JudikaturAUSL EGMR

Bsw50425/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
06. Oktober 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Soros gg. Frankreich, Urteil vom 6.10.2011, Bsw. 50425/06.

Spruch

Art. 7 EMRK - Verurteilung wegen eines Insidergeschäfts.

Keine Verletzung von Art. 7 EMRK hinsichtlich der gerügten mangelnden Vorhersehbarkeit des Gesetzes (4:3 Stimmen).

Keine gesonderte Behandlung der Beschwerde unter Art. 7 EMRK hinsichtlich der gerügten Nichtanwendung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist ein international tätiger Finanzinvestor. 1998 gründete er den Investmentfonds Q. F. Am 12.9.1988 fragte ihn ein Schweizer Bankier, ob er P. treffen wolle, der gemeinsam mit anderen Investoren plante, Anteile der großen französischen Bank S. zu erwerben, um die Kontrolle darüber zu übernehmen. Am 14.9.1988 traf sich ein Berater des Bf. mit P., der ihm das geplante Vorhaben, nämlich den Erwerb von 35?% der Anteile der Bank S., vorstellte. Der Bf. entschied sich nach weiteren Kontakten jedoch dazu, nicht an der Kontrollübernahme von S. teilzunehmen.

Zwischen 22.9. und 17.10.1988 erwarb Q. F. 160.000 Aktien der Bank S. für 11,4 Mio. Dollar. Davon wurden sieben Mio. auf dem französischen Markt investiert und 4,4 Mio. in London. Zwischen dem 19. und 27.10.1988 verkaufte Q. F. einen Teil der Aktien, nämlich 95.000. Am 21.11.1988 wurden die übrigen 65.000 abgetreten. Q. F. kam durch den Kauf und schnellen Verkauf der Anteile zu einem Gewinn von ca. 2,28 Mio. Dollar, davon 1,1 Mio. auf dem französischen Markt.

Im Februar 1989 führte die französische Börsenaufsichtsbehörde (COB) Erhebungen über die Bewegungen der Anteile der Bank S. zwischen dem 1.6. und dem 21.12.1988 durch, um festzustellen, ob bestimmte Transaktionen auf ein Insidergeschäft zurückgingen. Die Untersuchung befasste sich unter anderem auch mit dem Verhalten mehrerer Personen, die von P.s Vorhaben informiert worden waren. Hinsichtlich dieser Personen stellte die COB allerdings fest, dass die bestehenden gesetzlichen Regelungen keine klare Grenzziehung zwischen erlaubtem und verbotenem Verhalten zuließen. Da die COB jedoch verschiedene Verstöße insbesondere durch die Bank S. ortete, leitete sie der Staatsanwaltschaft ihren vollständigen Untersuchungsbericht weiter.

Zu dieser Zeit beauftragte der Finanzminister eine Börsenethik-Kommission damit, die Grenzen im Graubereich zwischen erlaubten und verbotenen Praktiken zu präzisieren. Am Ende der Arbeiten dieser Kommission gab der Finanzminister am 17.7.1990 einen Erlass heraus, der die Genehmigung der Regelung Nr. 90/08 der COB hinsichtlich der Verwendung einer Insiderinformation vorsah. Diese Regelung versuchte die unterschiedlichen Kategorien von Insidern wie auch das Verhalten, das diesen vorgeworfen werden konnte, zu präzisieren.

Der Rat der Europäischen Gemeinschaften nahm am 13.11.1989 eine RL an, die die Begriffe der Insiderinformation und des Insiders präzisieren und auf der Ebene der Mitgliedstaaten harmonisieren sollte.

1990 wurde gegen mehrere Personen, darunter den Bf., ein Verfahren eingeleitet. Sie wurden verdächtigt, das Delikt des Insidergeschäfts begangen zu haben, indem sie von einer Insiderinformation profitierten, um auf dem Börsenmarkt zu intervenieren. Der Bf. wurde vor das Strafgericht Paris zitiert, weil er Anteile der Bank S. erworben hatte, obwohl er über eine Insiderinformation über die Entwicklung dieser Anteile verfügte.

Vor dem Zivilgericht Paris erhob der Bf. die Einrede, dass die Verfolgung unrechtmäßig war, da das auf Insidergeschäfte anwendbare Gesetz nicht vorhersehbar sei. Er habe nie berufliche Beziehungen mit der Bank S. unterhalten, was aber vom Wortlaut des Art. 10-1 der Anordnung vom 28.9.1967 verlangt werde. Dieser sah vor, dass Personen strafbar sind, die "anlässlich der Ausübung ihres Berufes oder ihrer Funktionen" über Insiderinformationen verfügten. Mit Urteil vom 20.12.2002 wies das Gericht die Einrede des Bf. zurück, da das Delikt des Insidergeschäfts, so wie es zum Zeitpunkt der Handlung festgelegt war, nicht verlangte, dass Insider zweiten Grades in einer beruflichen Beziehung zum Emittenten von Anteilen standen. Es reiche aus, dass der Bf. durch seinen Beruf oder seine Funktionen zur Kenntnis von Insiderinformationen gelangte, um als Insider zweiten Grades zu gelten. Das Gericht war im Übrigen der Meinung, dass der Bf. ausreichend über das Vorhaben informiert war. Dieses war damit nicht hypothetisch, sondern ausreichend präzise umschrieben, um von einer Insiderinformation ausgehen zu können. Der Bf. wurde des Delikts des Insidergeschäfts für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von € 2.200.000,– verurteilt.

Am 22.12.2003 nahm die Europäische Kommission die RL 2003/124/EG zur Durchführung der RL 2003/6/EG des Europäischen Parlaments betreffend insbesondere die Begriffsbestimmung der Insiderinformation an.

Mit Urteil vom 24.3.2005 folgte das Berufungsgericht Paris der Argumentation des Gerichts erster Instanz und bestätigte dessen Urteil.

Die Revision des Bf. wurde am 14.6.2006 zurückgewiesen. Der Cour de cassation gab jedoch zu bedenken, dass der Erwerb von Anteilen auf dem Londoner Börsenmarkt kein Insidergeschäft nach französischem Recht darstellen konnte. Er verwies die Sache daher an das Berufungsgericht Paris zurück, das erneut über die Höhe der Geldstrafe entscheiden sollte.

Mit Urteil vom 20.3.2007 verurteilte das Berufungsgericht Paris den Bf. zu einer Geldstrafe von ungefähr € 940.500,– für den Erwerb von Anteilen der Bank S. auf dem Pariser Börsenmarkt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine doppelte Verletzung von Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz). Einerseits beschwert er sich über die unzureichende Präzision der das Delikt des Insidergeschäfts begründenden Elemente zum Zeitpunkt der Verurteilung. Andererseits rügt er die Nichtanwendung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen, die für ihn präziser und damit günstiger gewesen wären als das nationale Recht.

Zum Beschwerdepunkt der Unvorhersehbarkeit des Gesetzes zum Zeitpunkt der Ereignisse

Allgemeine Grundsätze

Der GH hat bereits festgestellt, dass im Hinblick auf das Prinzip der Allgemeinheit von Gesetzen deren Wortlaut keine absolute Präzision aufweisen kann. Eine für gesetzliche Vorschriften typische Technik besteht darin, mehr auf allgemeine Kategorien zurückzugreifen als auf erschöpfende Aufzählungen. Viele Gesetze bedienen sich zwangsläufig unscharfer Formulierungen, um eine zu große Starre zu vermeiden und sich an veränderte Situationen anpassen zu können. Auslegung und Anwendung solcher Texte hängen von der Praxis ab.

Die Verwendung von Kategorien lässt häufig Grauzonen für die Grenzen einer Definition. Für sich allein reichen diese Zweifel betreffend Grenzfälle nicht aus, um eine Bestimmung unvereinbar mit Art. 7 EMRK werden zu lassen. Die der Gerichtsbarkeit anvertraute Entscheidungsfunktion dient gerade dazu, die Zweifel unter Berücksichtigung der Entwicklungen der alltäglichen Praxis zu zerstreuen.

Der GH erinnert schließlich daran, dass die Reichweite der Vorhersehbarkeit in einem großen Ausmaß vom Inhalt eines Gesetzes, vom Anwendungsbereich und von Zahl und Eigenschaft seiner Adressaten abhängt. Die Vorhersehbarkeit des Gesetzes steht jedoch dem nicht entgegen, dass die betroffene Person dazu gebracht wird, auf aufklärende Ratschläge zurückzugreifen, um die Konsequenzen abzuschätzen, die von einem bestimmten Akt ausgehen können. Dies gilt besonders für Fachmänner, die gewohnt sind, bei der Ausübung ihrer Arbeit große Vorsicht walten lassen zu müssen.

Anwendung auf den vorliegenden Fall

Der GH beobachtet, dass die Definition des Begriffs "Insidergeschäft" in der Anordnung vom 28.9.1967 wie viele gesetzliche Begriffsbestimmungen ziemlich allgemein ist und die Parteien im vorliegenden Fall nicht über die Reichweite des dort enthaltenen Begriffs "anlässlich der Ausübung ihres Berufs oder ihrer Funktion" übereinstimmten. Alle vom Bf. angerufenen Gerichte waren der Auffassung, dass das anwendbare Gesetz ausreichend genau war, damit er wissen konnte, dass er nicht in Anteile der Bank S. investieren durfte, nachdem er von P. kontaktiert worden war.

Der GH nimmt die von der Regierung zitierte, den Ereignissen vorangegangene Rechtsprechung zur Kenntnis. Er beobachtet allerdings, dass diese Rechtssachen nicht analoge Situationen zu jener des Bf. betreffen, da die Personen, auf die sie sich beziehen, alle eine berufliche Verbindung mit der Gesellschaft hatten. Trotzdem beziehen sich diese Urteile auf Situationen, die jener des Bf. ausreichend nahe stehen, damit es diesem möglich war, zu wissen oder zumindest zu vermuten, dass sein Verhalten strafbar war. Wenn es jenen Fachmännern, die aufgrund der Ausübung ihrer Funktion an eine Insiderinformation gelangten, untersagt war, auf dem Börsenmarkt zu intervenieren, so erlaubte es eine vernünftige Auslegung dieser Rechtsprechung, zu denken, dass der Bf. von diesem Verbot betroffen sein konnte, egal ob er vertraglich mit der Bank S. verbunden war oder nicht.

Wenn es sich im Übrigen bewahrheitet hat, dass der Bf. der Erste war, der in Frankreich für ein Insidergeschäft verfolgt wurde, ohne beruflich oder vertraglich mit der Gesellschaft verbunden zu sein, von der er die Anteile erwarb, so kann man dem Staat im vorliegendem Fall trotzdem kein Fehlverhalten hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Gesetzes vorwerfen. Da den nationalen Gerichten davor keine völlig identische Situation vorgelegt worden war, konnten sie die Rechtsprechung in diesem Punkt bislang nicht präzisieren.

Der Bf. war zur Zeit der Ereignisse ein institutioneller Anleger, der mit der Geschäftswelt vertraut und es gewohnt war, kontaktiert zu werden, um sich an finanziellen Vorhaben von großem Ausmaß zu beteiligen. Angesichts seines Status und seiner Erfahrung konnte er nicht einfach darüber hinwegsehen, dass seine Entscheidung, in die Anteile der Bank S. zu investieren, ihn in den Schlagbereich des Delikts des Insidergeschäfts nach Art. 10-1 des genannten Gesetzes bringen konnte. Wenn er somit wusste, dass es keinen vergleichbaren Präzedenfall gab, hätte er eine höhere Vorsicht an den Tag legen müssen.

Der GH ist auch nicht von der Argumentation des Bf. überzeugt, dass sein Verhalten eine Änderung der Gesetzgebung in die Wege geleitet hat. Es ist keine Kausalität zwischen der persönlichen Situation des Bf. und der Ausarbeitung eines Berichts über die Börsenethik auf Verlangen des Finanzministers sowie der darauf folgenden Gesetzesänderungen ersichtlich.

Das zur Zeit der Ereignisse anwendbare Recht war somit ausreichend vorhersehbar, um es dem Bf. zu erlauben, zu vermuten, dass durch die finanziellen Vorgänge hinsichtlich der Bank S. seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet werden konnte. Deshalb liegt keine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (4:3 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen und Richter Villiger, Yudkivska und Nußberger).

Zum Beschwerdepunkt der Nichtanwendung von gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen

Der GH kommt zu dem Schluss, dass dieser Beschwerdepunkt nicht gesondert untersucht zu werden braucht, da die innerstaatliche Gesetzgebung jedenfalls selbst schon ausreichend vorhersehbar war (4:3 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen und Richter Villiger, Yudkivska und Nußberger).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kokkinakis/GR v. 25.5.1993 = NL 1993, 19 = ÖJZ 1994, 59

C. R./GB v. 22.11.1995 = NL 1995, 223

S. W./GB v. 22.11.1995 = NL 1995, 223 = ÖJZ 1996, 356

Cantoni/F v. 15.11.1996 (GK) = EuGRZ 1999, 193 = ÖJZ 1997, 579

K.-H. W./D v. 22.3.2001 (GK) = NL 2001, 59 = EuGRZ 2001, 219

Achour/F v. 29.3.2006 (GK) = NL 2006, 81

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.10.2011, Bsw. 50425/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 294) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_5/Soros.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise