Bsw43547/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Stübing gg. Deutschland, Urteil vom 12.4.2012, Bsw. 43547/08.
Spruch
Art. 8 EMRK - Strafbarkeit des Geschwisterinzests.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1976 geborene Bf. kam im Alter von drei Jahren in ein Kinderheim und lebte anschließend bei mehreren Pflegefamilien. Als er sieben Jahre alt war, wurde er von seinen damaligen Pflegeeltern adoptiert und erhielt deren Familiennamen. Zu seinen leiblichen Eltern hatte er danach keinen Kontakt mehr.
Nachdem der Bf. im Jahr 2000 wieder Kontakt zu seiner Ursprungsfamilie aufgenommen hatte, lernte er seine 1984 geborene leibliche Schwester kennen, deren Existenz ihm bis dahin nicht bekannt war. Nach dem Tod ihrer Mutter intensivierte sich die Beziehung zwischen dem Bf. und seiner Schwester und ab Jänner 2001 hatten sie einvernehmlich Geschlechtsverkehr. Zwischen 2001 und 2005 brachte seine Schwester vier Kinder zur Welt, deren leiblicher Vater der Bf. ist. Nach der Geburt des vierten Kindes unterzog sich der Bf. einer Vasektomie. Die drei älteren Kinder leben in Pflegefamilien, das jüngste Kind bei seiner Mutter.
Am 23.4.2002 verurteilte das Amtsgericht Borna den Bf. wegen Beischlafs zwischen Geschwistern nach § 173 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, die bedingt nachgesehen wurde. Am 6.4.2004 wurde er wegen des gleichen Tatbestands zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Am 10.11.2005 verurteilte ihn das Amtsgericht Leipzig wegen Beischlafs zwischen Geschwistern zu einem Jahr und zwei Monaten Haft. Daneben verhängte das Amtsgericht unter Einbeziehung der früheren Verurteilungen eine weitere Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und vier Monaten. Zur Schwester des Bf. stellte das Amtsgericht Leipzig fest, dass bei ihr von einer ängstlich zurückgezogenen, abhängigen Persönlichkeitsstruktur auszugehen sei, die zu einer erheblichen Abhängigkeit vom Bf. geführt habe. Darin liege eine schwere Persönlichkeitsstörung, die im Zusammenhang mit einer leichten geistigen Behinderung zu einer verminderten Schuldfähigkeit führe, weshalb von einer Strafe abzusehen sei.
Die dagegen gerichtete Revision des Bf. wurde vom OLG Dresden am 30.1.2007 verworfen.
Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde am 26.2.2008 als unbegründet zurück (2 BvR 392/07). § 173 Abs. 2 StGB beschränke das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung leiblicher Geschwister, doch liege darin kein dem Gesetzgeber von vornherein verwehrter Eingriff in den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Die mit der Norm verfolgten Zwecke seien verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie diene insbesondere dem Schutz von Ehe und Familie, indem sie familien- und sozialschädliche Wirkungen des Geschwisterinzests verhindern wolle. Außerdem verfolge der Gesetzgeber das Ziel des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung und eugenische Gesichtspunkte. Auch sei die Strafdrohung nicht unverhältnismäßig.
Am 4.6.2008 trat der Bf. seine Freiheitsstrafe an. Ein Jahr später wurde er bedingt aus der Haft entlassen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) durch seine Verurteilung.
Zulässigkeit
Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK
Der GH schließt nicht aus, dass die Verurteilung des Bf. sein Familienleben beeinträchtigte, da ihm der Geschlechtsverkehr mit der Mutter seiner Kinder verboten wurde. Unstrittig ist jedenfalls, dass seine Verurteilung einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens darstellt, das auch sein Sexualleben umfasst.
Die Verurteilung beruhte auf § 173 Abs. 2 StGB, der einvernehmlichen Beischlaf zwischen erwachsenen leiblichen Geschwistern untersagt und auf den Schutz der Moral und der Rechte anderer abzielt. Die umstrittene Maßnahme diente damit auch einem legitimen Zweck iSv. Art. 8 Abs. 2 EMRK.
Der Ermessensspielraum, der dem Staat bei Entscheidungen nach Art. 8 EMRK einzuräumen ist, wird kleiner sein, wenn ein besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder Identität der Person auf dem Spiel steht. Daher müssen besonders schwerwiegende Gründe vorliegen, damit ein Eingriff der Behörden betreffend einen der intimsten Aspekte des Privatlebens, wie den Ausdruck der Sexualität einer Person, nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden kann.
Wo andererseits kein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats besteht, sei es hinsichtlich der relativen Wichtigkeit des in Rede stehenden Interesses, sei es hinsichtlich des besten Mittels zu dessen Schutz, wird der Ermessensspielraum weiter sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Fall sensible moralische oder ethische Fragen aufwirft. Aufgrund ihrer direkten Beziehungen zu den in ihren Ländern wirksamen Kräften sind die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage als ein internationaler Gerichtshof, eine Meinung abzugeben über den genauen Inhalt der moralischen Maßstäbe in ihrem Land und über die Notwendigkeit einer diesen Maßstäben entsprechenden Einschränkung.
Zum vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats kein Konsens darüber besteht, ob einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern strafrechtlich sanktioniert werden sollen. Eine Mehrheit von 28 der 44 untersuchten Staaten sehen eine Strafbarkeit vor. Daneben verbieten alle Rechtssysteme die Heirat zwischen Geschwistern. Dies zeigt einen breiten Konsens, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern weder von der Rechtsordnung noch von der Gesellschaft akzeptiert werden. Im Gegensatz dazu gibt es keinen empirischen Beleg für die Annahme eines allgemeinen Trends in Richtung einer Entkriminalisierung solcher Handlungen. Wie der GH zudem feststellt, betrifft der vorliegende Fall eine Frage moralischer Maßstäbe. Aus den oben dargelegten Grundsätzen folgt, dass die innerstaatlichen Instanzen einen weiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung darüber genießen, wie sie mit einvernehmlichen inzestiösen Beziehungen zwischen Erwachsenen umgehen, selbst wenn diese Entscheidung intime Aspekte des Privatlebens betrifft.
Es ist nicht Aufgabe des GH, die innerstaatliche Rechtslage in abstracto zu beurteilen. Er muss vielmehr die Anwendung auf den Bf. unter den Umständen des Einzelfalls prüfen. Der GH wird seine Prüfung daher auf die Frage beschränken, ob die Verurteilung des Bf. in diesem konkreten Fall einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach.
Das BVerfG kam zu dem Schluss, dass die Strafbarkeit durch mehrere Ziele gerechtfertigt war, wie den Schutz der Familie, der Selbstbestimmung und der öffentlichen Gesundheit, und zudem vor dem Hintergrund einer allgemeinen Überzeugung zu sehen sei, wonach Inzest strafbar sein sollte. Bei sexuellen Beziehungen zwischen Geschwistern könnte es nach Ansicht des BVerfG zu gravierenden familien- und sozialschädigenden Wirkungen kommen. Außerdem schütze § 173 StGB die sexuelle Selbstbestimmung.
Wie der GH feststellt, ging die Schwester des Bf. nach dem Tod ihrer Mutter eine sexuelle Beziehung zu ihm ein. Sie war damals 16 Jahre alt, der Bf. sieben Jahre älter. Einem vom Amtsgericht Leipzig angeforderten Gutachten zufolge litt sie an einer schweren Persönlichkeitsstörung, die im Zusammenhang mit der mangelhaften Familiensituation und einer leichten Behinderung zu einer erheblichen Abhängigkeit vom Bf. geführt habe.
Die oben genannten Ziele, die vom Gesetzgeber im Zuge einer Überarbeitung des § 173 StGB in den 1970er-Jahren ausdrücklich bekräftigt wurden, erscheinen nicht unsachlich. Zudem sind sie im vorliegenden Fall relevant. Unter diesen Umständen anerkennt der GH, dass die Verurteilung des Bf. einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach.
Angesichts dieser Überlegungen und der eingehenden Behandlung des vorliegenden Falles durch das BVerfG – die anhand der Gründlichkeit der Untersuchung der vorgebrachten rechtlichen Argumente deutlich und durch die detaillierte abweichende Meinung eines der Richter unterstrichen wird – sowie des weiten Ermessensspielraums, der dem Staat wegen des Fehlens eines europäischen Konsenses zukommt, gelangt der GH zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichte ihren Ermessensspielraum nicht überschritten haben, als sie den Bf. wegen Inzest verurteilten. Es hat daher keine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Dudgeon/GB v. 22.10.1981 = EuGRZ 1983, 488
Norris/IRL v. 26.10.1988 = EuGRZ 1992, 477 = ÖJZ 1989, 628
Laskey, Jaggard und Brown/GB v. 19.2.1997 = NL 1997, 47
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.4.2012, Bsw. 43547/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 119) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Stubing.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.