JudikaturAUSL EGMR

Bsw58369/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Juli 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Staatkundig Gereformeerde Partij gg. die Niederlande, Entscheidung vom 10.7.2012, Bsw. 58369/10.

Spruch

Art. 14 EMRK, Art. 3 1. Prot. EMRK - Diskriminierung von Frauen in religiöser Partei.

Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde wurde von der »Reformierten Politischen Partei« (Staatkundig Gereformeerde Partij, SGP) erhoben. Diese seit 1922 durchgehend in der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments vertretene Partei ist tief verwurzelt im reformierten Protestantismus. Sie beruft sich direkt auf das »unfehlbare Wort Gottes« und vertritt die Ansicht, dass Männern und Frauen unterschiedliche gesellschaftliche Rollen zukommen. Frauen sollten demnach keine öffentlichen Ämter einnehmen dürfen. Ein Wahlrecht für Frauen resultiert nach ihren Grundsätzen aus einem »revolutionären Streben nach Emanzipation«, das mit der Berufung der Frau unvereinbar sei und bekämpft werden müsse. Dasselbe gilt für die Teilnahme von Frauen an politischen Vertretungskörpern und Organen. Erst seit 2007 sind Frauen als Parteimitglieder zugelassen, nach wie vor dürfen sie aber nicht für politische Ämter kandidieren. Die SGP finanziert sich zu etwa einem Drittel aus staatlicher Parteienförderung.

Diese Ungleichbehandlung von Frauen gab Anlass für zwei Klagen gegen die SGP und den Staat, die von einigen Nichtregierungsorganisationen eingebracht wurden. Das Bezirksgericht (rechtbank) Den Haag wies die gegen die SGP erhobene Klage ab, da die Kläger kein rechtliches Interesse geltend machen konnten. Der Klage gegen den Staat wurde hingegen am 7.9.2005 stattgegeben. Das Gericht stellte fest, dass der Staat durch die Gewährung von Förderungen an die SGP gegen Art. 7 der Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verstoßen habe. Der Staat wurde dazu verurteilt, keine weiteren Subventionen zu gewähren, solange die Partei Frauen die gleichberechtigte Mitgliedschaft verwehre.

Nachdem im Dezember 2005 ein Förderungsantrag abgewiesen worden war, erhob die SGP Einspruch. Der Staatsrat, der in letzter Instanz entschied, gab diesem am 5.12.2007 statt und stellte fest, dass Art. 7 CEDAW nicht so ausgelegt werden könne, dass er die Gewährung von Förderungen an die SGP verbiete.

Das Urteil des Bezirksgerichts vom 7.9.2005 wurde vom Staat mittels Berufung angefochten. Das Berufungsgericht (gerechtshof) Den Haag bestätigte am 20.12.2007 die Verpflichtung des Staates, Maßnahmen zu ergreifen um die SGP dazu zu bewegen, Frauen das Recht einzuräumen zu kandidieren. Anders als das Bezirksgericht war es jedoch der Ansicht, dass die Gerichtsbarkeit keine Kompetenz habe, dem Staat spezielle Maßnahmen, wie die Einstellung von Subventionen, vorzuschreiben. In diesem Punkt wurde das Urteil daher aufgehoben.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 9.4.2010. Das Interesse an der Durchsetzung des Diskriminierungsverbots würde demnach gegenüber den Interessen der SGP an ihrer Religions-, Meinungsäußerungs- und Vereinigungsfreiheit überwiegen. Der Verstoß der SGP gegen das Diskriminierungsverbot könne daher nicht durch religiöse Überzeugungen gerechtfertigt werden.

Das Parlament beschloss, erst nach Ende des Verfahrens vor dem EGMR über Maßnahmen zur Umsetzung des Urteils des Obersten Gerichtshofs zu entscheiden.

Rechtliche Beurteilung

Die bf. Partei behauptet, sie selbst und ihre Mitglieder seien durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in ihren durch Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 11 EMRK (hier: Vereinigungsfreiheit) geschützten Rechten verletzt worden.

Der GH stellt zunächst fest, dass bislang keine Handlungen ergriffen wurden, um die bf. Partei dazu zu zwingen, Frauen in einem Umfang als Kandidatinnen zu akzeptieren, in dem dies nicht bereits der Fall gewesen wäre. Der GH wird dennoch von der Annahme ausgehen, dass ein Eingriff in die Rechte der SGP stattgefunden hat und dass dieser gesetzlich vorgesehen war. Er wird weiters annehmen, dass der Eingriff zumindest das legitime Ziel des »Schutzes der Rechte anderer« verfolgte.

Wie der GH bereits viele Male betont hat, ist die Demokratie ein grundlegendes Merkmal der europäischen Ordnung. Die EMRK wurde geschaffen, um die Ideale und Werte einer demokratischen Gesellschaft zu fördern. Demokratie ist das einzige politische Modell, das mit der Konvention vereinbar ist.

Der GH hat auch festgehalten, dass eine politische Partei nach der EMRK unter zwei Voraussetzungen ihre politischen Ziele verfolgen kann: Erstens müssen die dazu eingesetzten Ziele rechtmäßig und demokratisch sein. Zweitens müssen die angestrebten Veränderungen selbst mit den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, die in der Konvention festgeschrieben sind, vereinbar sein. Solange sie diese Bedingungen erfüllt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine von religiös vorgegebenen moralischen Werten bewegte politische Partei den grundlegenden Prinzipien der Demokratie ihrem Wesen nach feindlich gegenübersteht.

Zum vorliegenden Fall betont der GH, dass die Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter heute ein wichtiges Ziel in den Mitgliedstaaten des Europarats ist. Dies bedeutet, dass sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden müssten, damit eine unterschiedliche Behandlung aufgrund des Geschlechts als vereinbar mit der Konvention angesehen werden kann. Die Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter in den Europaratsstaaten hindert den Staat heutzutage daran, Ansichten zu unterstützen, wonach der Mann die erstrangige Rolle spielt und jene der Frau untergeordnet ist.

Keine Frau hat den Wunsch geäußert, bei Wahlen als Kandidatin der bf. Partei anzutreten. Der GH erachtet dies aber nicht als entscheidend.

Es geht im vorliegenden Fall um die im Verfahren vor dem GH bekräftigte Position der bf. Partei, dass es Frauen nicht erlaubt sein sollte, auf ihren Wahllisten für Ämter in allgemeinen staatlichen Vertretungskörpern zu kandidieren. Es macht wenig Unterschied, ob die alleine auf dem Geschlecht beruhende Verweigerung eines grundlegenden politischen Rechts in den Statuten oder in anderen internen Dokumenten der bf. Partei ausdrücklich festgeschrieben ist oder nicht, wurde sie doch praktiziert und öffentlich dafür eingetreten.

Der Oberste Gerichtshof schloss aus Art. 7 CEDAW und aus den Art. 2 und 25 IPBPR, dass die Position der SGP ungeachtet der tiefen religiösen Überzeugung, auf der sie beruht, inakzeptabel ist. Der GH für seinen Teil vertritt die Ansicht, dass sich aus Art. 3 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK selbstverständlich dieselbe Schlussfolgerung ergibt.

Der GH muss sich einer Stellungnahme darüber enthalten, was die Regierung tun sollte, um die gegenwärtige Situation zu beenden. Der GH kann in einer Zulässigkeitsentscheidung keine Handlungen vorschreiben. Dies ist jedenfalls eine Angelegenheit, die außerhalb des Umfangs der vorliegenden Beschwerde liegt.

Die Beschwerde ist offensichtlich unbegründet und muss daher als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Refah Partisi (Die Wohlfahrtspartei) u.a./TR v. 13.2.2003 (GK) = NL 2003, 30 = EuGRZ 2003, 206 = ÖJZ 2005, 975

Ünal Tekeli/TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 294

Konstantin Markin/RUS v. 22.3.2012 (GK) = NL 2012, 92

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Entscheidung des EGMR vom 10.7.2012, Bsw. 58369/10 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 225) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Entscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/Staatkundig.pdf

Das Original der Entscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise