Bsw35109/06 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Penias und Ortmair gg. Österreich, Urteil vom 18.10.2011, Bsw. 35109/06 und Bsw. 38112/06.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Aufhebung einer Entscheidung des UVS nach Amtsbeschwerde des zuständigen Bundesministers.
Verbindung der Beschwerden (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich beider Bf. bezüglich der Aufhebung der Entscheidung des UVS aufgrund einer Amtsbeschwerde (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Länge des Verfahrens hinsichtlich des ZweitBf. (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK hinsichtlich des ZweitBf. (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Aufhebung der Entscheidung des UVS nach einer Amtsbeschwerde (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der Beschwerde unter Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Länge des Verfahrens hinsichtlich des ZweitBf. (einstimmig).
Verletzung von Art. 13 EMRK hinsichtlich des ZweitBf. (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.000,– für immateriellen Schaden an den ZweitBf., € 1.500,– für Kosten und Auslagen an den ZweitBf. (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 14.2.2002 informierte die BH Braunau den ErstBf., dass er verdächtigt werde, am 10.2.2002 ein Fahrzeug unter Alkoholeinfluss gelenkt und dadurch gegen §§ 5 Abs. 1 und 99 Abs. 1 lit. a der Straßenverkehrsordnung (StVO) verstoßen zu haben. Das Alkoholtestgerät zeigte einen Alkoholgehalt von 0,63 mg/l in seiner Atemluft.
Der ErstBf. brachte in seinen Ausführungen vom 1.3.2002 vor, dass eine Ungenauigkeit von fünf Prozent des Alkoholtestgeräts berücksichtig werden müsse. Dies würde zu einem Alkoholgehalt von weniger als 0,60 mg/l führen, womit sein Verhalten ein weniger schweres Vergehen nach den §§ 5 Abs. 1 und 99 Abs. 1 lit. b StVO darstellen würde.
Dennoch befand die BH Braunau den ErstBf. des Vergehens nach §§ 5 Abs. 1 und 99 Abs. 1 lit. a StVO für schuldig und erlegte ihm eine Geldstrafe von € 1.162,– auf.
Der Unabhängige Verwaltungssenat (UVS) gab der Berufung des ErstBf. teilweise statt. In seiner Entscheidung vom 17.6.2002 stellte er fest, dass lediglich ein Atemalkoholgehalt des ErstBf. von 0,59 mg/l als erwiesen erachtet werden könne, da eine mögliche Ungenauigkeit des Ergebnisses des Alkoholtests berücksichtigt werden müsse. Deshalb verurteilte es den ErstBf. nach den §§ 5 Abs. 1 und 99 Abs. 1 lit. b StVO zu einer Geldstrafe von lediglich € 1.000,–.
Die Entscheidung wurde dem ErstBf. am 24.7.2002 zugestellt. Er erhob innerhalb der sechswöchigen Frist keine Beschwerde beim VfGH oder beim VwGH.
Am 7.8.2002 wurde die Entscheidung des UVS dem Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie zugestellt. Dieser erhob am 18.9.2002 eine Amtsbeschwerde nach Art. 131 Abs. 1 Z. 2 B-VG. Der VwGH folgte dieser am 18.2.2005, hob die Entscheidung des UVS vom 17.6.2002 auf und verwies die Sache an diesen zurück.
Am 21.3.2005 wies der UVS, der an die Rechtsansicht des VwGH gebunden war, die Berufung des ErstBf. gegen die Entscheidung der BH Braunau vom 8.4.2002 ab. Der UVS verhängte die nach § 99 Abs. 1 lit. a StVO geringstmögliche Geldstrafe in der Höhe von € 872,– und berücksichtigte dabei die Rechtsprechung des GH, wonach unangemessen lange Verfahren zu einer Reduktion der Strafe führen können.
Der ErstBf. legte gegen diese Entscheidung Beschwerde beim VfGH ein und behauptete verschiedene Verletzungen von Art. 6 EMRK sowie insbesondere eine Verletzung des ne bis in idem-Grundsatzes nach Art. 4 7. Prot. EMRK. Sowohl der VfGH als auch nach ihrer Abtretung an ihn der VwGH wiesen die Beschwerde jedoch ab.
Dem ZweitBf. erlegte die BH Braunau am 5.12.2001 ebenfalls wegen Lenkens eines Fahrzeugs unter Alkoholeinfluss und somit Verstoßes gegen §§ 5 Abs. 1 und 99 Abs. 1 lit. a StVO durch Strafverfügung vom 17.1.2002 eine Geldstrafe von € 872,07 auf. Das Testgerät zeigte einen Alkoholgehalt von 0,60 mg/l in seiner Atemluft.
Am 19.3.2002 gab der UVS der Berufung des ZweitBf. teilweise statt. Er sah aufgrund der zu berücksichtigenden Ungenauigkeit des Alkoholtestgeräts einen Atemalkoholgehalt von lediglich 0,57 mg/l als erwiesen an und reduzierte die Strafe auf € 700,–, da das Vergehen somit unter § 99 Abs. 1 lit. b StVO fiel. Die Entscheidung wurde dem ZweitBf. am 3.4.2002 zugestellt. Auch er erhob keine Beschwerde an VwGH oder VfGH.
Der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie, dem die Entscheidung des UVS am 10.5.2002 zugestellt worden war, erhob am 19.6.2002 allerdings auch in diesem Fall eine Amtsbeschwerde. Am 25.5.2005 hob der VwGH infolgedessen die Entscheidung des UVS auf und verwies die Sache an ihn zurück.
Der UVS folgte am 14.3.2005 der Rechtsansicht des VwGH und wies die Berufung des ZweitBf. gegen die Entscheidung vom 17.1.2002 ab. Der UVS verhängte die nach § 99 Abs. 1 lit. a StVO geringstmögliche Geldstrafe in der Höhe von € 872,– und verringerte die Ersatzfreiheitsstrafe von dreizehn auf zehn Tage.
Der ZweitBf. legte gegen diese Entscheidung Beschwerde beim VfGH ein und behauptete die gleichen Verletzungen der EMRK wie der ErstBf. Der VfGH wies die Beschwerde jedoch ab. Gleiches tat der VwGH, nachdem der VfGH sie an ihn abgetreten hatte.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da der Bundesminister eine Amtsbeschwerde eingebracht hätte, nachdem die Entscheidung des UVS rechtskräftig geworden war. Sie beschweren sich weiters über eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot), da die Strafverfahren gegen sie wiederaufgenommen worden wären, obwohl keine der Voraussetzungen von dessen Abs. 2 vorlag. Sie rügen zudem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Länge der Verfahren, eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) sowie weitere Verletzungen der EMRK und ihrer Protokolle.
Verbindung der Beschwerden
Da die beiden Beschwerden ähnliche rechtliche Fragen aufwerfen, beschließt der GH, sie zu verbinden (einstimmig).
Zur Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Aufhebung der Entscheidungen des UVS
Der GH bemerkt, dass dieser Beschwerdepunkt nicht offensichtlich unbegründet iSd. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK ist. Da er auch nicht aus anderen Gründen für unzulässig anzusehen ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Die Bf. haben vorgebracht, dass die Aufhebung der Entscheidungen des UVS durch den VwGH aufgrund der Amtsbeschwerde eine Verletzung des Prinzips der Rechtssicherheit begründe. Dies wäre unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 EMRK, da die Entscheidungen des UVS rechtskräftig geworden seien.
Der GH untersucht zunächst, ob die Entscheidungen des UVS vom 17.6. bzw. 19.3.2002 jeweils bereits rechtskräftig waren, als der Bundesminister seine Amtsbeschwerde beim VwGH eingebracht hat.
Zugegebenermaßen erlaubt Art. 131 B-VG Beschwerden an den VwGH nur, wenn die Parteien ihre Berufungsmöglichkeiten erschöpft haben. Nach der Rechtsprechung des GH wird die Beschwerde zum VwGH jedoch als ordentliches und effektives Rechtsmittel angesehen, das erschöpft werden muss, um Art. 35 Abs. 1 EMRK zu genügen. Deshalb ist die Entscheidung des UVS nicht vor Ablauf der sechswöchigen Frist rechtskräftig geworden, während der die Bf. eine Beschwerde beim VwGH einbringen konnten. Diese Frist lief im Fall des ErstBf. bis zum 4.9.2002, im Fall des ZweitBf. bis zum 15.5.2002.
Der GH erinnert daran, dass er sich in Individualbeschwerdeverfahren möglichst auf die Untersuchung des konkreten Falles beschränken muss. Im vorliegenden Fall wurden die Entscheidungen des UVS dem Bundesminister am 7.8.2002 bzw. am 10.5.2002 zugestellt, somit zu einem Zeitpunkt, an dem die Beschwerdefrist an den VwGH für die Bf. noch nicht abgelaufen war. Die Zustellung setzte für den zuständigen Minister die sechswöchige Frist zur Einbringung einer Amtsbeschwerde in Gang. Es kann somit behauptet werden, dass die Entscheidung des UVS nicht vor Ablauf dieser Frist rechtskräftig geworden ist.
In Österreich ist in Verwaltungsstrafverfahren keine Strafverfolgungsbehörde vorgesehen. In Verfahren vor dem UVS übernimmt die die Strafverfügung erlassende Behörde diese Rolle. Diese Behörde hat allerdings nicht das Recht, gegen die Entscheidung des UVS eine Beschwerde an den VwGH zu richten. Auch wenn die Bf. vorbringen, dass das Ergebnis der Verfahren nach der Amtsbeschwerde zu ihrem Nachteil ausgefallen ist, so war ihre Stellung im vorliegenden Fall jedenfalls nicht anders als jene eines jeden Beschuldigten in Strafverfahren, in denen eine Berufung von der Strafverfolgungsbehörde erhoben wird.
Unter Berücksichtigung dieser Besonderheiten des Verwaltungsstrafverfahrens im Vergleich zum österreichischen Strafrecht befindet der GH, dass die Entscheidungen des UVS vom 17.6.2002 bzw. vom 19.3.2002 noch nicht rechtskräftig geworden waren, als der Bundesminister die Amtsbeschwerde innerhalb der gesetzlich vorgesehenen sechswöchigen Frist eingebracht hat. Folglich wird auch das Prinzip der Rechtssicherheit durch ihre spätere Aufhebung durch den VwGH nicht verletzt. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig; Sondervotum der Richterinnen Vajic und Laffranque).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK
Dieser Beschwerdepunkt ist mit dem oben untersuchten verbunden und muss deshalb ebenfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig). Der GH befindet allerdings, dass die Beschwerde keine gesonderte Behandlung unter Art. 4 7. Prot. EMRK erfordert (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer der Verfahren
Das den ErstBf. betreffende Verfahren dauerte insgesamt vier Jahre und vier Monate, das den ZweitBf. betreffende Verfahren vier Jahre und acht Monate.
Zulässigkeit
Hinsichtlich des ErstBf. beobachtet der GH, dass der UVS die Länge der Verfahren berücksichtigt und die Geldstrafe auf das Mindestmaß beschränkt hat. Auch wenn er nicht speziell auf Art. 6 EMRK Bezug nahm, so erkannte er doch im Wesentlichen eine Verletzung der Bestimmung an. Der Bf. kann deshalb nicht in Anspruch nehmen, Opfer der behaupteten Verletzungen von Art. 6 und 13 EMRK zu sein. Seine Beschwerde ist deshalb ratione personae unvereinbar mit der Konvention und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).
Im Fall des ZweitBf. gestaltet sich die Situation anders. Die Regierung hat zwar darauf hingewiesen, dass der UVS die Geldstrafe auch hier auf ein Mindestmaß reduziert hat. Allerdings ist hinsichtlich der Geldstrafe keine derart erhebliche Reduktion erfolgt, dass dadurch die Länge des Verfahrens für den Bf. kompensiert werden konnte. Selbst wenn der UVS ebenso die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe von dreizehn auf zehn Tage, also doch deutlich, reduziert hat, so hat dies keine direkten praktischen Auswirkungen gehabt. Der ZweitBf. kann somit nach wie vor beanspruchen, Opfer der behaupteten Verletzung zu sein.
In der Sache
Der GH wiederholt, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Licht der Umstände des Einzelfalls und mit Bezugnahme auf die Komplexität des Falles, des Verhaltens des Bf. und der betreffenden Behörden beurteilt werden muss.
In Fällen, die ähnliche Fragen wie der vorliegende Fall aufgeworfen haben, hat der GH schon häufig Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt.
Die Regierung hat keine Fakten oder Argumente vorgebracht, die in der Lage gewesen wären, den GH zu überzeugen, im vorliegenden Fall zu einem anderen Schluss zu kommen. Der GH kommt deshalb zum Ergebnis, dass die Verfahrenslänge exzessiv war. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK
Zulässigkeit
Angesichts der obigen Ausführungen zur fehlenden Opfereigenschaft des ErstBf. mit Bezug auf die Verfahrensdauer muss auch dessen Rüge hinsichtlich des Fehlens einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Die Beschwerde des ZweitBf. hinsichtlich des Fehlens einer wirksamen Beschwerdemöglichkeit gegen die Verfahrensdauer ist eng mit der zulässigen Beschwerde über die Verfahrensdauer verbunden und muss deshalb gleichfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Der GH wiederholt, dass die Rechtsbehelfe, die einer Partei auf der nationalen Ebene zur Verfügung stehen, um eine Beschwerde gegen die Verfahrensdauer zu erheben, "wirksam" iSd. Art. 13 EMRK sind, wenn sie "die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindern oder angemessene Wiedergutmachung für eine bereits erfolgte Verletzung bieten."
Es reicht aus, zu bemerken, dass die Geldstrafe im vorliegenden Fall bereits auf das Mindestmaß festgelegt worden war. Folglich war kein Raum für eine Verminderung derselben, die eine ausgleichende Wirkung gehabt hätte. Die Regierung hat auch nicht dargelegt, dass ein Rechtsbehelf mit präventiver Wirkung verfügbar war. Verletzung von Art. 13 EMRK hinsichtlich des ZweitBf. (einstimmig).
Weitere Verletzungen der EMRK und ihrer Protokolle
Hinsichtlich der übrigen gerügten Bestimmungen der Konvention ist für den GH keine Verletzung ersichtlich. Dieser Teil der Beschwerde muss deshalb aufgrund seiner offensichtlichen Unbegründetheit für unzulässig erklärt werden (einstimmig).
Entschädigung
€ 1.000,– an den ZweitBf. für immateriellen Schaden; € 1.500,– an den ZweitBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Brumarescu/RO v. 28.10.1999 (GK) = NL 1999, 185
Nikitin/RUS v. 20.7.2004 = NL 2004, 190
Zuckerstätter und Reschenhofer/A v. 2.9.2004 (ZE) = NL 2004, 221
Schutte/A v. 26.7.2007 = NL 2007, 197
Vitzthum/A v. 26.7.2007 = NL 2007, 202
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.10.2011, Bsw. 35109/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 308) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_5/Penias.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.