JudikaturAUSL EGMR

Bsw28790/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. April 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Francesco Sessa gg. Italien, Urteil vom 3.4.2012, Bsw. 28790/08.

Spruch

Art. 9 EMRK - Weigerung der Gerichte, eine auf einen jüdischen Feiertag fallende Gerichtsverhandlung zu vertagen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 9 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist jüdischen Bekenntnisses und von Beruf Rechtsanwalt. In seiner Eigenschaft als Rechtsvertreter eines Privatbeteiligten in einem Strafverfahren nahm er an einer Augenscheinsverhandlung vor dem Untersuchungsrichter von Forli teil. Da Letzterer jedoch verhindert war, musste die Verhandlung vertagt werden. Sein Stellvertreter forderte die Parteienvertreter in der Folge auf, aus zwei im Kalender des Untersuchungsrichters als noch frei vermerkten Terminen zu wählen. Der Bf. wies darauf hin, dass beide Termine, namentlich der 13.10. und der 18.10.2005, auf jüdische Feiertage – nämlich Jom Kippur und Sukkot – fallen würden und es ihm somit aufgrund religiöser Verpflichtungen unmöglich sei, zu diesen Terminen vor Gericht zu erscheinen. Ungeachtet dessen setzte der stv. Untersuchungsrichter den Termin auf den 13.10. fest.

Am 7.6.2005 stellte der Bf. an den Untersuchungsrichter den Antrag, die Verhandlung zu vertagen, was dieser jedoch ablehnte. Bei der Verhandlung am 13.10.2005 vermerkte der Untersuchungsrichter die Abwesenheit des Bf. aus »persönlichen Gründen« und ersuchte daraufhin die Parteien, sich zu dessen Antrag vom 7.6.2005 zu äußern. Die Staatsanwaltschaft und die Rechtsvertreter der Beschuldigten sprachen sich gegen eine Vertagung aus, während der Anwalt der zweiten privatbeteiligten Partei das Anliegen des Bf. unterstützte.

Mit Beschluss vom selben Tag wies der Untersuchungsrichter den Vertagungsantrag des Bf. ab. Begründend führte er aus, gemäß § 401 der italienischen StPO sei bei Verhandlungen zur Erörterung unmittelbarer Beweise nur die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft und des Rechtsvertreters des Beschuldigten erforderlich, während hingegen jene des Klagsvertreters fakultativ sei. Im Übrigen sehe die italienische StPO keine Verpflichtung für einen Richter vor, die Verhandlung im Fall eines legitimen Verhinderungsgrunds seitens des Anwalts des Klägers vertagen zu müssen. Angesichts der großen Zahl der am Verfahren beteiligten Personen und mit Rücksicht auf die Arbeitsbelastung des Gerichts hätte die Verhandlung erst für 2006 anberaumt werden können, was letztlich mit dem Prinzip einer angemessenen Verfahrensdauer unvereinbar gewesen wäre.

Am 15.2.2008 entschied der Untersuchungsrichter von Ancona über eine vom Bf. mittlerweile eingebrachte Strafanzeige gegen den Untersuchungsrichter von Forli und seinen Stellvertreter wegen Verletzung von Art. 2 des Gesetzes Nr. 101 vom 8.3.1989.(Anm: Diese Bestimmung gewährleistet das Recht auf freie Manifestation bzw. Ausübung der jüdischen Religion. Personen, die gegenüber diesem Recht Intoleranz oder religiöse Voreingenommenheit walten lassen, sind strafrechtlich zu verfolgen.) Er stellte das Strafverfahren ein, da nicht erwiesen sei, dass die beiden Richter beabsichtigt hätten, den Bf. in seinem Recht auf freie Äußerung seines jüdischen Glaubens oder wegen seines religiösen Bekenntnisses in seiner Würde zu verletzen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit), da er aufgrund der Weigerung der Gerichte, die auf einen jüdischen Feiertag angesetzte Verhandlung zu vertagen, gehindert gewesen sei, seine Religion frei und ungehindert zu bekennen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

Zur Zulässigkeit

Die Regierung wendet die verspätete Einbringung der Beschwerde ein. Der Bf. hätte nämlich Beschwerde innerhalb von sechs Monaten nach dem Beschluss des Untersuchungsrichters vom 13.10.2005 erheben sollen.

Im vorliegenden Fall wirft der Bf. dem Untersuchungsrichter und seinem Stellvertreter vor, ihre Funktionen entgegen den einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 101 vom 8.3.1989 mit einer gewissen religiösen Intoleranz wahrgenommen zu haben. Der GH ist der Auffassung, dass die Regierung dem Bf. daher nicht vorwerfen kann, sich mit einer Strafanzeige an die Strafgerichte gewendet zu haben, um Abhilfe für die von ihm behaupteten Verletzungen zu erlangen, und er den Ausgang des Strafverfahrens abgewartet hat. Als letzte endgültige innerstaatliche Entscheidung iSv. Art. 35 Abs. 1 EMRK ist daher der Einstellungsbeschluss des Untersuchungsrichters von Ancona vom 15.2.2008 anzusehen. Die Einrede der Regierung ist somit zurückzuweisen.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Der GH ist angesichts der Umstände des vorliegenden Falls nicht davon überzeugt, dass das Ansetzen der strittigen Verhandlung an einem jüdischen Feiertag – ebenso wie die Weigerung, sie auf ein anderes Datum zu verlegen – als Einschränkung des Rechts des Bf. auf freie Manifestation seines Glaubens angesehen werden kann. Zum einen ist zwischen den Parteien unstrittig, dass der Bf. seinen religiösen Verpflichtungen nachkommen konnte, zum anderen hätte er mit der Ablehnung seines Antrags angesichts der einschlägigen Gesetzeslage rechnen müssen. Es wäre ihm durchaus offen gestanden, sich bei der Verhandlung vertreten zu lassen, um seinen beruflichen Verpflichtungen nachkommen zu können.

Der Bf. hat auch nicht dargelegt, es wäre auf ihn Druck dahingehend ausgeübt worden, seine religiösen Überzeugungen zu ändern oder man hätte ihn daran gehindert, seine Religion oder Überzeugungen zu bekunden.

Aber auch gesetzt den Fall, es wäre tatsächlich ein Eingriff in die von Art. 9 EMRK geschützten Rechte des Bf. erfolgt, war dieser gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – insbesondere dem Recht der Öffentlichkeit auf eine ordnungsgemäß funktionierende Gerichtsverwaltung – und aus Sicht des Prinzips der Abwicklung von Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist gerechtfertigt. Der Eingriff war letztlich auch angemessen, was das verfolgte Ziel und die dazu verwendeten Mittel anlangt. Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen Tulkens und Keller und des Richters Popovic).

Zu den weiteren gerügten Konventionsverletzungen

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), da ihn die Einstellung des Strafverfahrens einer effektiven Entscheidung seitens der Justiz beraubt habe. Er sieht sich in diesem Zusammenhang auch als Opfer einer diskriminierenden Behandlung iSv. Art. 14 EMRK.

Das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf iSv. Art. 13 EMRK kann nicht derart ausgelegt werden, dass jemand Anspruch auf eine »wunschgerechte« Entscheidung über einen Antrag hat. Der GH kann keinerlei Hinweise erkennen, welche die Effektivität des vom Bf. beschrittenen Strafrechtswegs in Zweifel ziehen könnten. Was Art. 14 EMRK anlangt, hat dieser nicht erfolgreich dargelegt, im Verhältnis zu in einer vergleichbaren Situation befindlichen Person diskriminiert worden zu sein.

Diese Beschwerdepunkte sind folglich als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Knudsen/N v. 8.3.1985 (ZE)

Konttinen/FIN v. 3.12.1996 (ZE)

Stedman/GB v. 9.4.1997 (ZE)

Kalac/TR v. 1.7.1997 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.4.2012, Bsw. 28790/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 108) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Francesco Sessa.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise