Bsw36760/06 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Stanev gg. Bulgarien, Urteil vom 17.1.2012, Bsw. 36760/06.
Spruch
Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 EMRK, Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 5 Abs. 5 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 46 EMRK - Erniedrigende Anhaltung in Heim für geistig Behinderte.
Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung des Instanzenzugs (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK allein und iVm. Art. 13 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Notwendigkeit einer gesonderten Untersuchung einer Verletzung von Art. 8 EMRK allein oder iVm. Art. 13 EMRK (13:4 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1956 geborene Bf. lebte bis Dezember 2002 in Ruse.
Ende 1990 wurde der Bf. aufgrund einer bereits 1975 diagnostizierten einfachen Schizophrenie für arbeitsunfähig erklärt. Er bezieht seither eine Invaliditätspension.
In der Folge beantragten seine Angehörigen beim Landesgericht Ruse erfolgreich die Einleitung eines Entmündigungsverfahrens. Letzteres erklärte den Bf. am 20.11.2000 nach Einholung der Meinung eines psychiatrischen Sachverständigen für teilweise geschäftsunfähig. Begründend führte es aus, der Bf. sei wegen seiner Geisteskrankheit nur eingeschränkt fähig, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er habe sein gesamtes Geld für Alkohol verwendet und sei, wenn er getrunken habe, aggressiv geworden. Die Entscheidung wurde vom Gericht zweiter Instanz bestätigt.
Da sich die Familie des Bf. weigerte, für ihn die Vormundschaft zu übernehmen, wurde ihm eine Angehörige des Gemeinderats als Sachwalterin zur Seite gestellt. Letztere veranlasste am 10.12.2002 seine Verlegung in ein Pflegeheim für geistig behinderte Personen in der Nähe des 400 km entfernten Orts Pastra. Über die Gründe hierfür bzw. über die Dauer seines Verbleibs dort informierte man ihn nicht. 2005 wurde der Direktor des Heims zu seinem neuen Sachwalter bestellt.
Laut dem Bf. gestalteten sich seine Lebensbedingungen wie folgt: Das Heim war baufällig und schmutzig. Im Winter war es selten beheizt, sodass die Insassen in ihren Mänteln schliefen. Der Bf. war in einem 16 m2 großen Zimmer untergebracht, das er mit vier Mitbewohnern teilte. Die gewaschene Kleidung händigte man ohne Rücksicht auf den vorherigen Besitzer einfach dem Erstbesten aus. Insassen hatten ein Mal pro Woche Zugang zum – in einem katastrophalen Zustand befindlichen – Badezimmer. Die Toiletten befanden sich im Hof, es handelte sich dabei um ein »Plumpsklo«. Das Essen war eintönig und von schlechter Qualität. Der Bf. konnte bis 15:00 Uhr den – im Winter nicht beheizten – Gemeinschaftsraum benützen, der über einen Fernseher, einige Bücher und ein Schachspiel verfügte. Sonstige Freizeitaktivitäten standen nicht zur Verfügung.
Dem Bf. war ein Verlassen des Heims nur mit Erlaubnis des Direktors gestattet, der seinen Pass bei sich verwahrte. Er ging dann gewöhnlich zu Fuß nach Pastra. Zwischen 2002 und 2006 unternahm er drei Ausflüge nach Ruse. Nachdem er von seinem letzten Besuch nicht zum vereinbarten Termin zurückgekehrt war, ließ ihn der Direktor von Mitarbeitern des Heims zurückbringen.
Ende November 2004 wandte sich der Bf. über seine Anwältin an die Staatsanwaltschaft und ersuchte sie, beim Landesgericht Ruse die Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit zu beantragen. Das Begehren wurde jedoch von ihr abgelehnt, da der Bf. einem eingeholten psychiatrischen Attest zufolge unverändert Anzeichen von Schizophrenie zeige und laut den Aussagen der Ärzte und des Pflegepersonals nicht allein zurechtkäme.
Nachdem sich auch der Bürgermeister geweigert hatte, eine Klage auf Widerruf der Entmündigungsentscheidung einzubringen, brachte die Anwältin des Bf. einen Antrag auf Überprüfung dieser Entscheidung ein, der von den Gerichten jedoch mit der Begründung nicht zugelassen wurde, dass dies Aufgabe des Sachwalters gewesen wäre. In der Folge ersuchte der Bf. diesen mehrmals vergeblich, in seiner Sache tätig zu werden.
Am 31.8.2006 wurde der Bf. über Anraten seiner Anwältin von einem Psychiater und einer Psychologin untersucht. In ihrem Gutachten kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Diagnose »Schizophrenie« nicht zutreffe, sondern das argwöhnische und leicht aggressive Verhalten des Bf. eher auf seine Neigung zu übermäßigem Alkohoholkonsum vor seiner Unterbringung zurückzuführen sei. Seitdem habe sich sein Zustand sichtbar verbessert und könne er nach Ansicht des Direktors in die Gesellschaft wiedereingegliedert werden. Der Aufenthalt im Heim füge dem Bf. ernsten gesundheitlichen Schaden zu und es sei wünschenswert, dass er es bald verlasse.
2009 wurden im Heim Renovierungen durchgeführt. Es verfügt nun über eine Zentralheizung und über neue Sanitäranlagen. Für vegetarische Kost ist gesorgt und die Insassen wurden mit neuer Kleidung ausgestattet.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung), Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit), Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf richterliche Haftkontrolle), Art. 5 Abs. 5 EMRK (Recht auf Haftentschädigung), Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf Zugang zu einem Gericht), Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Einleitende Bemerkungen
Die Regierung hält ihren vor der V. Kammer erhobenen Einwand der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenwegs aufrecht.
In ihrer Zulässigkeitsentscheidung vom 29.6.2010 entschied die V. Kammer, den Einwand der Regierung gemeinsam mit der meritorischen Erledigung der Beschwerdepunkte unter den Art. 5 Abs. 1 und 4 EMRK zu prüfen. Die Große Kammer schließt sich dem an.
Liegt im Fall des Bf. eine Freiheitsentziehung vor?
Dem Bf. stand zwar frei, das Heim zu verlassen und in das nächste Dorf zu gehen, jedoch brauchte er dafür die ausdrückliche Einwilligung des Direktors. Sowohl die Zeit, die er weg war als auch der Ort, zu dem er sich begab, waren Kontrollen und Einschränkungen unterworfen. Auch die Erlaubnis für die drei Kurzbesuche in Ruse stand im ausschließlichen Ermessen der Heimleitung, die nicht nur seinen Pass verwahrte, sondern auch seine Finanzen einschließlich Reisekostenerstattung verwaltete. Die entlegene Lage des Heims erschwerte es dem Bf. angesichts seines niedrigen Einkommens überdies, Reisen nach eigenem Gutdünken zu unternehmen.
Was die Dauer der Unterbringungsmaßnahme anlangt, war diese im Vorhinein nicht festgelegt worden und somit unbegrenzt, wurde der Bf. doch vom Meldeamt seiner Heimatstadt als ständig im Pflegeheim wohnhaft registriert. Die Zeit, die er dort verbracht hat, reicht von ihrer Dauer her aus, um ihn die negativen Auswirkungen seiner Freiheitsbeschränkung voll spüren zu lassen. Entgegen den einschlägigen Vorgaben des innerstaatlichen Rechts war er auch nicht um seine Meinung zu der Unterbringung im besagten Heim gefragt worden und hatte dazu auch nie seine Einwilligung gegeben.
Angesichts dieser besonderen Umstände stellt die Situation des Bf. eine Freiheitsentziehung iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK dar. Diese Bestimmung ist folglich anwendbar.
War die Unterbringung im Pflegeheim rechtmäßig bzw. gerechtfertigt iSv. Art. 5 Abs. 1. EMRK?
Zur Frage, ob dem Bf. die Freiheit auf die »gesetzlich vorgeschriebene Weise« entzogen wurde, ist zu bemerken, dass der Sachwalter einer eingeschränkt geschäftsfähigen Person nach nationalem Recht nicht dazu befugt ist, rechtliche Schritte anstelle dieser Person zu unternehmen. Die Entscheidung der Sachwalterin, den Bf. in einem Heim für geistig behinderte Personen unterzubringen, ohne zuvor seine Zustimmung einzuholen, war somit nach bulgarischem Recht ungültig. Diese Schlussfolgerung reicht bereits aus, um darauf zu schließen, dass die Freiheitsentziehung Art. 5 EMRK zuwiderlief.
Die Regierung bringt vor, die Unterbringung des Bf. wäre lediglich zum Zwecke der Sicherstellung seines Interesses am Erhalt von sozialer Unterstützung erfolgt.
Der GH räumt ein, dass der Bf. über keine Unterkunft verfügte und wegen seiner Krankheit arbeitsunfähig war. In manchen Fällen mag zwar das Wohlergehen einer psychisch kranken Person – neben medizinischer Evidenz – als zusätzlicher Faktor bei der Beurteilung der Frage herangezogen werden, ob die Verlegung in ein Pflegeheim angebracht ist. Der objektive Bedarf einer Person an Unterkunft und Betreuung muss jedoch nicht automatisch zur Auferlegung von freiheitsentziehenden Maßnahmen führen. Jede Schutzmaßnahme sollte so weit wie möglich die Wünsche des Betroffenen widerspiegeln, sofern er sie zu äußern vermag. Das Versäumnis der Einholung von dessen Meinung könnte zu Missbrauch führen und die Ausübung der Rechte von verwundbaren Personen behindern. Jede Maßnahme ohne vorherige Konsultation der betroffenen Person erfordert daher in der Regel eine sorgfältige Überprüfung der Situation.
Der GH ist bereit anzuerkennen, dass die Unterbringung des Bf. direkte Folge seines Geisteszustands bzw. seiner partiellen Entmündigung war. Sein Fall sollte daher unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK geprüft werden.
Im vorliegenden Fall bezog sich das im Zuge des Entmündigungsverfahrens vorgelegte psychiatrische Sachverständigengutachten zwar auf den mentalen Zustand des Bf., jedoch hatte die Untersuchung bereits vor November 2000 stattgefunden, während er erst im Dezember 2002 in das Pflegeheim verbracht wurde. Es vergingen somit mehr als zwei Jahre zwischen der Erstellung der psychiatrischen Expertise, auf die sich die Behörden stützten, und seiner Verbringung in das Heim. Während dieses Zeitraums unternahm die Sachwalterin des Bf. keinerlei Prüfung dahingehend, ob sich sein Zustand verändert hatte, und es kam auch zu keinem Treffen bzw. zu einer Unterredung mit ihm. Der GH ist der Ansicht, dass dieser Zeitraum exzessiv war und dass besagtes psychiatrisches Gutachten den mentalen Zustand des Bf. zum Zeitpunkt seiner Verbringung in das Heim nicht zuverlässig darzustellen vermochte. Das Fehlen einer aktuellen medizinischen Beurteilung seines Geisteszustands läßt also bereits darauf schließen, dass seine Unterbringung nicht rechtmäßig iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK war.
Darüber hinaus waren aber auch andere Anforderungen nicht erfüllt. Zweck des besagten psychiatrischen Gutachtens war nämlich nicht die Prüfung, ob der Geisteszustand des Bf. seine Unterbringung in einem Heim für geistig behinderte Personen rechtfertigte, sondern die Klärung der Frage nach dem Ausmaß seines rechtlichen Schutzes. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gestattet die Anhaltung einer geisteskranken Personen zwar sogar dann, wenn eine medizinische Behandlung nicht notwendigerweise »angesagt« ist, jedoch muss eine derartige Maßnahme zur Gewährleistung ihrer Interessen oder jenen von Dritten ausreichend gerechtfertigt sein.
Im vorliegenden Fall ist aber nicht erwiesen, dass der Bf. aufgrund seines Geisteszustands eine Gefahr für sich oder andere dargestellt hätte. Die bloße Behauptung bestimmter Zeugen, er sei aggressiv geworden, wenn er getrunken habe, reicht hierfür nicht aus. Die Behörden haben auch von keinen gewalttätigen Handlungen während seines Aufenthalts im Heim berichtet.
Letztlich sind auch Defizite bei der Beurteilung zu vermerken, ob die Geistesstörung, welche die Anhaltung des Bf. notwendig machte, noch andauerte. Obwohl dieser unter psychiatrischer Beobachtung stand, erfolgte keine regelmäßige Beurteilung dahingehend, ob er aus den in Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK angeführten Gründen unverändert im Pflegeheim verbleiben müsse.
Der GH kommt somit zu dem Schluss, dass die gegenständliche Unterbringung nicht in einer gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgte. Der Freiheitsentzug war auch nicht unter Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK gerechtfertigt. Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK
Die Regierung hat kein Rechtsmittel angeführt, das dem Bf. unmittelbar Gelegenheit verschafft hätte, die Rechtmäßigkeit seiner Unterbringung im Pflegeheim und die Fortdauer dieser Maßnahme anzufechten. Ferner sah das nationale Recht keine automatische periodische Überprüfung der Unterbringung psychisch kranker Personen in Pflegeheimen durch die Gerichte vor. Da die Anhaltung des Bf. im besagten Heim vom bulgarischen Recht nicht als Freiheitsentziehung anerkannt wird, stehen keine Rechtsmittel zur Verfügung, mit denen ihre Rechtmäßigkeit angefochten werden könnte. Die Gültigkeit einer Unterbringungsvereinbarung könnte zwar Gegenstand einer Anfechtung wegen mangelnden Einverständnisses des Betroffenen sein, jedoch kann eine solche laut ständiger Rechtspraxis der Gerichte nur über Initiative des Sachwalters erfolgen.
Insoweit die Regierung zur Möglichkeit der Stellung eines Antrags auf Wiederherstellung der Geschäftsfähigkeit nach Art. 277 der bulgarischen ZPO verweist, ist festzuhalten, dass Zweck dieser Prozedur nicht die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung des Bf., sondern lediglich seines rechtlichen Status gewesen wäre. Was ferner das Familiengesetz 1985 anlangt, können nahe Angehörige einer Person mit eingeschränkter Geschäftsfähigkeit zwar Entscheidungen der Vormundschaftsbehörden anfechten, die dann wiederum gehalten sind, vom Sachwalter ergriffene Maßnahmen, einschließlich einer Unterbringungsvereinbarung, zu überprüfen und diesen für den Fall der Nichtbefolgung seiner Aufgaben von seinem Amt ablösen zu lassen. Dieser Rechtsbehelf stand dem Bf. jedoch nicht unmittelbar zur Verfügung. Abgesehen davon zeigte keine der Personen, die davon theoretisch Gebrauch hätte machen können, irgendwelche Absichten, im Interesse des Bf. handeln zu wollen. Dieser selbst war bekanntlich unfähig, auf eigene Initiative – ohne die Zustimmung seiner nächsten Angehörigen – zu agieren.
Es ist ungewiss, ob der Bf. den Bürgermeister hätte ersuchen können, von seiner Sachwalterin eine Erklärung für ihr Vorgehen zu verlangen oder die Realisierung der Unterbringungsvereinbarung wegen Ungültigkeit auszusetzen. Jedenfalls dürfte er nach innerstaatlichem Recht nicht berechtigt gewesen sein, sich aus eigenem Antrieb an die Gerichte zu wenden, um vom Bürgermeister gesetzte Handlungen anzufechten. Ähnliches gilt für die Möglichkeit der Stellung eines Antrags an den Bürgermeister, die Sachwalterin wegen eines behaupteten Interessenskonflikts zeitweise abzulösen, durch einen ad hoc-Sachwalters zu ersetzen und sodann die Annullierung der Unterbringungsvereinbarung zu beantragen.
Der GH gelangt somit zu dem Schluss, dass die von der belangten Regierung angeführten Rechtsmittel entweder dem Bf. nicht zugänglich oder gerichtlich nicht durchsetzbar waren. Keines von ihnen konnte zu einer direkten Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung nach den Vorgaben des nationalen Rechts bzw. der EMRK führen. Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK
Der Bf. bringt vor, er habe keinen Anspruch auf eine Entschädigung für die behaupteten Verletzungen seiner Rechte unter den Art. 5 Abs. 1 und Abs. 4 EMRK gehabt.
Art. 5 Abs. 5 EMRK ist anwendbar. Zu prüfen ist, ob der Bf. ein durchsetzbares Recht auf Entschädigung auf nationaler Ebene hat bzw. ob er ein solches Recht nach Erlass des vorliegenden Urteils haben wird.
Was die Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK angeht, sieht § 2 Abs. 1 Staatshaftungsgesetz den Zuspruch von Schadenersatz für Schäden vor, die aus rechtswidrigen gerichtlichen Anordnungen resultieren. Dies war hier jedoch nicht der Fall, haben die bulgarischen Gerichte die Unterbringung des Bf. doch zu keiner Zeit für unrechtmäßig oder als im Widerspruch zu Art. 5 EMRK befindlich erachtet. Dem Bf. war es somit – mangels Anerkennung seiner Unterbringung als rechtswidrig – unmöglich, eine Entschädigung für erlittenes Ungemach zu beantragen. Zur Möglichkeit, gemäß § 1 Staatshaftungsgesetz Entschädigung für rechtswidriges Behörden- oder Organverhalten zu erlangen, ist schließlich zu sagen, dass die Regierung keinerlei innerstaatliche Entscheidung vorgelegt hat, wonach diese Bestimmung auf die – auf der Grundlage einer zivilrechtlichen Vereinbarung getroffene – Unterbringung von geisteskranken Personen anwendbar wäre.
Da unter bulgarischem Recht kein gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand, mit dem die Rechtmäßigkeit einer Unterbringung überprüft werden konnte, vermochte der Bf. auch keine Verantwortlichkeit des Staates als Basis für den Erhalt einer Entschädigung wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK geltend zu machen.
Dem Bf. war bzw. ist es auch weiterhin nicht möglich, in Bulgarien sein Recht auf Entschädigung wahrzunehmen. Verletzung von Art. 5 Abs. 5 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK alleine und in Verbindung mit Art. 13 EMRK
Der Bf. beklagt sich über die armseligen Lebensbedingungen im Pflegeheim und über das Fehlen eines effektiven Rechtsmittels dagegen.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
Der Bf. hat die 2009 durchgeführte Renovierung des Gebäudes, die zu einer sichtbaren Verbesserung seiner Lebensbedingungen im Pflegeheim geführt hat, nicht bestritten. Der GH wird die Prüfung dieses Beschwerdepunkts folglich auf den Zeitpunkt davor beschränken.
Obwohl der Bf. einen nur 16 m2 großen Raum mit vier Mitbewohnern teilte, verfügte er doch über eine ansehnliche Bewegungsfreiheit inner- und außerhalb des Heims, was die nachteiligen Effekte des eingegrenzten Schlafbereichs abmilderte. Andere Aspekte seiner physischen Lebensbedingungen geben jedoch Anlass zu Bedenken: Das Essen war unzureichend und von schlechter Qualität. Das Gebäude war ungenügend beheizt, weshalb der Bf. im Winter in seinem Mantel schlafen musste. Er hatte nur einmal in der Woche Zugang zum – unhygienischen und verwahrlosten – Duschraum. Die Toiletten waren in einem erschreckenden Zustand und der Zugang zu ihnen gefährlich, wie das Anti-Folter-Komitee des Europarats im Übrigen anlässlich eines Besuchs im Dezember 2003 feststellte. Ferner erhielten die Insassen nicht ihre eigene gewaschene Kleidung zurück, was bei ihnen Gefühle von Minderwertigkeit auslösen musste.
Der Bf. war diesen Bedingungen für einen beträchtlichen Zeitraum, nämlich beinahe sieben Jahre, ausgesetzt. Obwohl sie vom Anti-Folter-Komitee als unmenschlich bzw. erniedrigend eingestuft worden waren, hielt sich die Regierung bis 2009 nicht an ihre damalige Zusage, die Einrichtung zu schließen. Der von der Regierung angeführte Mangel an finanziellen Ressourcen vermochte die Anhaltung des Bf. unter den beschriebenen Lebensbedingungen nicht zu rechtfertigen. Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK
Die Regierung hat eingeräumt, dass die Unterbringung des Bf. im Pflegeheim vom innerstaatlichen Recht nicht als Anhaltung qualifiziert wird. Er hätte daher keinen Anspruch auf eine Entschädigung für die dürftigen Lebensbedingungen gehabt. Es gibt keinen Präzedenzfall, wonach der – bislang nur auf Häftlinge angewendete – § 1 Staatshaftungsgesetz auch auf Insassen von Pflegeheimen Anwendung gefunden hätte. Die von der Regierung angeführten Rechtsmittel waren daher nicht effektiv iSv. Art. 13 EMRK. Auch falls der Bf. vor Gericht erfolgreich die Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit beantragen und das Pflegeheim hätte verlassen können, wäre ihm keine Entschädigung für die dortige erniedrigende Behandlung zugesprochen worden. Dieser Rechtsbehelf vermochte ihm somit keine angemessene Wiedergutmachung zu verschaffen. Verletzung von Art. 13 EMRK iVm. Art. 3 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Der Bf. beanstandet, dass ihm das bulgarische Recht keine Möglichkeit einräume, die Wiederherstellung seiner Geschäftsfähigkeit gerichtlich zu beantragen.
Der GH hatte bereits Gelegenheit zur Klarstellung, dass Verfahren betreffend die Wiederherstellung der Geschäftsfähigkeit für die Entscheidung über »zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen« ausschlaggebend sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist daher anwendbar.
Der GH schließt sich dem Vorbringen des Bf. an, wonach ein eingeschränkt Geschäftsfähiger, wenn er sich mit einem Antrag an die Gerichte wenden will, auf die Unterstützung durch eine der in Art. 277 der bulgarischen ZPO aufgelisteten Personen (darunter der Sachwalter) angewiesen ist. Die Regierung hat keine Gerichtsentscheidung vorgelegt, die belegen würde, dass es einer eingeschränkt geschäftsfähigen Person jemals möglich gewesen wäre, von sich aus einen Antrag auf Aufhebung der Unterbringungmaßnahme zu stellen.
Darüber hinaus sieht das innerstaatliche Recht keine Möglichkeit einer automatischen Überprüfung dahingehend vor, ob die seinerzeitigen Gründe für die Entmündigung einer Person nach wie vor gültig sind. Im Fall des Bf. war die betreffende Maßnahme unbefristet.
Zwar ist das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht absolut und können Einschränkungen der Verfahrensrechte einer Person, auch wenn diese bloß teilweise geschäftsunfähig ist, durchaus gerechtfertigt sein. Andererseits ist das Recht auf Überprüfung einer Entmündigungserklärung für die betreffende Person besonders bedeutsam, da es ein Verfahren in Gang setzt, das für die Ausübung der von der Entmündigungserklärung betroffenen Rechte und Freiheiten – nicht zuletzt in Hinblick auf Einschränkungen der persönlichen Freiheit – entscheidend ist. Es handelt sich dabei um ein grundlegendes Verfahrensrecht zum Schutz von teilweise geschäftsunfähigen Personen. Letztere sollten daher in diesem Bereich direkten Zugang zu den Gerichten haben.
Laut einer aktuellen rechtsvergleichenden Studie sehen 18 von 20 Europaratsstaaten für eingeschränkt geschäftsfähige Personen einen direkten Zugang zu den Gerichten im Fall des Wunsches auf Überprüfung ihres Rechtsstatus vor. In 17 Staaten ist dies für voll entmündigte Personen möglich. Es besteht somit ein Trend in Europa, geschäftsunfähigen Personen direkten Zugang zu den Gerichten zwecks Beantragung der Wiederherstellung ihrer Geschäftsfähigkeit zu gewähren.
In diesem Zusammenhang ist auch auf die zunehmende Bedeutung hinzuweisen, welcher der Selbstbestimmung und dem rechtlichen Schutz von Personen mit Geistesstörungen von Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Europarats beigemessen wird.
Unter diesen Umständen ist Art. 6 EMRK derart zu interpretieren, dass er grundsätzlich jeder für teilweise geschäftsunfähig erklärten Person in der Position des Bf. direkten Zugang zu einem Gericht zwecks Beantragung der Wiederherstellung ihrer Geschäftsfähigkeit gewährt. Da ein solcher direkter Zugang vom bulgarischen Recht nicht mit einem ausreichenden Grad an Gewissheit gewährt wird, reicht dies bereits aus, um eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und in Verbindung mit Art. 13 EMRK
Der Bf. behauptet, das restriktive Regime der Sachwalterschaft einschließlich seiner Unterbringung im Pflegeheim und den dort anzutreffenden Missständen habe einen ungerechtfertigten Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens bzw. der Wohnung dargestellt. Außerdem stelle das bulgarische Recht Betroffenen kein angemessenes Rechtsmittel dagegen zur Verfügung.
Angesichts seiner Feststellungen zu den Art. 3, 5, 6 und 13 EMRK sieht der GH von einer gesonderten Prüfung dieses Beschwerdepunkts ab (13:4 Stimmen; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen Tulkens und Laffranque sowie von Richter Spielmann; Sondervotum von Richterin Kalaydjieva).
Anwendung von Art. 46 EMRK
Angesichts der Feststellung einer Verletzung von Art. 5 EMRK hält es der GH für angebracht, der Regierung folgende – auf den Bf. bezogene – Maßnahmen zur Umsetzung des vorliegenden Urteils anzuzeigen: Die bulgarischen Behörden sollten zuerst feststellen, ob der Bf. im Pflegeheim verbleiben will. Sollte dies nicht der Fall sein, sind sie gehalten, unverzüglich eine Überprüfung der Situation im Lichte dieses Urteils durchzuführen. Mit Rücksicht auf die festgestellte Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wird dem belangten Staat die Ergreifung von allgemeinen Maßnahmen zur Sicherstellung eines effektiven Zugangs des Bf. zu einem Gericht empfohlen.
Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 15.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Storck/D v. 16.6.2005 = NL 2005, 134 = EuGRZ 2008, 582
Shtukaturov/RUS v. 27.3.2008 = NL 2008, 79
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.1.2012, Bsw. 36760/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 23) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/12_1/Stanev.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.