Bsw37452/02 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Stummer gg. Österreich, Urteil vom 7.7.2011, Bsw. 37452/02.
Spruch
Art. 4 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Pensionsanspruch durch die Arbeit als Häftling.
Keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (10:7 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 4 EMRK (16:1 Stimmen).
Keine gesonderte Behandlung der Beschwerde unter Art. 14 EMRK iVm. Art. 4 EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1938 in Wien geborene Bf. verbrachte 28 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Er unterfiel als dort arbeitender Häftling nicht dem Alterspensionssystem nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG). Vom 1.1.1994 an unterlag er allerdings jenem der Arbeitslosenversicherung hinsichtlich der im Gefängnis gearbeiteten Zeit.
Mit Bescheid vom 8.3.1999 wies die Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter einen Antrag des Bf. auf Frühpension zurück, da der Bf. das Minimum von 240 Versicherungsmonaten nicht vorweisen konnte.
In der Folge klagte der Bf. die Pensionsversicherungsanstalt vor dem Arbeits- und Sozialgericht und brachte vor, dass er 28 Jahre im Gefängnis gearbeitet habe und die entsprechenden Monate als Versicherungsmonate herangezogen werden müssten. Das Arbeits- und Sozialgericht wies die Klage jedoch ab und bestätigte, dass der Bf. das Minimum an Versicherungsmonaten nicht erreicht habe. Auf § 4 Abs. 2 ASVG Bezug nehmend stellte es fest, dass Häftlinge, die während der Verbüßung ihrer Haft Pflichtarbeit leisteten, nicht der Pflichtversicherung unterlägen.
Am 24.10.2001 wies das OLG Wien eine Berufung des Bf. ab. Gemäß der gefestigten Rechtsprechung des OGH wären Häftlinge, die Pflichtarbeit leisteten, nicht als Dienstnehmer iSv. § 4 Abs. 2 ASVG zu behandeln und unterlägen damit auch nicht dem System der Pflichtversicherung.
Eine Revision des Bf. am 12.2.2002 wies der OGH ab. Dieses Urteil wurde dem Bf. am 6.5.2002 zugestellt.
Am 29.1.2004 endete der Gefängnisaufenthalt des Bf. Er erhielt in der Folge Arbeitslosengeld bis zum 29.10.2004 und anschließend Notstandshilfe.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums), da er der Meinung ist, dass das Ausnehmen von arbeitenden Häftlingen aus dem Alterspensionssystem diskriminierend ist. Er rügt weiters eine Verletzung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), da Gefängnisarbeit wegen seiner Nichtunterwerfung unter das System der Alterspension nicht unter Art. 4 Abs. 3 lit. a EMRK fallen konnte und daher eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 darstelle sowie eine Verletzung von Art. 4 iVm. Art. 14 EMRK.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Zur Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Gemäß der ständigen Rechtsprechung des GH sind die generell im Rahmen von Art. 1 1. Prot. EMRK zur Anwendung gelangenden Prinzipien auch für Sozialleistungen zu beachten. Diese Bestimmung schafft jedoch kein Recht, Vermögen zu erwerben. Sie erlegt den Mitgliedstaaten keine Beschränkungen hinsichtlich ihrer Freiheit auf, zu entscheiden, ob sie ein Sozialversicherungssystem einrichten oder wie sie dieses ausgestalten. Wenn die Staaten jedoch die Gewährung von Sozial leistungen gesetzlich vorgesehen haben – egal, ob an die vorherige Zahlung von Beiträgen geknüpft oder nicht –, schafft diese Gesetzgebung für Personen, die die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, ein vermögensrechtliches Interesse, das in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt.
In Fällen wie dem vorliegenden, die eine Beschwerde nach Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK betreffen und rügen, dass dem Bf. eine Leistung in ihrer Ganzheit oder teilweise aus einem diskriminierenden Grund im Sinne des Art. 14 EMRK verwehrt wurde, kommt es darauf an, ob er ein im nationalen Recht durchsetzbares Recht gehabt hätte, die Leistung zu erhalten, wenn es die Anspruchsvoraussetzung, über die er sich beschwert, nicht gegeben hätte. Entscheidet sich der Staat dazu, ein Leistungsmodell zu schaffen, muss er das auf eine Art und Weise tun, die mit Art. 14 EMRK vereinbar ist, auch wenn Art. 1 1. Prot. EMRK kein Recht umfasst, irgendeine Sozialleistung zu erhalten.
Der GH gibt zu bedenken, dass die vom Bf. ins Treffen geführte Sozialversicherungsgesetzgebung ein vermögenswertes Interesse begründet, das in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt. Es ist unbestritten, dass der Bf. 28 Jahre im Gefängnis gearbeitet hat, ohne dem Alterspensionssystem unterworfen zu sein und sein Ansuchen um Alterspension deswegen verweigert wurde, weil ihm das Minimum an Versicherungsmonaten fehlte. Hätte man ihn folglich für seine Gefängnisarbeit dem System unterworfen, hätte er die notwendige Anzahl an Versicherungsmonaten erreicht und einen Pensionsanspruch erhalten.
Der GH kommt zum Ergebnis, dass die Beschwerde in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK fällt und daher auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.
Vereinbarkeit mit Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Allgemeine Grundsätze
Der GH hat in seiner ständigen Rechtsprechung gefestigt, dass nur Unterschiede in der Behandlung, die auf einer feststellbaren Eigenschaft oder einem »Status« beruhen, geeignet sind, zu einer Diskriminierung iSv. Art. 14 EMRK zu führen. Diskriminierung bedeutet eine unterschiedliche Behandlung von Personen in im Wesentlichen ähnlichen Situationen ohne objektive und begründete Rechtfertigung. Letztere liegt nicht vor, wenn die Unterscheidung kein legitimes Ziel verfolgt oder wenn keine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel gegeben ist.
Den Staaten kommt ein bestimmter Einschätzungsspielraum zu, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede in ansonsten ähnlichen Situationen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Der Umfang dieses Spielraumes variiert dabei je nach den Umständen, dem Gegenstand und dessen Hintergrund. Ein weiter Spielraum wird den Staaten in der Regel zugestanden, wenn es um allgemeine Maßnahmen der wirtschaftlichen oder sozialen Planung geht. Der GH akzeptiert die Entscheidungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich, soweit diese nicht »offenkundig ohne vernünftige Grundlage« erfolgen.
Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
Der Bf. rügt eine Diskriminierung aufgrund seiner Position als Häftling. Der Status als Häftling ist zwar nicht einer der in Art. 14 EMRK explizit aufgezählten Gründe, doch ist die dortige Aufzählung nicht erschöpfend, sondern umfasst auch jeden anderen Status, unter dem Personen oder Gruppen voneinander unterschieden werden können. Es wurde nicht in Frage gestellt, dass der Status als Häftling in diesem Zusammenhang ein Aspekt des persönlichen Status ist.
Der GH beobachtet, dass Gefängnisarbeit sich in vielen Punkten von der Arbeit gewöhnlicher Dienstnehmer unterscheidet und dem primären Ziel der Rehabilitation und Resozialisierung dient. Die Arbeitszeiten, die Entlohnung und deren Verwendung sowie die Tatsache, dass der Verpflichtung der Häftlinge zu Arbeit die Verpflichtung der Gefängnisbehörden gegenübersteht, die Insaßen mit Arbeit zu versorgen, unterscheiden sich erheblich von einem regulären Arbeitsverhältnis.
Im vorliegenden Fall geht es jedoch weniger um die verpflichtende Natur der Gefängnisarbeit, ihr Ziel oder den Umstand, ob Arbeit für die Gefängnisbehörden oder einen privaten Arbeitgeber geleistet wird, als um die Altersvorsorge. Deshalb befindet der GH auch, dass der Bf. diesbezüglich in einer vergleichbaren Situation zu herkömmlichen Dienstnehmern war. Es muss daher untersucht werden, ob die unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Unterwerfung unter die Alterspension nach dem ASVG gerechtfertigt war.
Der GH akzeptiert, dass die von der Regierung vorgebrachten Ziele, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungsanstalten zu erhalten und die Kohärenz innerhalb des Sozialversicherungssystems zu wahren, indem jene Personen von den Leistungen ausgeschlossen werden, die keine nennenswerten Beiträge geleistet haben, legitim sind.
Gemäß der gefestigten Rechtsprechung des GH müssen einem Häftling seine Rechte aus der Konvention während der Haft erhalten bleiben. Eine Einschränkung derselben bedarf daher einer Rechtfertigung in jedem einzelnen Fall. Diese Rechtfertigung kann sich unter anderem aus den notwendigen und unvermeidbaren Konsequenzen, die eine Inhaftierung mit sich bringt, oder aus einer entsprechenden Verbindung zwischen der Einschränkung und den beim betreffenden Häftling gegebenen Umständen ergeben. Mit Blick auf diesen Hintergrund wird der GH untersuchen, ob die Nichtunterwerfung von arbeitenden Häftlingen unter das System der Alterspension und die legitimen Ziele zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen.
Der GH beobachtet, dass die Frage der Unterwerfung von arbeitenden Häftlingen unter das System der Alters pension eng verbunden ist mit strafrechtspolitischen und mit sozialpolitischen Fragen. Im Rahmen der Sozial planung kommt dem Staat jedoch wie erwähnt ein weiter Beurteilungsspielraum zu, während der GH sich auf ein Einschreiten beschränkt, wenn Maßnahmen »offenkundig ohne vernünftige Grundlage« erfolgt sind.
Angesichts der Komplexität der Angelegenheit befindet der GH, dass er die Frage der Unterwerfung von Häftlingen unter das System der Alterspension nicht isoliert betrachten kann, sondern dies als eine Facette im Gesamtsystem der Gefängnisarbeit und der sozialen Absicherung der Häftlinge zu sehen hat.
Wie bereits festgestellt, unterliegen Häftlinge in Österreich einer Arbeitspflicht und die Gefängnisbehörden einer Verpflichtung, den Häftlingen geeignete Arbeit zu beschaffen. Die Arbeitszeiten werden an die Erfordernisse des Gefängnisses angepasst. Die Häftlinge erhalten auch eine Entlohnung, von der allerdings 75?% als Erhaltungsbeitrag einbehalten werden. Die Einbehaltung eines solchen Beitrages ist nicht per se mit der Konvention unvereinbar. Auch die Höhe kann nicht als unangemessen angesehen werden, wenn man die allgemeinen Kosten zur Erhaltung der Gefängnisse sowie die Tatsache berücksichtigt, dass der Staat für den gesamten Lebensunterhalt der Häftlinge (inklusive der Kranken- und Unfallversicherung) aufkommt.
Zur Frage der sozialen Absicherung von Häftlingen existiert derzeit kein Konsens in Europa. Der GH beobachtet jedoch einen entstehenden Trend. So fordern etwa die Europäischen Gefängnisregeln aus 2006, dass arbeitende Häftlinge soweit als möglich in das nationale Sozialversicherungssystem einbezogen werden sollen. Der GH bemerkt allerdings, dass eine sehr zurückhaltende Formulierung gewählt wurde und sich die Empfehlung auf eine Einbeziehung ins Sozialversicherungssystem im Allgemeinen bezieht. Außerdem versorgt zwar eine große Mehrheit an Mitgliedstaaten Häftlinge mit irgendeiner Form von Sozialversicherung, doch unterwirft nur eine kleine Mehrheit Häftlinge auch dem Alterspensionssystem und darunter manche – wie Österreich – lediglich durch die Möglichkeit, freiwillige Beiträge zu leisten.
Der Übergang zu einer Unterwerfung von Häftlingen unter das Sozialversicherungssystem im Allgemeinen und unter das Alterspensionssystem im Besonderen erfolgt daher in den Staaten nur nach und nach. Das österreichische Recht, das für Häftlinge etwa Kranken- und Unfallfürsorge vorsieht und sie auch der Arbeitslosenversicherung unterwirft, spiegelt diese Entwicklung wider. Eine Ausweitung auch der Alterspension auf die Häftlinge wurde zwar anvisiert, jedoch aufgrund der angespannten finanziellen Situation der Sozialversicherungsanstalten bislang nicht umgesetzt.
Der GH beobachtet, dass die nicht von der Versicherung gedeckten Arbeitszeiten des Bf. vornehmlich zwischen den 1960ern und den 1990ern liegen und der Bf. lange Zeit im Gefängnis arbeitete. Der GH hebt hervor, dass in dem relevanten Zeitraum kein Konsens bezüglich der Unterwerfung von arbeitenden Häftlingen unter das nationale Sozialversicherungssystem gegeben war, was auch in den Europäischen Gefängnisregeln von 1987 zum Ausdruck kam, wo eben keine diesbezügliche Bestimmung zu finden war.
Der GH betont auch, dass der Bf., auch wenn er keinen Anspruch auf Alterspension hatte, nicht ohne soziale Absicherung verblieb. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis erhielt er Arbeitslosenleistungen und in der Folge bis zum jetzigen Zeitpunkt Notstandshilfe, ergänzt durch Sozialhilfe in der Form von Wohnbeihilfe. Sein derzeitiges monatliches Einkommen beträgt um die € 720,– und erreicht somit beinahe die Höhe einer Mindestpension, die sich für eine Einzelperson aktuell auf ungefähr € 780,– beläuft.
Der GH kommt zu dem Schluss, dass das System der Gefängnisarbeit und die damit verbundene soziale Absicherung als Ganzes gesehen nicht als »offenkundig ohne vernünftige Grundlage« erachtet werden kann.
Während es für den belangten Staat erforderlich sein wird, das vorliegende Problem im Auge zu behalten, stellt der GH fest, dass er durch die bisherige Nichtunterwerfung von arbeitenden Häftlingen unter das System der Alterspension seinen diesbezüglichen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat und somit auch keine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK vorliegt (10:7 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter De Gaetano; gemeinsames Sondervotum der Richterinnen und Richter Tulkens, Kovler, Gyulumyan, Spielmann, Popovic, Malinverni und Pardalos).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 EMRK
Allgemeine Grundsätze
Art. 4 EMRK bewahrt einen der grundlegendsten Werte der demokratischen Gesellschaften. Bei seiner Interpretation hat der GH in früheren Fällen die einschlägigen ILO-Konventionen und insbesondere das Übereinkommen über die Zwangsarbeit (»Forced Labour Convention«) aus 1930 berücksichtigt, die für beinahe alle Mitgliedstaaten des Europarates und auch für Österreich verbindlich sind. Der GH betont allerdings, dass die Besonderheiten der Konvention ebensowenig außer Acht gelassen werden dürfen wie die Tatsache, dass es sich bei der Konvention um ein »living instrument« handelt, das im Lichte des aktuell in demokratischen Staaten vorherrschenden Verständnisses ausgelegt werden muss.
Art. 4 Abs. 3 lit. a EMRK bestimmt, dass der Begriff der »Zwangs- oder Pflichtarbeit« eine Arbeit nicht umfasst, die üblicherweise von einer Person in der Haft zu leisten ist.
Der GH bemerkt, dass seine Rechtsprechung bezüglich Gefängnisarbeit spärlich ist. Im Fall Van Droogenbroeck /B sah der GH keine Verletzung von Art. 4 EMRK, da die dem Häftling auferlegte Arbeit nicht über das Übliche hinausging. In Twenty-one Detained Persons/D rügten die Bf., dass sie für die Arbeit während ihrer Anhaltung nicht angemessen entlohnt und für sie diesbezüglich keine Beiträge für das Sozialver sicherungssystem geleistet worden seien. Die EKMR erklärte die Beschwerde für unzulässig, da Art. 4 EMRK keine Bestimmung zur Entlohnung von Häftlingen für ihre Arbeit enthalte.
Anwendung auf den vorliegenden Fall
Der GH bemerkt, dass der Bf. nach § 44 Abs. 1 des Strafvollzugsgesetzes zur Arbeit verpflichtet war, widrigenfalls ihm Sanktionen drohten, die von einem Verweis bis hin zu Einzelhaft reichten. Unter Berücksichtigung der Definition von Zwangs- und Pflichtarbeit nach der ILO-Konvention von 1930 hat der GH keinen Zweifel daran, dass der Bf. im Sinne von deren Art. 2 Abs. 1 Arbeit unter Androhung einer Strafe leistete, für die er sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hatte.
Strittig ist im vorliegenden Fall jedoch vielmehr, ob die Arbeit des Bf. auch von Art. 4 Abs. 3 lit. a EMRK gedeckt war. Der GH stellt fest, dass er bislang keine Gelegenheit hatte, zu untersuchen, ob Art. 4 EMRK fordert, dass die Mitgliedstaaten Gefängnisarbeiter in das Sozialversicherungssystem inkludieren. Die oben erwähnte Entscheidung der EKMR im Fall Twenty-one Detained Persons/D stammt indes von 1968, weshalb der GH zu prüfen hat, ob diese noch gültig ist.
Der Wortlaut der EMRK gibt keinen Hinweis in Bezug auf die Unterwerfung von Gefängnisarbeitern unter das nationale Sozialversicherungssystem. Um festzustellen, was unter Arbeit zu verstehen ist, die »üblicherweise von einer Person in der Haft zu leisten ist«, beachtet der GH die in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Standards.
Der GH bemerkt, dass der Bf. lange Zeit im Gefängnis gearbeitet hat. Der Beginn lag mit den 1960ern in einer Zeit, in der die EKMR festgestellt hatte, dass Art. 4 EMRK nicht verlangte, dass Gefängnisarbeiter dem Sozialversicherungssystem unterworfen werden. Auch die Europäischen Gefängnisregeln von 1987 blieben diesbezüglich stumm. Der GH bemerkt, dass danach bedeutende Entwicklungen stattgefunden haben, die sich auch in den Europäischen Gefängnisregeln von 2006 niedergeschlagen haben, die verlangen, dass Gefängnisarbeiter soweit wie möglich dem nationalen Sozialversicherungssystem unterworfen werden sollen.
Der GH sieht jedoch angesichts der aktuellen Praxis der Mitgliedstaaten keinen Grund, Art. 4 EMRK so auszulegen wie vom Bf. angeregt. Eine große Mehrzahl der Mitgliedstaaten unterwirft Häftlinge in zumindest irgendeiner Form dem nationalen Sozialversicherungssystem, doch unterwirft sie nur eine knappe Mehrheit auch der Alterspension. In Österreich spiegelt sich diese Entwicklung wider, da auch dort für Häftlinge Kranken- und Unfallfürsorge vorgesehen ist und diese auch der Arbeitslosenversicherung unterliegen, allerdings eben nicht dem System der Alterspension.
Im Ergebnis scheint somit kein ausreichender Konsens hinsichtlich der Unterwerfung von Gefängnisarbeitern unter das Alterspensionssystem gegeben. Auch wenn die Gefängnisregeln 2006 einen sich entwickelnden Trend erkennen lassen, kann dies nicht zu einer Verpflichtung unter Art. 4 EMRK führen. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Arbeit des Bf. im Gefängnis, auch ohne dabei dem System der Alterspension unterworfen zu sein, als Arbeit anzusehen ist, die »üblicherweise von einer Person in der Haft zu leisten ist«. Die Arbeit des Bf. ist damit von Art. 4 Abs. 3 lit. a EMRK gedeckt und stellt daher nicht Zwangs- oder Pflichtarbeit iSv. Art. 4 Abs. 2 EMRK dar. Es liegt damit keine Verletzung von Art. 4 EMRK vor (16:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter De Gaetano; Sondervotum von Richterin Tulkens).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK
Der GH ist der Ansicht, dass seine Untersuchung im Rahmen von Art. 4 EMRK alle Aspekte der vom Bf. aufgeworfenen Fragen abdeckt. Deshalb ist es nicht notwendig, die Beschwerde auch unter Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK zu prüfen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Twenty-one Detained Persons/D v. 6.4.1968 (EKMR)
Van Droogenbroeck/B v. 24.6.1982 = EuGRZ 1984, 6
Siliadin/F v. 26.7.2005 = NL 2005, 200
Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 (GK) = NL 2005, 236
Puzinas/LT v. 13.12.2005
Stec u.a./GB v. 12.4.2006 (GK) = NL 2006, 90
Andrejeva/LV v. 18.2.2009 (GK) = NL 2009, 41
Carson u.a./GB v. 16.3.2010 (GK) = NL 2010, 93
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2011, Bsw. 37452/02 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 215) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Stummer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.