JudikaturAUSL EGMR

Bsw35023/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
08. Dezember 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Göbel gg. Deutschland, Urteil vom 8.12.2011, Bsw. 35023/04.

Spruch

Art. 1 1. Prot. EMRK - Geringe Entschädigung nach Restitution einer Liegenschaft an Erben der ursprünglichen Eigentümer.

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegende Beschwerde betrifft die Restitution einer Liegenschaft in Erfurt, im Gebiet der ehemaligen DDR. Sie umfasst eine Fläche von 759 m2 samt einem Wohnhaus und Geschäftsräumlichkeiten.

Das Grundstück wurde 1938 von den Brüdern S. um 256.000,– Reichsmark an einen Industriellen verkauft. Die beiden Brüder, die der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten, flüchteten wenig später nach Australien. Nach 1945 wurde das Grundstück vom Staat vorübergehend beschlagnahmt. 1946 stellte der Ministerpräsident von Thüringen fest, dass das Grundstück unter Druck verkauft worden war und daher den früheren Eigentümern oder ihren Erben zurückzugeben sei. Der vom Ministerpräsident bestellte Verwalter der Liegenschaft schloss im Oktober 1948 im Namen der Brüder S. eine gütliche Einigung mit Frau D., der Witwe und Erbin jenes Industriellen, der die Liegenschaft 1938 gekauft hatte. Demnach sollte Frau D. zwei Drittel der Liegenschaft behalten, während die Brüder S. ein Drittel zurückerhielten und auf weitere Ansprüche verzichteten. Die beiden Brüder fochten die Einigung an, da sie nicht kontaktiert worden waren. Nach dem Tod von Frau D. fiel das Eigentum an den zwei Dritteln des Grundstücks an eine Miterbengemeinschaft.

Im April 1992 verkaufte einer der Erben von Frau D. seinen Anteil an der Miterbengemeinschaft um DM 90.000,– an den Bf., der eine Beschreibung der Ereignisse erhielt, die zu den Eigentumsverhältnissen geführt hatten. Am 30.10.1992 wurde der Bf. als Mitglied der Miterbengemeinschaft ins Grundbuch eingetragen.

Mit zwei Schreiben vom 8.9. bzw. 17.12.1992 beantragten die Erben der Brüder S. die Restitution der übrigen zwei Drittel der Liegenschaft.

Am 31.1.1997 erwarb der Bf. um DM 90.000,– einen weiteren Anteil an der Miterbengemeinschaft. Am 17.6.1997 schloss er einen Kaufvertrag über seine beiden Anteile an der Miterbengemeinschaft mit einem Investmentfonds ab, der bereit war DM 600.000,– zu zahlen. Diesen Vertrag konnte der Bf. wegen der danach erfolgten Restitution nicht erfüllen.

Das Amt für die Regelung offener Vermögensfragen Thüringen ordnete am 13.10.1997 die Rückübereignung der verbliebenen zwei Drittel des umstrittenen Grundstücks an die Erben der Brüder S. an. Dem Bf. wurde nach § 7a Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz – VermG) ein Anspruch auf eine Gegenleistung in der Höhe des Kaufpreises seines Anteils im Jahr 1938 zuerkannt. Dieser wurde mit DM 1.250,– festgesetzt.

Die dagegen vom Bf. erhobene Klage wurde am 17.4.2003 vom Verwaltungsgericht Gera abgewiesen. Das VermG verfolge das legitime Ziel der Wiedergutmachung des gegen jüdische Mitbürger begangenen Unrechts. Der Bf. hätte aufgrund des bereits vor dem Kauf in Kraft getretenen VermG allenfalls eine eingeschränkte Rechtsposition gehabt. Da er kein Eigentum an dem Vermögenswert erworben hätte, wäre die Rückübertragung nach § 4 Abs. 2 VermG nicht ausgeschlossen gewesen.

Die Revision an das BVerwG wurde nicht zugelassen. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde am 31.3.2004 nicht zur Entscheidung an.

Am 26.7.2004 beantragte der Bf. eine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung nach dem Vermögensgesetz (Entschädigungsgesetz). Dieses Verfahren ist noch anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums). Der Zuspruch einer Entschädigung in der Höhe von nur DM 1.250,– würde ihm eine unverhältnismäßige Bürde auferlegen. Er habe das Eigentum nach der deutschen Wiedervereinigung gutgläubig von den rechtmäßigen Erben des Käufers erworben.

Der Bf. erwarb zwei Anteile an einer Miterbengemeinschaft und wurde ins Grundbuch eingetragen. Auch wenn er damit nicht Eigentümer des Grundstücks wurde, erwarb er doch Anteile an der Liegenschaft als Mitglied der Miterbengemeinschaft. Er hatte damit »Eigentum« iSv. Art. 1 1. Prot. EMRK.

Die Rückübertragung der Grundstücke an die Erben der ursprünglichen Eigentümer begründete daher einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Eigentums. Dieser ist als »Entziehung des Eigentums« im Sinne des zweiten Satzes von Art. 1 Abs. 1 1. Prot. EMRK anzusehen.

Die umstrittene Maßnahme beruhte auf verschiedenen Bestimmungen des VermG und war damit gesetzlich vorgesehen.

Der GH hat keinen Zweifel daran, dass das vom deutschen Gesetzgeber verfolgte Ziel, das Vermögen an die Erben der ursprünglichen jüdischen Eigentümer, die Opfer von Verfolgung durch das NS-Regime waren, zurückzugeben, im öffentlichen Interesse lag.

Das VermG, das Streitigkeiten über in der ehemaligen DDR gelegenes Vermögen regelt, räumt den Erben der ursprünglichen jüdischen Eigentümer, welche die Erstgeschädigten waren, ein vorrangiges Recht auf Restitution ein, das jenem der Erben von in der DDR enteigneten Eigentümern vorgeht, die damit die Zweitgeschädigten waren. Diese Zweitgeschädigten, zu denen auch die Miterbengemeinschaft zählt, an welcher der Bf. Anteile erwarb, haben Anspruch auf die Zahlung einer Gegenleistung entsprechend dem ursprünglichen Kaufpreis oder auf Entschädigung nach dem Entschädigungsgesetz. Dies trifft auch auf den Bf. als Mitglied der Miterbengemeinschaft zu.

Der GH erinnert in diesem Zusammenhang an den weiten Ermessensspielraum, der dem Staat bei der Erlassung von Gesetzen im Kontext der deutschen Wiedervereinigung angesichts der ungeheuren Aufgaben, mit denen der Gesetzgeber bei der Bewältigung all der komplexen Angelegenheiten im Zuge des Übergangs von einem kommunistischen zu einem demokratischen marktwirtschaftlichen System konfrontiert war, zukommt.

Der Bf. erwarb den ersten Anteil am 11.4.1992 – nach dem Inkrafttreten des VermG und vor Ablauf der mit 31.12.1992 festgelegten Frist für die Anmeldung von Restitutionsansprüchen. Außerdem wurde er vom Notar gebührend über die Geschichte der Eigentumsverhältnisse informiert.

Der Bf. ging somit wissentlich das Risiko ein, Vermögen zu erwerben, in Bezug auf das ein Restitutionsanspruch geltend gemacht werden könnte. Dies gilt insbesondere für den Kauf des zweiten Anteils, der am 31.1.1997 erfolgte und damit mehr als fünf Jahre nach Einbringung des Restitutionsantrags der Erben der ursprünglichen Eigentümer.

Der Bf. beschwert sich allerdings nicht über die Restitution als solche, sondern über die geringe Höhe der Gegenleistung. Dazu ist festzustellen, dass § 7a Abs. 3 VermG die Möglichkeit einräumt, eine Entschädigung nach dem Entschädigungsgesetz geltend zu machen. Dieses Verfahren ist noch anhängig und die Regierung schätzt die Höhe der dem Bf. zustehenden Entschädigung auf DM 15.000,–.

Entscheidend ist im vorliegenden Fall nach Ansicht des GH erstens das Ziel des VermG, das darin besteht, den Erben der zur Zeit des NS-Regimes beraubten ursprünglichen jüdischen Eigentümer ein vorrangiges Recht auf Restitution einzuräumen, und zweitens die Tatsache, dass der Bf. seine Anteile nach Inkrafttreten des VermG im vollen Wissen über das Risiko erwarb, dass die Erben der ursprünglichen Eigentümer die Rückübertragung des Grundstücks beantragen könnten.

Was die Höhe der Gegenleistung oder der Entschädigung betrifft, die dem Bf. nach dem VermG oder dem Entschädigungsgesetz zustehen würde, stellt der GH fest, dass der Bf. keine Rechte geltend machen kann, die über die von diesen Gesetzen vorgesehenen hinausgehe n.

Angesichts dieser Feststellungen und insbesondere der außergewöhnlichen Umstände der deutschen Wiedervereinigung ist der GH der Ansicht, dass der belangte Staat seinen Ermessensspielraum nicht überschritten und es nicht verabsäumt hat, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Bf. und den allgemeinen Interessen der deutschen Gesellschaft zu treffen. Daher liegt keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

James u.a./GB v. 21.2.1986 = EuGRZ 1988, 341

Jahn u.a./D v. 30.6.2005 (GK) = NL 2005, 176

Von Maltzan u.a./D v. 2.3.2005 (ZE der GK) = NL 2005, 59 = EuGRZ 2005, 305

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.12.2011, Bsw. 35023/04 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 373) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_6/Goebel.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise