religionsgesellschaft im Sinne des Anerkennungsgesetzes 1874 waren. In Anbetracht der Erkenntnisse aus dem Urteil Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A muss die Heranziehung dieser Voraussetzung unweigerlich zu einer von der Konvention verbotenen Diskriminierung führen.«

Der GH ist der Ansicht, dass die Weigerung der Behörden, im vorliegenden Fall eine Ausnahme vom Geltungsbereich des AuslBG zu machen, ebenfalls auf der Tatsache beruht, dass die Bf. zum damaligen Zeitpunkt keine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft war. Mit Rücksicht auf die Urteile Lang/A, Gütl/A und Löffelmann/A kann das in diesen Fällen identifizierte Kriterium – mag die Bf. nun eine gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft gewesen sein oder nicht – hier nicht anders verstanden werden. Das hat zur Folge, dass seine Anwendung unweigerlich zu einer konventionswidrigen Diskriminierung führte.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass § 1 Abs. 2 lit. d AuslBG diskriminierenden Charakter hat und dass die Bf. aufgrund der Anwendung dieser Bestimmung auf sie wegen ihrer Religion benachteiligt wurde. Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK alleine bezüglich des Beschäftigungsverfahrens

Im Hinblick auf die bereits festgestellte Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK besteht kein Anlass zu einer gesonderten Prüfung dieses Beschwerdepunkts (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK

Die Bf. beklagt sich darüber, dass sie im Gegensatz zu gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften nicht von der Schenkungs- bzw. Erbschaftssteuer befreit worden sei.

Laut Art. 1 Abs. 2 1. Prot. EMRK fällt die Verpflichtung zur Zahlung von Steuern in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung. Folglich ist auch Art. 14 EMRK anwendbar.

Die Regierung hat keinerlei Gründe für die unterschiedliche Behandlung der Bf. in dieser Angelegenheit angeführt und lediglich darauf verwiesen, dass Schenkungs- bzw. Erbschaftssteuer seit 31.7.2008 nicht mehr eingefordert würde. Die Weigerung der Behörden, die Bf. von der Entrichtung der genannten Steuern auszunehmen, beruhte auf ihrem fehlenden Status als gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft  – und führte unweigerlich zu einer von der Konvention verbotenen Diskriminierung.

§ 15 Abs. 1 Z. 14 lit. b ErbStG war somit diskriminierend und benachteiligte die Bf. aufgrund ihrer Religion. Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK bezüglich des Erbschafts- bzw. Schenkungsverfahrens

Nach Ansicht des GH besteht angesichts der bereits festgestellten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK kein Anlass zu einer gesonderten Prüfung dieses Beschwerdepunkts (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung von Konventionsverletzungen stellt bereits für sich eine ausreichend gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. € 12.834,45 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A v. 31.7.2008 = NL 2008, 232 = ÖJZ 2008, 865

Gütl/A und Löffelmann/A v. 12.3.2009; Lang/A v. 19.3.2009 = NL 2009, 86 = ÖJZ 2009, 684

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.9.2012, Bsw. 27540/05 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 306) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_5/Jehovas Zeugen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise