JudikaturAUSL EGMR

Bsw55721/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Juli 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Al-Skeini u.a. gg. das Vereinigte Königreich, Urteil vom 7.7.2011, Bsw. 55721/07.

Spruch

Art. 1 EMRK, Art. 2 EMRK - Hoheitsgewalt britischer Truppen im Irak.

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Zurechnung der Handlungen (einstimmig).

Verbindung der Frage, ob die vorliegenden Fälle in die Hoheitsgewalt des belangten Staates fallen, mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Erschöpfung des Instanzenzugs (einstimmig).

Verbindung der Frage der Opfereigenschaft des FünftBf. und des SechstBf. mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 EMRK (einstimmig).

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der fehlenden Hoheitsgewalt des belangten Staates (einstimmig).

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich der fehlenden Opfereigenschaft des FünftBf. (einstimmig).

Fehlende Opfereigenschaft des SechstBf. (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich der übrigen fünf Bf. (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: je € 17.000,– für jeden der ersten fünf Bf., € 50.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Zum politischen und rechtlichen Hintergrund

Am 20.3.2003 begann eine Koalitionsarmee unter der Führung der USA und mit Beteiligung des Vereinigten Königreichs die Invasion des Irak. Am 1.5.2003 wurden die Hauptkampfhandlungen für beendet erklärt. Die Besatzungsmächte errichteten daraufhin eine zivile Übergangsbehörde (Coalition Provisional Authority – CPA), die vorläufig die Regierungsgewalt im Irak innehatte. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nahm die Befugnisse, Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen der Besatzungsmächte in Resolution 1483 vom 22.5.2003 zur Kenntnis.

Die Verwaltung der CPA war regional gegliedert, wobei die vier südlichen Provinzen des Irak (einschließlich Basra) vom Vereinigten Königreich kontrolliert wurden. In diesem 96.000 km2 umfassenden Gebiet lebten 4,6 Mio. Menschen. Die Koalitionstruppen hatten eine Stärke von 14.600 Mann, darunter 8.150 Briten. Die britischen Truppen hatten zwei wesentliche Aufgaben: die Aufrechterhaltung der Sicherheit und die Unterstützung der zivilen Verwaltung.

Die Anwendung von Gewalt durch britische Soldaten war in den Einsatzregeln (Rules of Engagement) normiert. Demnach war der Waffengebrauch nur zur Selbstverteidigung oder zum Schutz des Lebens anderer erlaubt, wenn keine andere Möglichkeit zur Abwehr der Gefahr bestand. Jeder Einsatz der Waffe war vom betroffenen Soldaten unverzüglich zu melden und von seinem Kommandanten zu untersuchen. Gelangte dieser zum Ergebnis, dass der Waffengebrauch rechtmäßig war, fand kein weiteres Verfahren statt. Andernfalls hatte er eine Untersuchung durch die Special Investigation Branch einzuleiten. Nach Abschluss der Ermittlungen berichtete diese Sondereinheit der Militärpolizei an den Kommandanten der betroffenen Einheit, der darüber zu entscheiden hatte, ob der Fall für einen möglichen Prozess vor einem Militärgericht an die Strafverfolgungsbehörde weitergeleitet werden sollte. Die Special Investigation Branch konnte Vorfälle, bei denen Zivilisten durch Soldaten getötet wurden, auch aus eigenem Antrieb untersuchen, musste solche Ermittlungen aber auf Aufforderung von deren Vorgesetzten einstellen.

Die gesamte Regierungsgewalt wurde am 28.6.2004 an die neue irakische Interimsregierung übertragen.

Zum Tod der Angehörigen der Bf.

Der Bruder des ErstBf. wurde am 4.8.2003 in Basra von einer britischen Patrouille erschossen. Die Soldaten begegneten ihm und einem weiteren Mann kurz vor Mitternacht auf der Straße. Einer der Soldaten eröffnete das Feuer, da er glaubte, mit einer Waffe bedroht zu werden. Sein Vorgesetzter gelangte zur Ansicht, dass die Einsatzregeln befolgt worden waren, weshalb keine weiteren Ermittlungen stattfanden. Der Stamm des Verstorbenen erhielt USD 2.500,– von der britischen Armee.

Der Ehemann der ZweitBf. wurde am 6.11.2003 während einer Hausdurchsuchung durch einen britischen Soldaten erschossen. Dieser gab einen Schuss ab, als zwei bewaffnete Männer auf ihn zukamen. Es gab keine Untersuchung durch die Special Investigation Branch, da der Kommandant keinen Verstoß gegen die Einsatzregeln erkannte. Die ZweitBf. erhielt USD 2.000,–.

Der DrittBf. verlor seine Ehefrau. Sie wurde am 10.11.2003 während eines Feuergefechts zwischen britischen Soldaten und unbekannten Bewaffneten durch eine verirrte Kugel getroffen. Auch in diesem Fall wurden Ermittlungen nicht für notwendig befunden.

Der Bruder des ViertBf. wurde am 24.8.2003 von einem britischen Soldaten erschossen, nachdem er sich einer Kontrolle seines Fahrzeugs widersetzt hatte. In diesem Fall ermittelte die Special Investigation Branch. Im September 2003 wurden die Ermittlungen auf Verlangen des Kommandanten der an dem Vorfall beteiligten Einheit eingestellt. Die Familie des Verstorbenen erhielt USD 1.400,–. Nachdem der ViertBf. eine gerichtliche Überprüfung beantragt hatte, wurden die Ermittlungen fortgesetzt. Die Anklagebehörde entschied schließlich, keine Anklage zu erheben.

Der Sohn des FünftBf. starb am 8.5.2003 im Alter von 15 Jahren. Sein Leichnam wurde am 10.5. im Wasser des Schatt al-Arab gefunden. Nachdem sich der Bf. an die britische Armee gewandt hatte, begann die Special Investigation Branch zu ermitteln. Zwischen September 2005 und Mai 2006 fand vor einem Militärgericht in England ein Prozess gegen vier Soldaten statt. Ihnen wurde vorgeworfen, den Sohn des Bf. und drei weitere Jugendliche wegen des Verdachts der Plünderung verhaftet und unter Androhung von Waffengewalt in den Fluss gezwungen zu haben, um ihnen »eine Lektion zu erteilen«. Das Verfahren endete mit einem Freispruch. Nachdem der Bf. eine zivilrechtliche Klage gegen das Verteidigungsministerium eingebracht hatte, wurde der Streit mit einer Zahlung von GBP 115.000,– und einer förmlichen Entschuldigung beigelegt.

Der Sohn des SechstBf. starb in Gewahrsam der britischen Armee. Er war am 14.9.2003 festgenommen worden. Die Special Investigation Branch, die vom Kommandanten aufgefordert worden war zu ermitteln, stellte fest, dass der Sohn des Bf. und acht weitere Iraker während ihrer Anhaltung auf der britischen Militärbasis in Basra misshandelt worden waren. Im folgenden Militärprozess wurde ein Soldat zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt und aus der Armee entlassen. Ein vom Bf. angestrengtes Zivilverfahren gegen das Verteidigungsministerium endete mit einer Anerkennung der Verantwortlichkeit und einer Entschädigung in der Höhe von GBP 575.000,–. Eine öffentliche Untersuchung des Vorfalls ist noch im Gange.

Zu den innerstaatlichen Verfahren

Der britische Verteidigungsminister entschied am 26.3.2004 hinsichtlich des Todes der Angehörigen der Bf. sowie weiterer irakischer Zivilisten keine unabhängige Untersuchung durchzuführen, die Verantwortlichkeit nicht anzuerkennen und keine Entschädigungen zu leisten. Die Betroffenen beantragten eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung.

Der Divisional Court anerkannte, dass der Tod des Sohnes des SechstBf. in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs iSv. Art. 1 EMRK fiel und stellte eine Verletzung der aus Art. 2 EMRK erwachsenden Ermittlungspflicht fest. Die Anträge der übrigen Bf. wurden abgewiesen, weil ihre Angehörigen nicht der britischen Hoheitsgewalt unterworfen gewesen wären. Der Fall der FünftBf. wurde bis auf Weiteres ausgesetzt.

Der Court of Appeal und das House of Lords bestätigten dieses Urteil. Auch das House of Lords war der Ansicht, dass nur der Fall des SechstBf. in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs fiel. In den übrigen Fällen wäre keine der vom EGMR anerkannten Ausnahmen vom Prinzip der territorialen Hoheitsgewalt gegeben. Das Vereinigte Königreich habe insbesondere keine effektive Kontrolle über die Stadt Basra und ihre Umgebung ausgeübt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die sechs Bf. behaupten eine Verletzung der aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) resultierenden Ermittlungspflicht. Sie bringen vor, ihre Angehörigen wären iSv. Art. 1 EMRK in die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs gefallen, als sie getötet wurden, und es hätte – abgesehen vom Tod des Sohnes des SechstBf. – keine effektive Untersuchung stattgefunden.

Zulässigkeit

Zurechnung

Die Regierung wendet ein, die britischen Soldaten hätten nicht die Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs ausgeübt, sondern jene der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Irak ermächtigten Multinationalen Streitkräfte.

Angesichts der Subsidiarität des GH gegenüber den innerstaatlichen Schutzmechanismen sollten die nationalen Gerichte die Möglichkeit haben, Fragen der Vereinbarkeit des innerstaatlichen Rechts mit der EMRK zu entscheiden. Wenn eine Beschwerde dennoch anschließend an den GH gelangt, sollte er aus den Ansichten der innerstaatlichen Gerichte Nutzen ziehen können. Es ist daher wichtig, dass die von der Regierung vor den nationalen Gerichten erhobenen Argumente auf derselben Linie liegen wie jene vor dem GH. Es steht den Regierungen insbesondere nicht offen, vor dem GH Argumente vorzubringen, die im Widerspruch zu ihrer im innerstaatlichen Verfahren vertretenen Position stehen.

Die Regierung hat im innerstaatlichen Verfahren nicht behauptet, dass irgendeine der Tötungen der Angehörigen der Bf. nicht den Streitkräften des Vereinigten Königreichs zuzurechnen wäre. Diese Einrede ist daher wegen Estoppel zurückzuweisen (einstimmig).

Hoheitsgewalt

Die Frage, ob die vorliegenden Fälle in die Hoheitsgewalt des belangten Staates fallen, ist eng verknüpft mit der Entscheidung in der Sache. Der GH wird sie daher mit dieser verbinden (einstimmig).

Erschöpfung des Instanzenzugs

Die Regierung wendet ein, die Beschwerde des FünftBf. wäre unzulässig, da er es verabsäumt hätte, die Fortsetzung seines Verfahrens zu beantragen.

Auch wenn sich die Umstände des Todes des Sohnes des FünftBf. von den übrigen Fällen unterscheiden, ist der GH doch der Ansicht, dass der FünftBf. angesichts des Urteils des House of Lords keine Erfolgsaussichten gehabt hätte, wenn er eine Fortsetzung des Verfahrens beantragt hätte. Diese Einrede ist daher zurückzuweisen (einstimmig).

Opfereigenschaft

Die Regierung bringt vor, der FünftBf. und der SechstBf. könnten nicht länger behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, weil die Todesfälle untersucht und Entschädigungen bezahlt worden seien.

Diese Frage wird mit der Entscheidung in der Sache verbunden (einstimmig).

Schlussfolgerung

Die Beschwerde wirft schwierige Sach- und Rechtsfragen auf, die eine Entscheidung in der Sache erfordern. Sie ist daher nicht offensichtlich unbegründet. Da auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

Hoheitsgewalt

Allgemeine Grundsätze

Die Ausübung von Hoheitsgewalt ist Voraussetzung dafür, einen Konventionsstaat für ihm zurechenbare Handlungen oder Unterlassungen zur Verantwortung zu ziehen, von denen behauptet wird, dass sie gegen die EMRK verstoßen. Die Hoheitsgewalt ist in erster Linie territorial bestimmt. Handlungen der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Territoriums gesetzt werden oder sich dort auswirken, können nur in Ausnahmefällen als Ausübung von Hoheitsgewalt gewertet werden. Der GH hat in seiner Rechtsprechung außergewöhnliche Umstände anerkannt, die eine extraterritoriale Ausübung von Hoheitsgewalt begründen können.

Kontrolle durch staatliche Organe

Die Hoheitsgewalt eines Konventionsstaates kann sich auf Handlungen seiner Organe erstrecken, die Auswirkungen außerhalb seines Territoriums haben. Darunter fallen zunächst Handlungen der diplomatischen und konsularischen Organe, die sich auf fremdem Territorium aufhalten. Zweitens kann ein Staat extraterritoriale Hoheitsgewalt ausüben, indem er nach Zustimmung, Aufforderung oder Einwilligung der Regierung eines Gebiets alle oder einige der öffentlichen Gewalten ausübt, die normalerweise von der Regierung ausgeübt werden.

Daneben kann unter bestimmten Umständen die Anwendung von Gewalt durch staatliche Organe, die außerhalb seines Territoriums operieren, ein Individuum, das dadurch unter ihre Kontrolle gebracht wird, der Hoheitsgewalt des Staates unterwerfen. Entscheidend ist in diesen Fällen die Ausübung physischer Macht und Kontrolle über die betroffene Person. Wann immer der Staat durch seine Organe über eine Person die Kontrolle und damit Hoheitsgewalt ausübt, muss er ihr gemäß Art. 1 EMRK die durch die EMRK gewährten Rechte garantieren.

Effektive Kontrolle über ein Gebiet

Eine weitere Ausnahme vom Grundsatz der territorialen Beschränkung der Hoheitsgewalt liegt vor, wenn ein Staat in Folge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger militärischer Handlungen effektive Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Territoriums ausübt. Ob dies der Fall ist, ist eine Tatsachenfrage. Entscheidend ist dabei neben anderen Faktoren in erster Linie die Stärke der militärischen Präsenz.

Das Bestehen des in Art. 56 EMRK vorgesehenen Mechanismus, der aus historischen Gründen geschaffen wurde, kann nicht dahingehend interpretiert werden, dass er den Begriff der »Hoheitsgewalt« in Art. 1 EMRK einschränkt.

Der Rechtsraum der Konvention

Wie der GH betont hat, ist ein Konventionsstaat, der das Gebiet eines anderen Konventionsstaates besetzt hält, grundsätzlich für die Einhaltung der EMRK verantwortlich, da die Bevölkerung dieses Gebiets ansonsten ihrer vorher genossenen Rechte beraubt würde. Dies würde zu einer Schutzlücke im Rechtsraum der Konvention führen. Die Feststellung der Hoheitsgewalt des besetzenden Staates in solchen Fällen bedeutet jedoch nicht a contrario, dass Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK nie außerhalb des Territoriums der Mitgliedstaaten des Europarates bestehen kann.

Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall

Die britischen Truppen waren ab 1.5.2003 in der Provinz Basra verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und für die Unterstützung der zivilen Administration. Zu ihren Sicherheitsaufgaben zählten unter anderem Patrouillen, Festnahmen, Operationen zur Terrorbekämpfung und der Schutz der Infrastruktur. Die Okkupation endete am 28.6.2004 mit dem Übergang der Regierungsgewalt auf die irakische Interimsregierung.

Das Vereinigte Königreich übernahm somit in dieser Zeit einige der öffentlichen Gewalten, die gewöhnlich von einer souveränen Regierung ausgeübt werden. Es hatte insbesondere die Befugnis und die Verantwortung, im Südosten des Irak die Sicherheit aufrecht zu erhalten. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen ist der GH der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich durch seine an Sicherheitsoperationen in Basra beteiligten Soldaten während der fraglichen Zeit Macht und Kontrolle über Personen ausübte, die im Zuge solcher Operationen getötet wurden, sodass sich die Verstorbenen iSv. Art. 1 EMRK in der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs befanden.

Die Todesfälle ereigneten sich in dem relevanten Zeitraum. Es ist unbestritten, dass der Tod der Angehörigen der Bf. durch Handlungen britischer Soldaten im Zuge von Sicherheitsoperationen in Basra verursacht wurde. Zwar ist unklar, von welcher Seite die Kugel abgefeuert wurde, von der die Frau des DrittBf. getroffen wurde, doch ereignete sich auch dieser Vorfall im Zuge einer Sicherheitsoperation britischer Soldaten.

In allen diesen Fällen bestand hinsichtlich der Hoheitsgewalt eine Verbindung zwischen den Verstorbenen und dem Vereinigten Königreich. Der GH stellt daher fest, dass die verstorbenen Angehörigen der Bf. in die Hoheitsgewalt des belangten Staates fielen und weist die Einrede der Regierung zurück (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Rozakis und Richter Bonello).

Zur behaupteten Verletzung der Ermittlungspflicht

Wenn sich ein zu untersuchender Todesfall während eines Zustands allgemeiner Gewalt, eines bewaffneten Konflikts oder eines Aufstands ereignet, können die Ermittler mit Hindernissen konfrontiert sein. Konkrete Zwänge können die Anwendung weniger effektiver Ermittlungsmaßnahmen erfordern oder Verzögerungen verursachen. Dennoch müssen nach Art. 2 EMRK auch unter schwierigen Bedingungen alle vernünftigen Schritte unternommen werden, um eine effektive, unabhängige Untersuchung behaupteter Verletzungen des Rechts auf Leben durchzuführen. Da das Vereinigte Königreich Besatzungsmacht war, war es besonders wichtig, dass die Untersuchungsbehörde operativ unabhängig von der militärischen Befehlskette war.

Die Untersuchung des Todes der Angehörigen des ErstBf., der ZweitBf. und des DrittBf. entsprach eindeutig nicht den Anforderungen des Art. 2 EMRK, da die Ermittlungen zur Gänze innerhalb der militärischen Befehlskette verblieben und sich darauf beschränkten, die beteiligten Soldaten zu befragen.

Hinsichtlich der übrigen Bf. fanden zwar Untersuchungen durch die Special Investigation Branch statt, doch entsprachen auch diese nicht Art. 2 EMRK, da diese Einheit nicht operativ unabhängig von der militärischen Befehlskette war. Sie konnte insbesondere nicht selbst über die Aufnahme von Ermittlungen und deren Einstellung entscheiden. Daher kann sie nicht als ausreichend unabhängig von den an den Vorfällen beteiligten Soldaten angesehen werden.

Auch wenn der FünftBf. eine erhebliche Summe zur Streitbeilegung erhalten hat und die Verantwortlichkeit der Armee anerkannt wurde, fand nie eine unabhängige und umfassende Untersuchung des Todes seines Bruders statt. Da er somit weiter behaupten kann, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, ist diese Einrede der Regierung zurückzuweisen (einstimmig).

Was den SechstBf. betrifft, steht eine umfassende öffentliche Untersuchung kurz vor dem Abschluss. Wie der GH feststellt, akzeptiert der SechstBf., nicht länger Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. Diese Einrede der Regierung ist daher berechtigt (einstimmig).

Hinsichtlich der übrigen fünf Bf. ist eine Verletzung von Art. 2 EMRK festzustellen (einstimmig).

Entschädigung nach Art.?41 EMRK

Je € 17.000,– für jeden der ersten fünf Bf. für immateriellen Schaden, € 50.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Loizidou/TR (Verfahrenseinreden) v. 23.3.1995 = NL 1995, 83 = ÖJZ 1995, 629

Zypern/TR v. 10.5.2001 (GK)

Bankovic u.a./B u.a. v. 12.12.2001 (ZE der GK) = NL 2002, 48 = EuGRZ 2002, 133

Ilascu u.a./MD und RUS v. 8.7.2004 = NL 2004, 174

Issa u.a./TR v. 16.11.2004 = NL 2004, 286

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK) = NL 2005, 117 = EuGRZ 2005, 463

Ramirez Sanchez/F v. 4.7.2006 (GK) = NL 2006, 185 = EuGRZ 2007, 141

Al-Saadoon und Mufdhi/GB v. 30.6.2009 (ZE) = NL 2009, 196

Medvedyev u.a./F v. 29.3.2010 (GK) = NL 2010, 104

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2011, Bsw. 55721/07 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 219) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Al-Skeini.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise