JudikaturAUSL EGMR

Bsw39692/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. März 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Austin u.a. gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 15.3.2012, Bsw. 39692/09, Bsw. 40713/09 und Bsw. 41008/09.

Spruch

Art. 5 EMRK - Einkesselung von Demonstranten durch Polizeikordon.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 EMRK (14:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vier Bf. wurden am 1.5.2001 im Zuge einer Demonstration im Zentrum von London durch einen Polizeikordon daran gehindert, den Oxford Circus (die Kreuzung zwischen Regent Street und Oxford Street) zu verlassen.

Während die ErstBf. an der Demonstration teilnahm, handelte es sich bei den übrigen drei Bf. um Passanten, die sich nur zufällig auf dem Platz befanden. Die vier Bf. wurden von circa 14:00 Uhr bis 21:30 Uhr bzw. bis 20:00 Uhr daran gehindert, den Platz zu verlassen.

Aufgrund der von rund 150 am Oxford Circus festgehaltenen Personen erhobenen Beschwerden wurde ein Musterverfahren anhand der ErstBf. und einer weiteren Person durchgeführt, die als unbeteiligter Passant in den Polizeikordon geraten war.

Der High Court ging in seinem Urteil vom 23.3.2005 nach ausführlichen Beweisaufnahmen von folgendem Sachverhalt aus: Die Polizei hatte sich aufgrund früherer Ereignisse bei Kundgebungen sowie der ihr vorliegenden Informationen auf gewaltsame Ausschreitungen in London vorbereitet. Sie ging davon aus, dass sich am 1.5.2001 um 16:00 Uhr eine große Zahl von Demonstranten am Oxford Circus versammeln würde. Die Organisatoren dieser Kundgebung hatten sich nicht um eine Genehmigung bemüht und keinen Kontakt zu den Behörden gesucht. Die Polizei nahm an, dass sich 500 bis 1.000 gewaltbereite Personen unter den Demonstranten befinden würden. Daher wurde der Einsatz von 6.000 Polizisten geplant. Gegen 14:00 Uhr befanden sich rund 1.500 Personen am Oxford Circus. Aus verschiedenen Richtungen näherten sich weitere Protestzüge, deren Teilnehmer zum Teil vermummt waren. Die Polizei beschloss daher um 14:00 Uhr, den Platz abzuriegeln. Im Lauf des Nachmittags und Abends unternahm die Polizei immer wieder Versuche, den Kordon zu öffnen. Diese scheiterten jedoch daran, dass es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Absperrung zu Gewalttaten seitens der Demonstranten kam. Dennoch konnten im Lauf des Tages 392 Personen einzeln den Platz verlassen. Um 20:00 Uhr konnte schließlich ein kontrollierter Abgang der festgehaltenen Personen begonnen werden, der bis rund 21:45 Uhr abgeschlossen war.

Der High Court kam zum Ergebnis, dass die Anhaltung durch den Polizeikordon eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 EMRK darstellte. Diese wäre aber nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK rechtmäßig gewesen, weil sie dazu gedient hätte, jene Personen festzunehmen, bei denen ein hinreichender Verdacht bestand, sie hätten eine Straftat begangen oder deren Festnahme zur Verhinderung einer Straftat notwendig war. Die Polizei sei zu Recht von einer bestehenden Gefahr für Eigentum, Gesundheit und sogar Leben ausgegangen und hätte keine anderen Handlungsmöglichkeiten gehabt.

Der Court of Appeal wies die gegen dieses Urteil erhobene Berufung am 15.10.2007 ab. Anders als der High Court verneinte er schon das Vorliegen einer Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 EMRK.

Das House of Lords bestätigte die Rechtsansicht des Court of Appeal am 28.1.2009. Art. 5 EMRK sei nicht anwendbar, da keine Freiheitsentziehung erfolgt sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit). Sie bringen vor, ihre Anhaltung innerhalb des Polizeikordons habe eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 EMRK dargestellt, die nach keinem der in Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK genannten Gründe gerechtfertigt gewesen sei.

Zulässigkeit

Die Frage, ob den Bf. ihre Freiheit entzogen wurde und Art. 5 Abs. 1 EMRK damit anwendbar ist, steht in engem Zusammenhang mit der Entscheidung in der Sache und wird daher mit dieser verbunden. Da die Beschwerde aus keinem anderen Grund unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Allgemeine Grundsätze

Der GH beschäftigt sich in diesem Fall erstmals mit der Anwendung von Art. 5 Abs. 1 EMRK auf die Einkesselung einer Gruppe von Menschen durch die Polizei aus Gründen der öffentlichen Ordnung. Bei der Auslegung von Art. 5 Abs. 1 EMRK unter diesen Umständen wird sich der GH an folgenden Grundsätzen orientieren:

Der GH erinnert daran, dass Art. 2 4. Prot. EMRK ein Recht auf Freizügigkeit garantiert. Die Bf. haben sich nicht auf diese Bestimmung gestützt, weil das Vereinigte Königreich das 4. Protokoll nicht ratifiziert hat. Angesichts der Bedeutung von Art. 5 EMRK und Art. 2 4. Prot. EMRK ist es dennoch hilfreich, folgende Überlegungen anzustellen: Erstens sollte Art. 5 EMRK grundsätzlich nicht so ausgelegt werden, als würde er die Anforderungen des 4. Protokolls in Hinblick auf Staaten enthalten, die dieses – wie das Vereinigte Königreich – nicht ratifiziert haben. Zugleich erlaubt Art. 2 Abs. 3 4. Prot. EMRK Einschränkungen der Freizügigkeit, die unter anderem zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendig sind. Unter bestimmten Umständen können die Behörden auch positive Verpflichtungen treffen, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um Personen vor Straftaten zu schützen.

Der Polizei muss bei operativen Entscheidungen ein gewisses Ermessen eingeräumt werden. Solche Entscheidungen sind fast immer komplex und die Polizei, die Zugang zu Informationen hat, die der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung stehen, wird gewöhnlich am besten in der Lage sein, diese zu treffen. Schon 2001 war es außerdem dank der Fortschritte in der Telekommunikation möglich, in einem bis dahin unbekannten Ausmaß Demonstranten rasch und im Verborgenen zu mobilisieren. Polizeikräfte in den Mitgliedstaaten stehen vor neuen, bei der Formulierung der Konvention vielleicht nicht vorhergesehenen Herausforderungen und haben zu deren Bewältigung neue Techniken entwickelt, einschließlich der Einkesselung. Art. 5 EMRK kann nicht so ausgelegt werden, dass es der Polizei praktisch unmöglich gemacht wird, ihre Pflichten zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Öffentlichkeit zu erfüllen, vorausgesetzt sie befolgen das dem Art. 5 EMRK zugrunde liegende Prinzip des Schutzes des Einzelnen vor Willkür.

Art. 5 Abs. 1 EMRK bezieht sich nicht auf bloße Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die von Art. 2 4. Prot. EMRK geregelt werden. Ausgangspunkt der Feststellung, ob jemandem iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK »die Freiheit entzogen« wurde, muss seine konkrete Situation sein. Dabei ist eine Reihe von Kriterien zu berücksichtigen, wie Art, Dauer, Wirkungen und Modalitäten der Durchführung der Maßnahme. Der Unterschied zwischen Entziehung und Beschränkung der Freiheit ist einer des Grades oder der Intensität und nicht einer der Art oder Natur.

Aus der Rechtsprechung des GH geht klar hervor, dass die im öffentlichen Interesse liegenden Motive, etwa der Schutz der Gemeinschaft vor der von einer Person ausgehenden Gefahr, keine Rolle spielt für die Frage, ob dieser Person die Freiheit entzogen wurde. Das Motiv kann jedoch relevant sein für die anschließende Prüfung, ob die Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK gerechtfertigt war.

Die Notwendigkeit, die Art der Maßnahme und die Modalitäten ihrer Durchführung zu berücksichtigen, erlaubt dem GH, auf den spezifischen Kontext und die Umstände von Freiheitsbeschränkungen einzugehen, die nicht in der Anhaltung in einer Zelle bestehen. Der Kontext, in dem gehandelt wird, ist ein wichtiger zu beachtender Faktor, da in der modernen Gesellschaft häufig Situationen auftreten, in denen die Öffentlichkeit aufgefordert sein kann, im Interesse des Gemeinwohls Einschränkungen der Freizügigkeit oder der persönlichen Freiheit zu erdulden. Solche vorübergehenden Einschränkungen werden in bestimmten Kontexten im Allgemeinen akzeptiert, wie bei Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, nach Unfällen auf der Autobahn oder in Fußballstadien. Solche häufig vorkommenden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit stellen nach Ansicht des GH keine Entziehung der persönlichen Freiheit iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK dar, solange sie aufgrund von außerhalb der Kontrolle der Behörden liegenden Umständen unvermeidbar und notwendig zur Verhütung einer realen Gefahr ernster Verletzungen oder Schäden sind und sich auf das für diesen Zweck notwendige Minimum beschränken.

Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Obwohl der GH nicht an die Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte gebunden ist, erfordert es in der Regel zwingende Elemente, um von diesen abzugehen. Ihre rechtlichen Schlussfolgerungen darüber, ob eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK stattgefunden hat, binden den GH hingegen nicht.

Wie der Richter des High Court feststellte, entschied die Polizei am 1.5.2001 aufgrund der ihr vorliegenden Informationen und des Verhaltens der Menge bei früheren Demonstrationen zu ähnlichen Themen, dass um 14:00 Uhr eine völlige Einkesselung stattfinden musste, um Gewalt, die Verletzung von Personen und Sachbeschädigungen zu verhindern. Ab 14:20 Uhr durfte niemand aus der Menge den Platz ohne Erlaubnis verlassen. Innerhalb des Kordons war Platz um herumzugehen, aber die Verhältnisse wurden ungemütlich, weil es weder Unterstände noch Wasser, Nahrung oder Toiletten gab. Während des Nachmittags und Abends wurde versucht, die Menschenmenge kollektiv zu entlassen, doch verschob die Polizei die Aufhebung des Kordons immer wieder aufgrund des gewalttätigen und unkooperativen Verhaltens einer Minderheit sowohl innerhalb der Absperrung als auch in der Umgebung. Die vollständige Auflösung konnte daher nicht vor 21:30 Uhr abgeschlossen werden. Dennoch gestattete es die Polizei etwa 400 Personen den Platz zu verlassen, die eindeutig nicht an den Demonstrationen beteiligt waren oder die durch die Anhaltung ernsthaft beeinträchtigt wurden, wie Schwangere, ältere Personen oder Kinder. Der GH sieht keinen Anlass, an diesen Feststellungen zu zweifeln. Die ErstBf., der ZweitBf. und die DrittBf. wurden rund sieben Stunden innerhalb der Polizeiabsperrung angehalten, der ViertBf. rund fünfeinhalb Stunden.

Der GH muss die konkrete Situation der Bf. anhand der in Engel u.a./NL und der folgenden Rechtsprechung entwickelten Kriterien prüfen. Zwar bestand ein Unterschied zwischen der ErstBf., die sich als Demonstrantin am Oxford Circus befand, und den übrigen Bf., die zufällig vorbeikamen, doch ist dieser Unterschied nicht relevant für die Frage, ob eine Freiheitsentziehung vorlag.

Die zwingende Natur der Festhaltung innerhalb des Polizeikordons, ihre Dauer und ihre Auswirkungen auf die Bf. in Hinblick auf körperliches Unbehagen und die Unfähigkeit, den Oxford Circus zu verlassen, deuten auf eine Freiheitsentziehung hin.

Der GH muss jedoch auch die Art und die Modalitäten der Durchführung der umstrittenen Maßnahme berücksichtigen. Wie bereits dargelegt wurde, ist der Kontext von Bedeutung, in dem die Maßnahme gesetzt wurde.

Es ist daher wichtig festzustellen, dass die Maßnahme gesetzt wurde, um eine große Menschenmenge unter unbeständigen und gefährlichen Umständen zu isolieren und festzuhalten. Der High Court stellte fest, dass die Polizei angesichts der Situation am Oxford Circus keine andere Möglichkeit hatte, als einen undurchlässigen Kordon zu bilden, um ein reales Risiko ernster Verletzungen oder Sachbeschädigungen zu verhüten. Es gibt keinen Grund, von der Feststellung des High Court abzugehen, dass unter diesen Umständen die Einkesselung das am wenigsten schwerwiegende und das effektivste Mittel war. Tatsächlich behaupten die Bf. gar nicht, dass die sich innerhalb des Kordons befindenden Personen von Beginn an ihrer Freiheit beraubt wurden.

Der GH ist nicht fähig, einen Moment festzustellen, in dem sich die Maßnahme von etwas, das höchstens eine Einschränkung der Freizügigkeit war, in eine Freiheitsentziehung verwandelte. Etwa fünf Minuten nach der Verhängung des Kordons plante die Polizei den Beginn einer kontrollierten Freilassung. Dreißig Minuten später wurde ein weiterer Versuch unternommen, der jedoch wegen Gewalttätigkeiten ausgesetzt werden musste. Zwischen 15:00 und 18:00 Uhr prüfte die Polizei weiterhin die Situation, doch wurde eine Freilassung der Personen innerhalb der Absperrung als zu unsicher erachtet, weil eine neue Gruppe von Demonstranten eingetroffen und die Verhältnisse in den Menschenmengen gefährlich waren. Ab 18:00 Uhr wurden die Menschen mit Unterbrechungen aus der Absperrung freigelassen, was bis 21:45 Uhr abgeschlossen war. Jene Bedingungen, die um 14:00 Uhr die polizeiliche Einkesselung der Menge erforderten, bestanden damit nach den Feststellungen des High Court bis rund 20:00 Uhr weiter, als die kollektive Freilassung schließlich ohne Unterbrechungen fortgesetzt werden konnte. Da die Polizei die Situation ständig überprüfte, dieselben gefährlichen Verhältnisse, die die Einkesselung notwendig gemacht hatten, aber im Wesentlichen bis in den frühen Abend hinein weiter bestanden, wurde den Personen innerhalb der Absperrung unter diesen Umständen nach Ansicht des GH nicht iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK die Freiheit entzogen. Da es keine Freiheitsentziehung gab, ist es nicht notwendig zu prüfen, ob die umstrittene Maßnahme nach Art. 5 Abs. 1 lit. a bis lit. f EMRK gerechtfertigt war.

Da die Bestimmung nicht anwendbar ist, hat keine Verletzung von Art. 5 EMRK stattgefunden (14:3 Stimmen; Sondervotum von Richterin Tulkens, Richter Spielmann und Richter Garlicki).

Vom GH zitierte Judikatur:

Engel u.a./NL v. 8.6.1976 = EuGRZ 1976, 221

Storck/D v. 16.6.2005 = NL 2005, 134 = EuGRZ 2008, 582

Saadi/GB v. 29.1.2008 (GK) = NL 2008, 18

P. F. und E. F./GB v. 23.11.2010 (ZE)

Giuliani und Giaggio/I v. 24.3.2011 (GK) = NL 2011, 85

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.3.2012, Bsw. 39692/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 80) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_2/Austin u.a..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise