JudikaturAUSL EGMR

Bsw40020/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
31. Juli 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache M. u.a. gg. Italien und Bulgarien, Urteil vom 31.7.2012, Bsw. 40020/03.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 4 EMRK, Art. 14 EMRK - Angebliches Kidnapping einer Rom in Italien.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich dem Versäumnis der italienischen Behörden, angemessene Schritte zu setzen, um die Misshandlung der ErstBf. durch die serbische Familie zu verhindern und eine wirksame Untersuchung in Bezug auf diese behauptete Misshandlung vorzunehmen (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der sonstigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der von den Behörden zur Freilassung der ErstBf. unternommenen Schritte (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 3 EMRK insofern, als die Untersuchung der behaupteten Misshandlung der ErstBf. durch Private nicht wirksam war (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. gehören der Volksgruppe der Roma an und leben zur Zeit in Bulgarien. Der Zweit- und die DrittBf. sind Vater bzw. Mutter der zur Zeit der gegenständlichen Ereignisse noch minderjährigen ErstBf. Die ViertBf. ist die Schwägerin der ErstBf.

Nach der Version der Bf. kamen die Erst-, der Zweit- und die DrittBf. am 12.5.2003 in Mailand an, nachdem ihnen X., ein in Italien wohnhafter Rom, Arbeit versprochen hatte. X. hätte sie in einem Dorf in der Provinz Vercelli einquartiert und für Hausarbeit verwendet. Nach einiger Zeit hätte X. erklärt, dass sein Neffe Y. die ErstBf. heiraten wolle. Auf die Weigerung des Zweit- und der DrittBf. hin hätte er diese geschlagen, mit dem Tode bedroht und gezwungen, nach Bulgarien zurückzukehren und die ErstBf. zurückzulassen. Obwohl die Bf. dies verneinen, scheint sich aus ihrem ursprünglichen Vorbringen zu ergeben, dass den Eltern für das Zurücklassen ihrer Tochter Geld angeboten wurde. Die Eltern kehrten am 18.5.2003 nach Bulgarien zurück.

Die ErstBf. wäre während des folgenden Monats unter permanenter Überwachung gestanden, gezwungen worden zu stehlen, geschlagen, mit dem Tode bedroht und wiederholt von Y. vergewaltigt worden.

Am 24.5.2003 kehrte die DrittBf. mit der ViertBf. nach Italien zurück und brachte bei der italienischen Polizei eine Beschwerde ein, in der sie angab, dass sie und ihr Mann geschlagen und bedroht worden und ihre Tochter gekidnappt worden sei.

Am 11.6.2003 führte die Polizei im Haus von X. eine Razzia durch, wobei sie die ErstBf. fand und einige Festnahmen vornahm. Die ErstBf. wurde von der Polizei einvernommen und dabei laut den Bf. grob behandelt. Ihr sei gedroht worden, dass – sollte sie nicht die Wahrheit sagen – sie wegen Meineid und Verleumdung angeklagt würde. Sie sei dann gezwungen worden, zu erklären, dass sie nicht wünschte, dass ihre vermeintlichen Entführer verfolgt würden, sowie bestimmte Dokumente in Italienisch zu unterzeichnen, die sie nicht verstand. Die DrittBf. wurde am selben Tag ebenfalls einvernommen. Sie behauptet, auch mit einer Anklage wegen Meineid und Verleumdung bedroht und von der Polizei schlecht behandelt worden zu sein.

Am 12.6.2003 reisten die Erst-, Dritt- und ViertBf. zurück nach Bulgarien. Gegen die Entführer sei in der Folge kein Strafverfahren eingeleitet worden oder zumindest seien sie nicht davon informiert worden. Sie könnten auch keine Informationen über laufende strafrechtliche Ermittlungen erlangen.

In der Zeit danach schickten die Bf. mehrere Briefe und E-Mails, vorwiegend in bulgarischer Sprache, an die unterschiedlichsten italienischen Behörden und ersuchten um Auskunft bzw. verlangten die Verfolgung der mutmaßlichen Entführer. Sie ersuchten daneben auch verschiedene bulgarische Behörden um Unterstützung. Das bulgarische Konsulat in Rom versorgte die Bf. sodann mit bestimmten Informationen.

Aus den von der italienischen Regierung vorgelegten Dokumenten ist ersichtlich, dass die ErstBf. bei ihrer Einvernahme unmittelbar nach der Razzia am 11.6.2003 Angaben machte, die in Widerspruch zu der von der Mutter zuvor eingebrachten Beschwerde standen und die die Behörden zu der Schlussfolgerung leiteten, dass in Wahrheit keine Entführung stattgefunden hatte, sondern zwischen den zwei Familien eine Vereinbarung über eine Hochzeit vorlag. Dies wurde durch Fotos bestätigt, die eine Hochzeitsfeier zeigten, bei der der ZweitBf. eine Geldsumme von X. erhielt. Die ErstBf. verneinte allerdings, dass ihr Vater im Zuge der Vereinbarung Geld angenommen hatte. X., Y. und ein bei der Hochzeit anwesender Dritter, Z., bestätigten eine einverständliche Hochzeit zwischen Y. und der ErstBf.

Auf Grundlage der gesammelten Aussagen und Fotos beschloss der Staatsanwalt, das Strafverfahren gegen unbekannt wegen Entführung in ein Strafverfahren gegen die Erst- und DrittBf. wegen Meineid und Verleumdung umzuwandeln.

Am 11.7.2003 leitete der Staatsanwalt ein Strafverfahren gegen die ErstBf. wegen falscher Anschuldigungen gegenüber X., Y. und Z. ein. Am 28.11.2003 erschien die ErstBf. nicht zu einer Einvernahme vor dem Staatsanwalt, da sie sich in Bulgarien befand. Am 26.1.2005 entschied der Untersuchungsrichter, die Anklage nicht weiterzuverfolgen.

Am 26.6.2003 leitete der Staatsanwalt ein Strafverfahren gegen die DrittBf. wegen Meineid und falscher Anschuldigungen ein. Am 8.2.2006 sprach das Strafgericht Turin die DrittBf. frei, da ihre Schuld aufgrund der Beweislage nicht zweifelsfrei als erwiesen angesehen werden konnte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. haben unter anderem verschiedene Beschwerden unter den Art. 3, 4, 13 und 14 EMRK eingebracht. Sie rügen insbesondere eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), da die ErstBf. Misshandlung (inklusive sexuellem Missbrauch und Zwangsarbeit) ausgesetzt gewesen sei – dies trifft in einem geringeren Ausmaß auch auf den Zweit- und die DrittBf. zu –, und die italienischen Behörden es verabsäumt hätten, die Ereignisse angemessen zu untersuchen. Die Erst- und DrittBf. seien zudem bei der Einvernahme von italienischen Polizisten misshandelt worden.

Die Bf. beschweren sich aufgrund der Behandlung der ErstBf. durch X. und seine Familie sowie der Tatsache, dass sie dazu gezwungen wurde, am organisierten Verbrechen teilzunehmen, weiters über eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit). Die Bf. rügen weiters eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), da die ihnen zuteil gewordene Behandlung ihre Grundlage in ihrer Eigenschaft als Roma hätte.

Zu den Einreden

Zur Einrede der italienischen und bulgarischen Regierung hinsichtlich des Missbrauchs des Beschwerderechts erinnert der GH daran, dass eine Beschwerde nur unter außergewöhnlichen Umständen als missbräuchlich zurückgewiesen werden kann. Obwohl einige Erklärungen des Vertreters der Bf. unangebracht, über die Maßen gefühlsgeladen und bedauerlich waren, führte das nicht zu einer Situation, die es rechtfertigen würde, die Beschwerde wegen Missbrauch des Beschwerderechts für unzulässig zu erklären. Da auch nicht zweifelsfrei erwiesen ist, dass die Version der Bf. auf unwahren Gegebenheiten beruht, muss diese Einrede zurückgewiesen werden.

Hinsichtlich der Einrede bezüglich fehlender Opfereigenschaft erinnert der GH daran, dass es unter Art. 3 EMRK in Fällen des Verschwindens bei der Frage, ob ein Familienmitglied »Opfer« ist, auf das Vorliegen besonderer Umstände ankommt, die dem Leiden des Bf. eine Dimension und ein Wesen verleihen, die sich von dem emotionalen Schmerz, der für Verwandte eines Opfers einer ernsthaften Menschenrechtsverletzung als unvermeidbar angesehen werden kann, unterscheiden. Dabei kommt es auf die Enge der Familienbande, die besonderen Umstände der Beziehung, das Ausmaß, zu dem das Familienmitglied Zeuge der fraglichen Ereignisse war, die Involvierung des Familienmitglieds in die Versuche, Informationen über die verschwundene Person zu erhalten und den Weg, auf dem die Behörden auf diese Anfragen geantwortet haben, an. In diesen Fällen liegt das Wesen einer solchen Verletzung nicht so sehr im Faktum des Verschwindens des Familienmitglieds, sondern betrifft vielmehr die Reaktionen und Haltung der Behörden in der Situation, wenn sie darauf aufmerksam werden.

Obwohl der Zweit-, die Dritt- und die ViertBf. einige der fraglichen Ereignisse mitbekommen haben und zu einem unterschiedlichen Ausmaß in die Versuche involviert waren, Informationen über die ErstBf. zu erhalten, können sie nicht selbst als Opfer der Verletzung hinsichtlich der Behandlung der ErstBf. und der diesbezüglichen Untersuchungen angesehen werden, da das von ihnen erlittene seelische Leiden nicht eine Dimension und ein Wesen erreicht hat, das sich von jenem emotionalen Schmerz unterscheidet, der für Verwandte eines Opfers einer ernsthaften Menschenrechtsverletzung als unvermeidbar angesehen werden kann.

Die Einrede der Regierungen hinsichtlich des Zweit-, der Dritt- und der ViertBf. bezüglich der Beschwerden unter Art. 3 und 4 EMRK muss daher aufrechterhalten werden.

Die ViertBf. kann zudem nicht beanspruchen, direktes Opfer irgendeiner der behaupteten Verletzungen zu sein, während der ZweitBf. dies allein hinsichtlich der Behandlung durch X. und dessen Familie kann, der er angeblich selbst ausgesetzt war. Bezüglich der DrittBf. existiert nichts, was sie ihres Opferstatus hinsichtlich ihrer Misshandlung durch X. und seine Familie bzw. der Polizei berauben könnte.

Daraus folgt, dass der Einrede der Regierungen hinsichtlich der ViertBf. bezüglich aller Beschwerdepunkte und hinsichtlich des ZweitBf. mit Ausnahme der Beschwerde über die Behandlung, die er angeblich von X. und dessen Familie erlitt, stattgegeben werden muss. Im Übrigen ist die Einrede zurückzuweisen. Insoweit der Einrede stattzugeben war, sind die Beschwerden mit der Konvention ratione personae unvereinbar und daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die Beschwerden betreffend die Misshandlung der ErstBf. durch X. und dessen Familie und das Fehlen einer effektiven Untersuchung in dieser Hinsicht

Der GH sieht sich mit einem Streit über die genaue Natur der angeblichen Ereignisse konfrontiert. Er muss seine diesbezügliche Entscheidung auf Grund der von den Parteien beigebrachten Beweise treffen. Die Krankenakten der ErstBf. stellen einen ausreichenden prima facie-Beweis dar, dass die ErstBf. einer Form von Misshandlung ausgesetzt gewesen sein könnte. Insgesamt kommt der GH unter den besonderen Umständen des Falls zum Ergebnis, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Der GH erinnert daran, dass Art. 3 EMRK von den Behörden verlangt, Behauptungen von Misshandlung zu untersuchen, wenn sie »vertretbar« sind und »einen begründeten Verdacht schüren«, selbst wenn eine solche Behandlung durch Private angeordnet wird. Die Untersuchung muss unabhängig und unparteiisch sein und unter öffentlicher Überprüfung stehen. Die zuständigen Behörden müssen mit mustergültiger Sorgfalt und Schnelligkeit handeln.

Die von der DrittBf. am 24.5.2003 eingebrachte Beschwerde umfasste zwar keine Krankenakten, doch war es gar nicht möglich, medizinische Beweise beizubringen, da die ErstBf. entsprechend der Beschwerde entgegen ihrem Willen von X. und dessen Familie zurückgehalten wurde. Unter diesen Umständen schürten die Aussage der DrittBf. und die Ernsthaftigkeit der in der Beschwerde vom 24.5.2003 gemachten Behauptungen einen begründeten Verdacht, dass die ErstBf. einer Misshandlung ausgesetzt worden sein könnte. Das reicht für die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK aus.

Hinsichtlich der von den italienischen Behörden unternommenen Schritte bemerkt der GH, dass die Polizei die ErstBf. innerhalb von zweieinhalb Wochen aus ihrer angeblichen Gefangenschaft befreite. Sie brauchte drei Tage, um das Gebäude zu lokalisieren und weitere zwei Wochen, um die Razzia vorzubereiten, die zur Befreiung der ErstBf. führte. Da die Bf. behauptet haben, dass die Familie von X. bewaffnet sei, akzeptiert der GH, dass eine vorherige Überwachung notwendig war. Das Eingreifen erfüllte daher die Anforderungen von Schnelligkeit und Sorgfalt, mit denen die Behörden unter solchen Umständen handeln sollten. Die staatlichen Behörden kamen daher ihren positiven Verpflichtungen zum Schutz der ErstBf. nach. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK in diesem Punkt (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydjieva).

Hinsichtlich der Untersuchung nach der Befreiung der ErstBf. bemerkt der GH, dass die italienischen Behörden X., Y., Z., die Erst- und die DrittBf. verhörten. Es scheint nicht, dass weitere Anstrengungen unternommen wurden, um Dritte zu befragen, die die fraglichen Ereignisse beobachtet haben hätten können. Die italienischen Behörden gingen in der Tat davon aus, dass die vor Ort eingezogenen Fotos die Version der angeblichen Täter untermauerten. Keine der anderen Personen auf den Fotos wurde jemals identifiziert oder verhört – ein nach Ansicht des GH wesentlicher Schritt, da die Bf. behauptet hatten, mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden zu sein, für solche Fotos zu posieren. Es wurden auch keine Versuche gemacht, den ZweitBf. anzuhören, der einer der Hauptakteure der fraglichen Ereignisse war. Am selben Tag, an dem die ErstBf. befreit und angehört wurde, wurden die Strafverfahren gegen die Täter in Strafverfahren gegen die Erst- und DrittBf. umgewandelt. Der GH ist überrascht von der Tatsache, dass die Behörden nach der Befreiung der ErstBf. weniger als einen vollen Tag benötigten, um zu ihren Schlussfolgerungen zu gelangen. Unter diesem Licht liegt es nahe, dass das Strafgericht Turin es für unmöglich erachtete, den Sachverhalt eindeutig festzustellen.

Der GH beobachtet weiters, dass die ErstBf. nach ihrer Befreiung ungeachtet der Behauptungen, wiederholt geschlagen und vergewaltigt worden zu sein, keiner medizinischen Untersuchung unterzogen wurde. Es erfolgte weder eine besondere Befragung in dieser Hinsicht noch irgendeine andere medizinische oder wissenschaftliche Prüfung. Dies ist umso beunruhigender, als die ErstBf. zur Zeit der Ereignisse minderjährig war.

Die Bf. behaupteten zudem, dass sie aufgrund eines Versprechens für Arbeit nach Italien gekommen wären, aber keine bekamen und dass die ErstBf. gewungen wurde, an Raubüberfällen und sexuellen Aktivitäten teilzunehmen. Auch wenn dies nicht festgestellt werden konnte, kann der GH nicht ausschließen, dass die Umstände des vorliegenden Falls – so wie von der ErstBf. gegenüber den italienischen Behörden behauptet – Menschenhandel im Sinne internationaler Verträge begründen hätten können, was unzweifelhaft ebenfalls eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK bedeutet hätte. Folglich traf die Behörden eine Verpflichtung, die Sache zu untersuchen und die relevanten Fakten in einer geeigneten Untersuchung festzustellen. Die italienischen Behörden meinten allerdings, dass die Umstände des vorliegenden Falls dem Kontext einer Roma-Hochzeit geschuldet waren. Der GH kann die Ansicht nicht teilen, dass eine solche Schlussfolgerung ausreicht, um jeden Zweifel am Vorliegen von Menschenhandel auszuräumen, auf den die Umstände des Falls hinwiesen. Eine mögliche »Roma-Hochzeit« kann nicht als Grund dienen, unter diesen Umständen nicht zu ermittlen. Die rasche Entscheidung der italienischen Behörden, keine genaue Untersuchung vorzunehmen, hatte u.a. zur Folge, dass medizinische Beweise hinsichtlich der körperlichen Verfassung der ErstBf. nicht einmal gesucht wurden.

Die Untersuchung der angeblichen Misshandlung der ErstBf. durch Private war daher unter den besonderen Umständen des Falls nicht wirksam iSv. Art. 3 EMRK. Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich seines verfahrensrechtlichen Aspekts (einstimmig).

Die Beschwerde betreffend die Misshandlung des Zweit- und der DrittBf. durch die Familie von X. und das Fehlen einer effektiven Untersuchung in dieser Hinsicht

Auch unter der Annahme, dass der Zweit- und die DrittBf. zuvor unter Zwang standen, ist es doch unbestritten, dass dies nach dem 18.5.2003 nicht mehr der Fall war. Daraus folgt, dass die beiden anders als ihre Tochter um medizinische Unterstützung ersuchen und medizinische Beweise erlangen hätten können, um ihre Behauptungen zu untermauern. Bis heute liegt dem GH kein Beweis dafür vor, dass die Eltern einer Misshandlung durch X. und seine Familie ausgesetzt gewesen sein könnten. Es gibt daher keinen ausreichenden, logischen oder verlässlichen Beweis, um im notwendigen Maß festzustellen, dass sie eine solche Misshandlung erlitten. Die Behörden mussten daher aus keinem vernünftigen Grund den Verdacht hegen, dass die Eltern einer unzulässigen Behandlung ausgesetzt waren, die eine vollständige Untersuchung erfordert hätte. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Die Beschwerde hinsichtlich der Misshandlung der Erst- und DrittBf. durch die Polizisten

Der GH bemerkt zunächst, dass die Erst- und DrittBf. es verabsäumt haben, gegen irgendeinen Polizisten Anzeige zu erstatten. Sie haben daher hinsichtlich dieser Beschwerde den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft. Die von den Bf. angegebene Behandlung erreicht außerdem nicht das Mindestmaß an Schwere, das unter Art. 3 EMRK erforderlich ist. Daher ist diese Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Die Beschwerde betreffend fehlende Maßnahmen und eine fehlende effektive Untersuchung der behaupteten Ereignisse gegen Bulgarien

Unter den Umständen des vorliegenden Falls, wo die angebliche Misshandlung auf italienischem Gebiet erfolgte und der GH bereits festgestellt hat, dass es an den italienischen Behörden lag, die Ereignisse zu untersuchen, kann keine Verpflichtung von Seiten der bulgarischen Behörden angenommen werden, eine Untersuchung unter Art. 3 EMRK durchzuführen. Die Konventionsorgane haben auch wiederholt festgestellt, dass die Konvention kein Recht enthält, das von den Vertragsstaaten verlangt, diplomatischen Schutz auszuüben oder sich für Beschwerden des Einzelnen unter internationalem Recht einzusetzen oder anderweitig bei den Behörden in seinem Namen zu intervenieren. Diese Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK

Der GH hatte bislang erst zwei Gelegenheiten, um den Umfang zu erwägen, in welchem eine Behandlung in Verbindung mit Menschenhandel in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fällt. Im Fall Rantsev/CYP und RUS kam er zum Ergebnis, dass die Behandlung des Bf. auf Leibeigenschaft und Zwangs- und Pflichtarbeit hinauslief, obwohl sie nicht den Grad der Sklaverei erreichte. Im Fall Siliadin/F wurde Menschenhandel selbst als dem Geist und Zweck von Art. 4 EMRK entgegenlaufend angesehen, ohne dass es notwendig gewesen wäre zu beurteilen, welche der drei umschriebenen Verhaltensweisen durch die fragliche Behandlung gegeben war.

In Rantsev erwog der GH, dass Menschenhandel allein durch seine Natur und sein Ziel der Ausbeutung auf einer Ausübung von Macht basiert, die mit Eigentümerschaft verbunden ist. Er behandelt Menschen als Waren, die gekauft, verkauft und – häufig für wenig oder gar keine Bezahlung – der Zwangsarbeit zugeführt werden, für gewöhnlich in der Sexindustrie. Er impliziert eine enge Überwachung der Opfer und umfasst die Anwendung von Gewalt und Drohung gegenüber dem Opfer, das unter armseligen Bedingungen lebt und arbeitet. Der GH kam daher zum Schluss, dass Menschenhandel unter Art. 4 EMRK fällt.

Die Parteien haben voneinander abweichende Sachverhaltsdarstellungen angeboten und das Fehlen von Untersuchungen durch die italienischen Behörden hat bedauerlicherweise dazu geführt, dass nur wenig Beweismaterial für die Entscheidung des Falls zur Verfügung steht. Der GH muss sich daher auf die von den Parteien vorgebrachten Beweise stützen.

Die Beschwerde gegen Italien

Die beigebrachten Beweise reichen nicht aus, um die Glaubwürdigkeit der Version der Bf. zu den Ereignissen zu bestätigen, nämlich dass die ErstBf. nach Italien verbracht wurde, um als Spielfigur in illegalen Machenschaften eingesetzt zu werden. Daher erkennt der GH nicht das Vorliegen von Umständen an, die eine Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen für die Zwecke der Ausbeutung, von Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeiten, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder der Entnahme von Organen nahelegen. Die Behauptung der Bf., dass es einen Fall von Menschenhandel gegeben habe, ist daher nicht bewiesen und kann vom GH nicht akzeptiert werden.

Hinsichtlich der von den Behörden angebotenen Version der Ereignisse lässt sich kein ausreichender Beweis dafür ableiten, dass die ErstBf. als Sklavin gehalten wurde. Das Geld, das der Vater für die Hochzeit erhalten hat, kann nicht als Preis für die Übertragung des Eigentums angesehen werden, sondern nur als ein übliches Geschenk von einer Familie an eine andere.

Die Krankenakten reichen nicht aus, um zu entscheiden, dass die ErstBf. über jeden vernünftigen Zweifel hinaus eine Misshandlung oder Ausbeutung iSd. Definition von Menschenhandel erlitten hat. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass die Verbindung für andere Zwecke als jene, die allgemein mit einer Hochzeit einhergehen werden, eingegangen wurde.

Es gibt auch keine ausreichenden Beweise dafür, dass der ErstBf. die Verbindung aufgezwungen wurde, da sie nicht ausgesagt hatte, dass sie nicht zugestimmt hätte und betonte, dass Y. sie nicht dazu gewungen habe, mit ihm sexuell zu verkehren.

Die Verpflichtungen nach Art. 4 EMRK, Menschenhandel über einen geeigneten rechtlichen oder regulativen Rahmen unter Strafe zu stellen und zu verfolgen, können im vorliegenden Fall nicht ins Spiel kommen. Dieser Teil der Beschwerde unter Art. 4 EMRK gegen Italien ist daher offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Die Beschwerde gegen Bulgarien

Der GH bemerkt, dass es nicht außerhalb seiner Kompetenz liegen würde zu prüfen, ob Bulgarien einer möglichen Verpflichtung, innerhalb seiner Hoheitsgewalt die ErstBf. vor Menschenhandel zu schützen, nachgekommen ist, wenn der behauptete Menschenhandel in Bulgarien begonnen hätte. Entsprechend den obigen Ausführungen muss allerdings auch die Beschwerde gegen Bulgarien nach Art. 4 EMRK als offensichtlich unbegründet angesehen und als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK

Hinsichtlich der Beschwerde unter Art. 14 EMRK muss der GH zunächst feststellen, ob Rassismus im Rahmen der Gegebenheiten ein kausaler Faktor für die Beschwerde an die Behörden war und ob der belangte Staat seiner Verpflichtung zur Untersuchung möglicher rassistischer Motive nachgekommen ist. Der GH muss auch untersuchen, ob die nationalen Behörden die Bf. bei der Durchführung der Untersuchung der Behauptungen hinsichtlich einer Misshandlung durch die Polizei diskriminierten und bejahendenfalls, ob die Diskriminierung sich auf ihren ethnischen Ursprung gründete.

Zum ersten Beschwerdepunkt bemerkt der GH, dass sogar wenn man die Version der Bf. als wahr ansehen würde, ihre angebliche Behandlung in keinster Weise rassistische Untertöne aufwies oder durch ethnischen Hass oder Vorurteile angestachelt erschiene, da die angeblichen Täter derselben ethnischen Gruppe angehörten. Es bestand daher keine positive Verpflichtung des Staates, solche Motive zu untersuchen.

Was den zweiten Punkt der Beschwerde anbelangt, bemerkt der GH, dass er zwar oben festgestellt hat, dass die italienischen Behörden es verabsäumt haben, die Behauptungen der Bf. angemessen zu untersuchen, doch lässt sich aus den vorgelegten Dokumenten nicht ersehen, dass dieses Versäumnis eine Folge von diskriminierender Einstellung war. Es scheint während der Untersuchung keine rassistische Beschimpfung durch die Polizei gegeben zu haben und auch nicht durch den Staatsanwalt oder die Gerichte.

Die Beschwerde gegen Italien ist somit offensichtlich unbegründet und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zu den übrigen gerügten Verletzungen

Die Beschwerden unter Art. 13 bzw. Art. 6 EMRK müssen ebenfalls als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Bf. begehrten zwar eine gerechte Entschädigung, als sie ihre Beschwerde einbrachten, doch erhielten sie diese Forderung nicht aufrecht. Es gibt daher keinen Grund, ihnen eine Entschädigung zuzusprechen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Çelik und Imret/TR v. 26.10.2004

Ay/TR v. 22.3.2005

Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200

Erdem/TR v. 17.7.2008

Rantsev/CYP und RUS v. 7.1.2010 = NL 2010, 20

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 31.7.2012, Bsw. 40020/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 260) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/M. u.a..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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