JudikaturAUSL EGMR

Bsw27765/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Februar 2012

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Hirsi Jamaa gg. Österreich, Urteil vom 23.2.2012, Bsw. 27765/09.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 4 4. Prot. EMRK - Kollektivausweisung von Bootsflüchtlingen nach Libyen.

Streichung der Beschwerde aus der Liste hinsichtlich Herrn Mohamed Abukar Mohamed und Herrn Hasan Shariff Abbirahman (13:4 Stimmen).

Keine Streichung der Beschwerde aus der Liste hinsichtlich der übrigen Bf. (einstimmig).

Feststellung, dass die Bf. der italienischen Jurisdiktion iSv. Art. 1 EMRK unterlagen (einstimmig).

Verbindung der Einreden der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs und der fehlenden Opfereigenschaft der Bf. mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerden unter Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Gefahr einer Misshandlung der Bf. in Libyen und Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der fehlenden Opfereigenschaft der Bf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Gefahr einer Rückführung der Bf. nach Somalia und Eritrea (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 4 4. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK und Art. 4 4. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK und Art. 13 EMRK iVm. Art. 4 4. Prot. EMRK und Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,- an jeden der Bf. für immateriellen Schaden, € 1.575,74 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um 24 Staatsangehörige von Somalia bzw. Eritrea. Sie waren Teil einer Gruppe von etwa 200 Leuten, die Libyen mit drei Booten in Richtung Italien verließen. Am 6.5.2009 wurden sie 35 Seemeilen vor Lampedusa von der italienischen Küstenwache aufgegriffen. Man überstellte sie auf ein Kriegsschiff, das sie nach Tripolis zurückbrachte. Laut den Bf. informierte die Besatzung sie weder über das Ziel ihrer Reise noch unternahm es Schritte zur Feststellung ihrer Identität.

Im Zuge einer am nächsten Tag abgehaltenen Pressekonferenz hielt der italienische Innenminister fest, dass das Abfangen der Boote und die Rückführung der Einwanderer nach Tripolis in Übereinstimmung mit einem mit Libyen am 4.2.2009 abgeschlossenen bilateralen Abkommen erfolgt sei, das einen bedeutenden Wendepunkt im Kampf gegen illegale Einwanderung darstelle.

Was das weitere Schicksal der Bf. betrifft, starben laut Auskunft ihrer Rechtsvertreter zwei von ihnen unter ungeklärten Umständen. 14 Bf. wurde vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge zwischen Juni und Oktober 2009 Flüchtlingsstatus eingeräumt. Im Zuge der im Februar 2011 in Libyen ausgebrochenen Revolution verschlechterte sich der Kontakt zwischen den Bf. und ihren Rechtsvertretern. Kontakt besteht derzeit zu sechs Bf., die sich in verschiedenen Staaten aufhalten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung), Art. 4 4. Prot. EMRK (Verbot der Kollektivausweisung ausländischer Personen) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zu den von der Regierung aufgeworfenen Vorfragen

Gültigkeit der Vollmacht und Streichung des Falls

Die Regierung zweifelt die Gültigkeit der von den Rechtsvertretern der Bf. vorgelegten Vollmachten an. So lägen keine detaillierten Angaben zu Datum und Ort der Unterzeichnung vor, ferner würde die Identität der Bf. nur durch den Namen bzw. die Nationalität, eine unleserliche Unterschrift und teilweise unvollständige Fingerabdrücke angegeben. Auch Details zum Geburtsdatum fehlten. Ferner hege sie Zweifel, was die Qualität des Kontakts zwischen den Bf. und ihren Rechtsvertretern anbelange. Angesichts des Umstands, dass eine Identifikation der Bf. somit unmöglich sei und sie zudem am Verfahren nicht persönlich teilnehmen würden, möge der GH von einer Untersuchung des Falls absehen und ihn von der Liste streichen.

Der GH hält fest, dass gemäß Art. 45 Abs. 3 VerfO der oder die Vertreter des Bf. eine Prozessvollmacht oder eine schriftliche Vollmacht vorlegen müssen. Weder die Konvention noch die VerfO sehen spezielle Anforderungen für die Gestaltung der Vollmacht vor. Für den GH ist nur entscheidend, dass die Bevollmächtigung unmissverständlich Auskunft darüber gibt, dass der Bf. seine Vertretung in Straßburg einer Vertrauensperson übertragen und dass diese ihre Beauftragung akzeptiert hat.

Im vorliegenden Fall sind die Prozessvollmachten alle unterzeichnet und mit Fingerabdrücken versehen. Darüber hinaus haben die Anwälte der Bf. detaillierte Informationen hinsichtlich der Lebensumstände jener Bf. geliefert, mit denen die Aufrechterhaltung von Kontakten möglich war. Nichts deutet auf Unregelmäßigkeiten in ihren Stellungnahmen bzw. im Informationsaustausch mit dem GH hin. Unter diesen Umständen hegt er keinen Zweifel an der Gültigkeit der Vollmachten. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Laut den Informationen der Anwälte starben zwei Bf. kurz nach Einbringung ihrer Beschwerde. Der GH hält eine weitere Prüfung dieser Beschwerden für nicht gerechtfertigt iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK. Da zudem ihre Beschwerden mit jenen der anderen Bf. identisch sind, sieht er auch keinen Grund zur Fortsetzung einer Prüfung aus Gründen der Achtung der Menschenrechte (vgl. Art. 37 Abs. 1 EMRK in fine). Die beiden Beschwerden werden daher von der Liste gestrichen (13:4 Stimmen) und die Fortsetzung der Prüfung der Beschwerden der übrigen Bf. beschlossen (einstimmig).

Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs

Die Regierung bringt vor, die Bf. hätten es verabsäumt, sich nach ihrer Ankunft in Libyen an die italienischen Gerichte zwecks Feststellung der und Entschädigung für die behaupteten Konventionsverletzungen zu wenden.

Die Bf. haben sich auch darüber beklagt, dass ihnen kein dem Art. 13 EMRK genügendes Rechtsmittel zur Verfügung gestanden wäre. Der GH entscheidet daher, den Einwand der Regierung im Zuge der meritorischen Prüfung von Art. 13 EMRK zu behandeln.

Zur Frage der Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK

Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass die Schiffe der Küstenwache bzw. der Marine die italienische Flagge führten. Gemäß den einschlägigen Bestimmungen des internationalen Seerechts unterliegt ein auf hoher See fahrendes Schiff der ausschließlichen Hoheitsgewalt des Flaggenstaats. Dieses Prinzip wird von der italienischen Regierung auch nicht in Abrede gestellt. Es liegt somit ein Fall der extraterritorialen Ausübung von Hoheitsgewalt durch Italien vor, welche eine Verantwortung dieses Staats nach der Konvention nach sich zieht.

Der GH vermag sich dem Vorbringen der Regierung nicht anzuschließen, es habe sich hier lediglich um eine Rettungsoperation gehandelt und sie trage für das Schicksal der Bf. keine Verantwortung, sei doch von Seiten der Besatzung nur eine minimale Kontrolle über sie ausgeübt worden. Mit Rücksicht auf seine Schlussfolgerungen im Fall Medvedyev u.a./F ist festzuhalten, dass die Bf. vom Zeitpunkt ihrer Übernahme durch ein italienisches Kriegsschiff bis zu ihrer Übergabe an die libyschen Behörden de jure und de facto der anhaltenden und ausschließlichen Kontrolle durch die italienischen Behörden unterlagen. Die gegenständlichen Ereignisse fallen daher in die Hoheitsgewalt Italiens (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die Bf. behaupten, sie seien aufgrund ihrer Rückführung in Libyen sowie in ihren Heimatstaaten Eritrea und Somalia dem Risiko von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt gewesen.

Zum Risiko einer Misshandlung in Libyen

Dieser Beschwerdepunkt wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, die eine meritorische Prüfung erfordern. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zahlreiche Berichte von internationalen Gremien bzw. NGO’s vermitteln ein beunruhigendes Bild über die Behandlung, die heimlichen Einwanderern in Libyen zuteil wird. Ein Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarats vom 28.4.2010 bestätigt dies. Die Situation in Libyen verschärfte sich zudem nach der im April 2010 erfolgten Schließung des UNHCR-Büros und nach dem Ausbruch der Revolution im Februar 2011. Der GH wird sich dennoch auf eine Prüfung des Falls zum Zeitpunkt der beschwerderelevanten Ereignisse beschränken.

Laut den oben zitierten Berichten wurden zu dem besagten Zeitpunkt von Libyen keinerlei Regeln betreffend den Schutz von Flüchtlingen eingehalten. Ein Unterschied zwischen illegalen Einwanderern und Asylwerbern wurde nicht gemacht. Sie alle wurden ausnahmslos festgenommen und unter Bedingungen angehalten, die von Besuchsdelegationen wie etwa Human Rights Watch und Amnesty International als unmenschlich beschrieben wurden. Für den Fall, dass heimliche Einwanderer nicht in ihr Heimatland abgeschoben wurden – ein Risiko, dem sie ständig ausgesetzt waren – und es ihnen gelang, ihre Freiheit wiederzuerlangen, waren sie im Inland besonders prekären Lebensbedingungen als Folge ihres illegalen Status unterworfen. Sie – dazu gehörten auch die Bf. – nahmen eine isolierte Stellung in der libyschen Gesellschaft ein, was sie extrem anfällig für fremdenfeindliche und rassistische Akte machte.

Die Regierung bringt vor, Libyen sei zum fraglichen Zeitpunkt ein »sicherer Hafen« für auf hoher See abgefangene Einwanderer gewesen. Der italienisch-libysche Freundschaftsvertrag aus 2008, auf dessen Basis heimliche Einwanderer nach Libyen zurückverbracht würden, nehme ausdrücklich Bezug auf die Einhaltung internationaler Menschenrechte bzw. einschlägiger Abkommen.

Der GH weist darauf hin, dass gerade die Nichtbefolgung internationaler Verpflichtungen durch Libyen einer der Kritikpunkte in den oben erwähnten Berichten war. Die Existenz innerstaatlicher Gesetze bzw. die Ratifikation internationaler Verträge zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte genügte in diesem Fall nicht, adäquaten Schutz vor dem Risiko einer Misshandlung zu bieten. Dies hat umso mehr für den vorliegenden Fall zu gelten, berichten doch verlässliche Quellen, dass die libyschen Behörden Rückgriff auf Praktiken genommen bzw. solche zumindest toleriert haben, die den Prinzipien der EMRK diametral zuwiderlaufen.

Was das weitere Vorbringen anbelangt, in Tripolis hätte ja ein Büro des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge existiert, ist zu sagen, dass dessen Aktivitäten niemals von der libyschen Regierung anerkannt worden waren. Ein zuerkannter Flüchtlingsstatus hätte Betroffenen somit keinen Schutz in Libyen gewähren können.

Diese Situation war bekannt und anhand vielfacher Quellen verifizierbar. Zum Zeitpunkt der Rückführung der Bf. wussten bzw. hätten die italienischen Behörden daher wissen müssen, dass sie in ihrer Eigenschaft als illegale Einwanderer in Libyen einer konventionswidrigen Behandlung unterworfen sein würden. Die Tatsache, dass sie kein ausdrückliches Begehren auf Gewährung von Asyl gestellt haben, vermag daran nichts zu ändern.

Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an die Verpflichtungen der Staaten aus dem internationalen Flüchtlingsrecht einschließlich des unter anderem in Art. 19 GRC verankerten Non-refoulement-Prinzips.

Im vorliegenden Fall liegen daher substantielle Gründe für die Annahme vor, dass die Bf. in Libyen einem realen Risiko einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung unterworfen sein würden. Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Zum Risiko einer willkürlichen Rückführung nach Eritrea bzw. Somalia

Dieser Beschwerdepunkt wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, die eine meritorische Prüfung erfordern. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Dem GH liegen gewisse Informationen über die Situation in Eritrea und in Somalia vor. Berichten des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge und Human Rights Watch zufolge erwarten zwangsweise rückgeführte Individuen in Eritrea Folter und Anhaltung unter unmenschlichen Bedingungen, nur weil sie das Land auf illegalem Wege verlassen hatten. Was Somalia angeht, hat der GH im kürzlich entschiedenen Fall Sufi und Elmi/GB sowohl ein ernstes Gewaltniveau in Mogadischu als auch ein erhöhtes Risiko für in dieses Land zurückgeschickte Personen festgestellt, umkämpfte Regionen durchqueren oder Unterschlupf in Flüchtlingslagern mit unzumutbaren Lebensbedingungen finden zu müssen.

Laut aktuellen Berichten weist die Situation in Eritrea und in Somalia unverändert weit verbreitete und ernste Probleme für die menschliche Sicherheit auf. Zu prüfen ist nun, ob die italienischen Behörden von Libyen die Zurverfügungstellung ausreichender Garantien gegen eine willkürliche Rückführung erwarten konnten.

Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert und es gibt auch kein Verfahren zum Schutz von Flüchtlingen einschließlich der Gewährung von Asyl. Da die libyschen Behörden der Einräumung des Flüchtlingsstatus keine Bedeutung zumessen, können auch die Aktivitäten des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge keine Garantie gegen willkürliche Rückführungen darstellen. Letzterer und Human Rights Watch haben zudem auf frühere Fälle von erzwungener Rückkehr in sogenannte Hochrisikostaaten hingewiesen. Die Tatsache, dass einige der Bf. in Libyen Flüchtlingsstatus erlangt haben, vermag daher am Risiko einer willkürlichen Rückführung nichts zu ändern, sondern dürfte vielmehr einen zusätzlichen Hinweis für ihre Verwundbarkeit liefern.

Zum Zeitpunkt der Überführung der Bf. nach Libyen wussten die italienischen Behörden bzw. hätten sie wissen müssen, dass dort keine ausreichenden Garantien gegen das Risiko einer willkürlichen Abschiebung in ihren jeweiligen Heimatstaat bestanden. Sie hätten daher Feststellungen treffen müssen, ob die libyschen Behörden ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz von Flüchtlingen nachkamen. Die Überstellung der Bf. nach Libyen stellt somit eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK

Zur Zulässigkeit

Im vorliegenden Fall prüft der GH zum ersten Mal, ob Art. 4 4. Prot. EMRK auf einen Fall anwendbar ist, der die Rückführung von Ausländern in einen Drittstaat außerhalb des nationalen Territoriums zum Gegenstand hat.

Die Regierung bringt vor, die Bf. hätten sich zum Zeitpunkt ihrer Rückführung nicht auf italienischem Gebiet befunden, weshalb diese Maßnahme nicht als Ausweisung im üblichen Sinn verstanden werden könne.

Der GH kann sich dieser Meinung nicht anschließen. Weder der Wortlaut von Art. 4 4. Prot. EMRK, in dem der Begriff »Hoheitsgebiet« im Gegensatz etwa zu Art. 3 desselben Protokolls nicht enthalten ist, noch die travaux préparatoires schließen eine extraterritoriale Anwendung dieser Bestimmung aus. Es stellt sich aber die Frage, ob eine derartige Anwendung gerechtfertigt ist. Hierbei ist auf die Bedeutung von Art. 4 4. Prot. EMRK und die von ihm verfolgten Ziele Bedacht zu nehmen.

Seit dem Entwurf von Protokoll Nr. 4 ist viel Zeit vergangen. Seither haben sich die Migrationsströme in Europa intensiviert, wobei zunehmender Gebrauch von Einreisen vom Meer aus gemacht wird.

Der GH hat bereits festgestellt, dass Art. 4 4. Prot. EMRK bezweckt, Staaten an der Ausweisung bestimmter Fremder zu hindern, ohne ihre persönlichen Umstände zu untersuchen und ihnen Gelegenheit zu verschaffen, ihre Argumente gegen die von den Behörden geplante Maßnahme vorzubringen. Würde man diese Bestimmung lediglich auf vom nationalen Hoheitsgebiet eines Konventionsstaates vorgenommene Kollektivausweisungen anwenden, würde eine signifikante Komponente des heutigen Migrationsmusters nicht in dessen Anwendungsbereich fallen. Die Konsequenz wäre, dass über das Meer anreisende Einwanderer, die oft ihr Leben riskieren und die Grenzen eines Staats noch nicht erreicht haben, vor der Ausweisung – im Gegensatz zu über das Festland anreisenden Fremden – kein Recht auf eine Prüfung ihrer persönlichen Umstände hätten. Zwar wird der Begriff »Ausweisung«, ähnlich wie der Begriff »Hoheitsgewalt«, prinzipiell territorial verstanden (in dem Sinne, dass sie vom Hoheitsgebiet eines Staates aus erfolgt), jedoch spricht nach Ansicht des GH für den Fall, dass ein Vertragsstaat ausnahmsweise seine Hoheitsgewalt außerhalb seines nationalen Territoriums ausübt, nichts gegen die Annahme, dass die Ausübung der extraterritorialen Hoheitsgewalt durch diesen Staat die Gestalt einer Kollektivausweisung annimmt. Abgesehen davon hat der GH bereits darauf hingewiesen, dass die maritime Umgebung keinen rechtsfreien Raum für auf hoher See Hoheitsgewalt ausübende Staaten darstellt.

Im vorliegenden Fall hatte die Operation der italienischen Behörden zum Ziel, illegale Einwanderer von der Landung auf italienischem Boden abzuhalten. Der Einwand der Regierung wird daher zurückgewiesen und Art. 4 4. Prot. EMRK für anwendbar erklärt (einstimmig).

In der Sache

Im gegenständlichen Fall erfolgte der Transfer der Bf. nach Libyen ohne Prüfung ihrer individuellen Situation. Die italienischen Behörden führten auch keine Identititätskontrollen durch, sondern beschränkten sich darauf, die abgefangenen Einwanderer auf ein Kriegsschiff zu verladen, das sie nach Libyen brachte. Das Personal an Bord war in keiner Weise geschult, persönliche Interviews im Beisein von Dolmetschern oder Rechtsberatern durchzuführen. Es bestanden somit keine ausreichenden Garantien, die gewährleistet hätten, dass jeder einzelne Fall Gegenstand sorgfältiger Überprüfung war.

Die Rückführung der Bf. nahm insoweit den Charakter einer Kollektivausweisung an. Verletzung von Art. 4 4. Prot. EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 3 EMRK und Art. 4 4. Prot. EMRK

Laut den Bf. stand ihnen nach italienischem Recht kein effektives Rechtsmittel zur Geltendmachung einer Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 4. Prot. EMRK zur Verfügung. Das Militärpersonal hätte ihnen zu verstehen gegeben, dass man sie nach Italien bringen werde und sie nicht darüber informiert, wie sie einer Rückführung nach Libyen hätten entgehen können.

Dieser Beschwerdepunkt wirft komplexe Sach- und Rechtsfragen auf, die eine meritorische Prüfung erfordern. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Der GH hat erst kürzlich im Fall M. S. S./B und GR festgestellt, dass der fehlende Zugang zu Informationen wesentlich dazu beiträgt, dass ein Asylverfahren nicht in Anspruch genommen werden kann. Im vorliegenden Fall wurden die Bf. jeglicher Möglichkeit beraubt, Beschwerde unter Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 4. Prot. EMRK bei den kompetenten Behörden zu erheben und eine gründliche und rigorose Prüfung ihrer Begehren vor Vollstreckung der Abschiebemaßnahme zu erlangen.

Zum Vorbringen der Regierung, die Bf. hätten sich nach ihrer Ankunft in Libyen an die italienischen Strafgerichte wenden sollen, ist unter der Annahme, ein derartiger Rechtsbehelf wäre ihnen in der Praxis zugänglich gewesen, festzuhalten, dass den Anforderungen von Art. 13 EMRK durch ein gegen Angehörige des Militärpersonals angestrengtes Strafverfahren wegen Fehlens einer aufschiebenden Wirkung nicht Genüge getan wird. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen und eine Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK und Art. 4 4. Prot. EMRK festzustellen (einstimmig).

Zur Anwendung von Art. 46 und Art. 41 EMRK

Der GH hält es für notwendig, individuelle Maßnahmen zur Umsetzung des vorliegenden Urteils aufzuzeigen. Die italienische Regierung sollte alle möglichen Schritte unternehmen, um eine Zusicherung von den libyschen Behörden zu erhalten, dass die Bf. in Libyen keine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung erfahren oder willkürlich in ihr Heimatland zurückgeführt werden.

€ 15.000,– an jeden der Bf. für immateriellen Schaden. Insgesamt € 1.575,74 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Henning Becker/DK v. 3.10.1975 (ZE der EKMR)

Xhavara u.a./I und AL v. 11.1.2001 (ZE)

Conka/B v. 5.2.2002 = NL 2002, 22

Medvedyev u.a./F v. 29.3.2010 (GK) = NL 2010, 104

M. S. S./B und GR v. 21.1.2011 (GK) = NL 2011, 26

Sufi und Elmi/GB v. 28.6.2011 = NL 2011, 164

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.2.2012, Bsw. 27765/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 50) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Hirsi Jamaa.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise