JudikaturAUSL EGMR

Bsw41723/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. April 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Gillberg gg. Schweden, Urteil vom 3.4.2012, Bsw. 41723/06.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK - Verweigerung der Offenlegung sensibler Forschungsdaten.

Feststellung, dass Art. 8 EMRK auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (einstimmig).

Feststellung, dass Art. 10 EMRK auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Göteborg. Zwischen 1977 und 1992 wurde unter seiner Leitung ein Forschungsprojekt zum Thema Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom bei Kindern durchgeführt. Die sogenannte Göteborg-Studie enthielt eine Vielzahl sensibler Daten über die an der Untersuchung teilnehmenden Kinder und ihre Angehörigen. Ihnen wurde seitens des Bf. zugesichert, die gesammelten Informationen absolut vertraulich zu behandeln.

Laut dem Bf. habe der Ethikrat der Universität Göteborg seine Zustimmung zu dem genannten Projekt von der Bedingung abhängig gemacht, dass sensible Informationen über die Studienteilnehmer nur ihm und seinen Mitarbeitern zugänglich gemacht würden, was ihn zu der Zusage absoluter Vertraulichkeit bewogen habe. In den vom Rat ausgestellten Genehmigungen ist jedoch von einer (absoluten) Geheimhaltung nirgends die Rede.

Im Februar 2002 beantragte Frau K., eine Soziologin an der Universität Lund, unter Berufung auf Abschnitt 14 § 9 Geheimhaltungsgesetz (Sekretesslagen) Zugang zum Forschungsmaterial des Bf. Sie hege kein Interesse an den persönlichen Daten der Studienteilnehmer, sondern lediglich dafür, welche Methoden bzw. Beweismaßstäbe von den Forschern angewendet worden wären. Im Juli bat auch der Kinderarzt E. um Einsicht in die Unterlagen.

Beide Anfragen wurden von der Universität Göteborg mit der Begründung abgelehnt, das Forschungsmaterial enthalte Angaben über den Gesundheitszustand der Teilnehmer, deren Offenlegung sie oder ihre Angehörigen in ihrer Privatsphäre beeinträchtigen könnte.

K. und E. legten gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Verwaltungsgericht ein. Letzteres befand in zwei separaten Urteilen vom 6.2.2003, dass beide ein legitimes Interesse am Forschungsmaterial hätten und ihnen ein fachgerechter Umgang mit vertraulichen Daten zugetraut werden könne. Es sei ihnen daher – vorbehaltlich der Stellung von Auflagen seitens der Universität Göteborg zum Schutz der Interessen der davon betroffenen Individuen – Zugang zu besagtem Material zu gewähren. Ein dagegen erhobenes Rechtsmittel des Bf. an das Oberste Verwaltungsgericht blieb erfolglos.

Im April 2003 wurde den beiden Forschern von der Universität Göteborg unter bestimmten Auflagen Zugang zu den Unterlagen gewährt. In der Folge forderte der Vizerektor den Bf. auf, den Genannten Einsicht in das Forschungsmaterial zu gewähren, die er jedoch verweigerte. Kurz darauf wurde es von drei Kollegen vernichtet.

In der Folge leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen den Bf. wegen des Verdachts des Amtsmissbrauchs ein. Am 27.6.2005 wurde er vom Bezirksgericht Göteborg der Begehung des genannten Delikts schuldig gesprochen und zu einer bedingten Haftstrafe sowie zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Der Bf. bringt vor, Art. 8 EMRK beinhalte auch ein Recht auf Nichtweitergabe vertraulicher Informationen, das angesichts seiner strafrechtlichen Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs verletzt worden sei. Art. 8 EMRK finde auf ihn Anwendung, da sein Ruf, sein Ansehen und seine Ehre beeinträchtigt worden seien und er persönlich, sozial, psychisch und wirtschaftlich gelitten habe.

Der Bf. war Wissenschaftler mit einem öffentlichen Forschungsauftrag, der amtliche Befugnisse in einer öffentlichen Institution – der Universität Göteborg – ausübte. Er vertrat daher nicht die Interessen der untersuchten Kinder bzw. die ihrer Eltern als von ihnen bestellter Arzt oder Psychiater. Zu prüfen ist, ob die strafrechtliche Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs einen Eingriff in sein »Privatleben« iSv. Art. 8 EMRK darstellte.

Zwar ist der Schutz der moralischen und psychischen Integrität ein bedeutender Aspekt von Art. 8 EMRK. Der GH will auch keineswegs abstreiten, dass mit einer strafrechtlichen Verurteilung ein Leid einhergehen kann. Es handelt sich dabei jedoch um vorhersehbare Konsequenzen der Begehung einer Straftat, die nicht als Basis für die Beschwerde dienen können, eine strafrechtliche Verurteilung würde bereits einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iSv. Art. 8 EMRK darstellen.

Im vorliegenden Fall war die strafrechtliche Verurteilung des Bf. nicht das Ergebnis einer unvorhersehbaren Anwendung der Strafgesetze und das in Frage stehende Delikt hatte keine offensichtlichen Auswirkungen auf sein Recht auf Achtung des Privatlebens, ging es doch um berufliche Handlungen bzw. Unterlassungen durch einen öffentlichen Amtsträger in Ausübung seiner Pflichten. Er selbst hat keinerlei konkrete Rückwirkungen auf sein Privatleben als direkte und kausale Folge seiner Verurteilung angeführt, sondern lediglich angegeben, sich in einem Dilemma befunden und sich letztlich dazu entschieden zu haben, den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts keine Folge zu leisten und eine Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs zu riskieren. Der GH ist der Ansicht, dass die Verurteilung des Bf. und das damit möglicherweise verbundene Leid somit vorhersehbare Folgen der strafrechtlichen Verurteilung waren.

Der Bf. bringt vor, dass seine Verurteilung seine Abberufung vom Norwegischen Institut für öffentliche Gesundheit zur Folge gehabt habe und er während der Zeit der Strafverfolgung mindestens fünf Bücher hätte schreiben können, wozu er jedoch nicht gekommen sei.

Wenn der Bf. damit eine Beeinträchtigung des Genusses seines »Privatlebens« aufgrund der Auswirkungen der strafrechtlichen Verurteilung auf sein Berufsleben anspricht, genügt hier der Hinweis, dass eine solche Form des wirtschaftlichen Leids vorhersehbare Folge der von ihm begangenen Straftat war, auf die Art. 8 EMRK keine Anwendung findet. Auf seine Stellung als Professor bzw. Vorstand am Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Göteborg hatte die Verurteilung jedenfalls keinen Einfluss. Der Bf. selbst gab an, zahlreiche namhafte Kollegen hätten sein Verhalten gebilligt bzw. es sogar gutgeheißen. Es bestehen somit keinerlei Anzeichen, dass die fragliche Verurteilung Auswirkungen auf das Berufsleben des Bf. hatte, die über die mit einer strafrechtlichen Verurteilung einhergehenden – vorhersehbaren – Konsequenzen hinausgingen. Art. 8 EMRK ist nicht anwendbar (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Der Bf. legt dar, ihm wäre gemäß Art. 10 EMRK ein negatives Recht auf Nichtweitergabe des umstrittenen Forschungsmaterials zugestanden. Er habe den Teilnehmern an der Studie die vertrauliche Behandlung ihrer Daten zugesichert. Seine Situation wäre mit der Verschwiegenheitspflicht von Rechtsanwälten vergleichbar.

Der GH weist darauf hin, dass seine Rechtsprechung zu einem von Art. 10 EMRK geschützten »negativen« Recht auf freie Meinungsäußerung spärlich ist. Er will aber nicht ausschließen, dass diese Bestimmung unter besonderen Umständen ein derartiges Recht umfasst.

Im gegenständlichen Fall führte die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Göteborg ein Forschungsprojekt durch, für das der Bf. die Hauptverantwortung trug. Das dort verwahrte Material gehörte der Universität. Es handelte sich dabei um öffentliche Dokumente, die gemäß dem »Gesetz über die Freiheit der Presse« bzw. dem »Verschwiegenheitsgesetz« dem Prinzip des öffentlichen Zugangs unterlagen. Die einschlägigen Bestimmungen sahen vor, dass über eine vertrauliche Behandlung nicht entschieden werden konnte, solange kein Ansuchen um Einsichtnahme gestellt worden war, und dass es einer öffentlichen Stelle im Vorhinein nicht gestattet war, mit einem Dritten in Verhandlungen zu treten und gewisse offizielle Dokumente von dem Recht auf öffentlichen Zugang auszunehmen. Dennoch versicherte der Bf. den Eltern der an der Studie teilnehmenden Kinder, dass alle Daten vertraulich behandelt und als geheim eingestuft würden und dass nur er und seine Mitarbeiter Zugriff auf diese haben würden.

Im vorliegenden Fall hielten die Verwaltungsgerichte fest, dass die Zusagen, welche der Bf. den Studienteilnehmern gab, in mancherlei Hinsicht über die Vorgaben des »Verschwiegenheitsgesetzes« hinausgegangen wären, ihnen aber kraft Vorrang des besagten Gesetzes keine Rechtsverbindlichkeit zugekommen wäre. Im Übrigen legten sie in einer für die Strafgerichte bindenden Weise fest, ob und unter welchen Umständen die Dokumente an die beiden Forscher ausgehändigt werden konnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass internationale Deklarationen des Weltärztebundes zu ethischen Grundsätzen, auf die sich auch der Bf. berief, nicht Vorrang vor schwedischem Recht hätten. Der GH erinnert daran, dass Letzterer von den Studienteilnehmern bzw. ihren Eltern nicht zum Bevollmächtigten bestellt worden war. Er war folglich nicht an das Berufsgeheimnis als ihr Arzt oder Psychiater bzw. kraft der »Deklaration von Helsinki«(Anm: In ihr sind ethische Richtlinien für die medizinische Forschung am Menschen festgelegt.) gebunden. Die Gerichte verwarfen auch dessen Behauptung, der Ethikrat der Universität Göteborg habe die Genehmigung des Forschungsprojekts von der Zusage absoluter Vertraulichkeit abhängig gemacht.

Der Bf. wäre somit nicht an der Befolgung der relevanten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte wegen Bestehens einer gesetzlich festgelegten Verschwiegenheitspflicht oder aufgrund einer Weisung seines öffentlichen Arbeitgebers gehindert gewesen. Seine Weigerung, Einsicht in das Forschungsmaterial zu gewähren, beruhte vielmehr auf seiner persönlichen Überzeugung, die Ansicht der Verwaltungsgerichte zu dieser Problematik müsse aus verschiedenen Gründen falsch sein.

Es stellt sich somit die Frage, ob dem Bf. in seiner Eigenschaft als öffentlich Bediensteter ein unabhängiges – negatives – Recht iSv. Art. 10 EMRK zustand, das Forschungsmaterial nicht auszuhändigen, obwohl es ihm nicht gehörte, sondern seinem Arbeitgeber, der Universität Göteborg, und ungeachtet der Tatsache, dass diese beabsichtigte, den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts, K. und E. Zugang zum Material unter bestimmten Auflagen zu gewähren, Folge zu leisten.

Der GH ist der Ansicht, dass die Einräumung eines solchen Rechts den Eigentumsrechten der Universität Göteborg zuwidergelaufen wäre und sich auch negativ auf die Rechte von K. und E. sowohl unter Art. 10 EMRK, Informationen in der Form des Zugangs zu öffentlichen Dokumenten zu empfangen, als auch auf ihre Rechte nach Art. 6 EMRK auf Vollzug der rechtskräftigen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts ausgewirkt hätte. Er vermag daher die Meinung des Bf. nicht zu teilen.

Der Bf. brachte auch vor, seine Situation sei vergleichbar mit jener von Journalisten, was den Schutz ihrer Quellen angehe. Dazu ist zu sagen, dass die einschlägige Rechtsprechung zu diesem Thema das positive Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung von Journalisten betrifft. Außerdem gehören von Journalisten verbreitete Informationen im Allgemeinem ihnen selbst oder den Medien, wohingegen das umstrittene Forschungsmaterial der Universität Göteborg, also der öffentlichen Hand, gehörte. Es unterlag somit als solches dem Prinzip des öffentlichen Zugangs zu amtlichen Dokumenten unter dem »Gesetz über die Freiheit der Presse« bzw. dem »Verschwiegenheitsgesetz«, die beide zum freien Austausch von Meinungen und Ideen sowie zur effizienten und korrekten Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten beitragen. Die Weigerung des Bf., den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Folge zu leisten und den beiden Forschern Zugang zum Forschungsmaterial zu gewähren, verhinderte den freien Meinungsaustausch über die gegenständliche Studie, vor allem was das angelegte wissenschaftliche Beweismaß und die Methoden anbelangt, die im Fokus des Interesses von K. und E. standen. Unter diesen Umständen ist ein Vergleich der Situation des Bf. mit jener von Journalisten nicht angebracht.

Zum von ihm herangezogenen Vergleich mit der Verschwiegenheitspflicht von Anwälten gegenüber ihren Klienten ist zu sagen, dass er selbst keiner beruflichen Schweigepflicht gegenüber den Studienteilnehmern unterlag, war er doch von diesen nicht zum Bevollmächtigten bestellt worden. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte, dass es bei ihm – vergleichbar mit dem Fall Niemietz/D – Rückwirkungen auf andere Verfahren gegeben hätte, wenn er den Urteilen des Verwaltungsgerichts Folge geleistet hätte. Die Situation des Bf. ist daher auch nicht mit jener von Rechtsanwälten vergleichbar.

Der GH stellt somit abschließend fest, dass die Rechte des Bf. unter Art. 10 EMRK nicht berührt wurden. Diese Bestimmung ist folglich auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar (einstimmig).

Anmerkung

Die III. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 2.11.2010 (NL 2010, 345) eine Verletzung von Art. 8 EMRK und von Art. 10 EMRK verneint (5:2 Stimmen bzw. einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Ezelin/F v. 26.4.1991

Niemietz/D v. 16.12.1992 = NL 1993/1, 17 = EuGRZ 1993, 65 = ÖJZ 1993, 389

Laskey, Jaggard und Brown/GB v. 19.2.1997 = NL 1997, 47

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.4.2012, Bsw. 41723/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 100) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Gillberg.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise