JudikaturAUSL EGMR

Bsw23459/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
07. Juli 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Bayatyan gg. Armenien, Urteil vom 7.7.2011, Bsw. 23459/03.

Spruch

Art. 4 Abs. 3 EMRK, Art. 9 EMRK - Verurteilung wegen Wehrdienstverweigerung.

Verletzung von Art. 9 EMRK (16:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 10.000,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. besuchte seit 1997 religiöse Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas. Er ist selbst Zeuge Jehovas und wurde am 18.9.1999 im Alter von 16 Jahren getauft.

Am 16.1.2001 wurde der Bf. aufgefordert, sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, in deren Folge er als wehrdiensttauglich befunden wurde. Am 1.4.2001 schickte er Schreiben an den Generalstaatsanwalt, den Wehrbeauftragten und die Menschenrechtskommission der Nationalversammlung, in denen er zum Ausdruck brachte, dass er den Wehrdienst verweigere, aber bereit sei, alternativ Zivildienst zu leisten.

Der Bf. wurde dann für den 15.5. einberufen. Am Abend davor verließ er jedoch sein Zuhause.

Wegen der Entziehung vor der Einberufung wurde im August 2001 ein Strafverfahren gegen den Bf. eingeleitet. Der Bf. beschwerte sich dagegen am 8.8. beim Generalstaatsanwalt, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Am 1.10.2001 wurde u.a. beschlossen, Anklage gegen den Bf. zu erheben sowie beim Gericht um Genehmigung der Untersuchungshaft und der Überwachung seiner Korrespondenz anzusuchen. Das zuständige Gericht genehmigte dies am 2.10. auch. Davon wurden weder der Bf. noch dessen Familie informiert.

Am 26.4.2002 trat die EMRK für Armenien in Kraft.

Nachdem der Bf. erfahren hatte, dass er sich auf der Fahndungsliste befand, stellte er sich am 5.9.2002 und wurde in der Folge angehalten. Am 11.9. wurde dem Bf. erstmals die Anklage zugestellt. Ende Oktober fand der Prozess statt, in dem der Bf. für schuldig befunden und zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Am 24.12.2002 erhöhte das Berufungsgericht aufgrund des vom Staatsanwalt erhobenen Rechtsmittels die Strafe auf zwei Jahre und sechs Monate.

Der Bf. ging dagegen in Berufung, doch bestätigte das Kassationsgericht das Urteil am 24.1.2003.

Am 22.7.2003 wurde der Bf. nach circa zehneinhalb Monaten auf Bewährung aus der Haft entlassen.

Am selben Tag reichte er eine Beschwerde beim GH ein. Die III. Kammer entschied am 27.10.2009, dass keine Verletzung von Art. 9 EMRK vorlag. Auf Ersuchen des Bf. wurde am 10.5.2010 beschlossen, den Fall gemäß Art. 43 EMRK an die Große Kammer zu verweisen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt aufgrund seiner Verurteilung wegen der Verweigerung des Wehrdienstes eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

Die III. Kammer des GH entschied 2009, dass Art. 9 iVm. Art. 4 Abs. 3 lit. b EMRK gelesen werden müsse und daher die Anerkennung von Wehrdienstverweigerern den Mitgliedstaaten überlassen bleibe. Art. 9 EMRK garantierte somit kein Recht, den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern und wäre daher im Fall des Bf. nicht anwendbar. Seine Verurteilung wegen Wehrdienstverweigerung stellte daher keine Verletzung der EMRK dar.

Zur Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK

Die Regierung bestritt die Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK auf den vorliegenden Fall mit Verweis auf die Rechtsprechung der Kommission, während der Bf. und die Drittbeteiligten diese Rechtsprechung in Frage stellten, da sie nicht mehr zeitgemäß wäre.

Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsprechung

Der GH beobachtet, dass die ursprüngliche Position der Kommission im Fall Grandrath/D zu finden ist, wo es um einen Zeugen Jehovas ging, der nicht nur vom Wehr-, sondern auch vom ersatzweisen Zivildienst freigestellt werden wollte. Die Kommission stellte fest, dass Art. 4 EMRK eine Bestimmung enthielt, die explizit auf die Frage von Ersatzdiensten anstelle des Wehrdienstes Bezug nahm. Da Art. 4 ausdrücklich anerkannte, dass Wehrdienstverweigerern anstelle des Wehrdienstes ersatzweise Zivildienst auferlegt werden kann, kam sie zu dem Schluss, dass eine Person nach der Konvention nicht auch davon befreit werden kann. Die Kommission sah es allerdings als überflüssig an, den Fall unter Art. 9 EMRK zu subsumieren und schloss damit, dass die Bestimmung allein betrachtet nicht verletzt sei.

Im Fall X./A befand die Kommission, dass sie bei der Auslegung von Art. 9 EMRK auch Art. 4 Abs. 3 zu beachten habe. Danach wurde den Mitgliedstaaten nämlich eine Wahlmöglichkeit eingeräumt, ob sie Wehrdienstverweigerer anerkannten oder nicht und ob sie einen Ersatzdienst vorsahen. Art. 9 iVm. Art. 4 Abs. 3 EMRK konnte deshalb die Staaten, die Wehrdienstverweigerer nicht anerkannten, nicht daran hindern, Personen zu bestrafen, die den Wehrdienst verweigerten. Die Sichtweise, dass die Konvention kein Recht auf Wehrdienstverweigerung enthält, wurde von der Kommission in der Folge mehrfach bestätigt, wobei immerhin anerkannt wurde, dass die Sachverhalte in den Geltungsbereich von Art. 9 EMRK fielen.

Zum Bedarf, diese Rechtsprechung zu ändern

Auch wenn es im Interesse der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz ist, dass der GH nicht ohne guten Grund von Entscheidungen in früheren Fällen abgehen darf, so würde die Nichterhaltung einer dynamischen und evolutiven Herangehensweise durch den GH unter Umständen Reformen und Verbesserungen verhindern. Es ist von großer Bedeutung, dass die EMRK so ausgelegt und angewendet wird, dass ihre Rechte praxisnah und effektiv und nicht theoretisch und illusorisch sind.

Der GH bemerkt, dass er bislang noch nie über die Frage der Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK auf Wehrdienstverweigerer entschieden hat. Anders die Kommission, die eine Verbindung zwischen Art. 9 und Art. 4 Abs. 3 EMRK herstellte und feststellte, dass Letzterer den Mitgliedstaaten eine Wahlmöglichkeit einräumte, ob sie ein Recht auf Wehrdienstverweigerung anerkannten. Damit waren jedoch Wehrdienstverweigerer vom Schutzbereich des Art. 9 EMRK ausgeschlossen.

Der GH ist allerdings mit Verweis auf die Travaux préparatoires nicht überzeugt, dass diese Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EMRK den wahren Zweck und die wahre Bedeutung der Bestimmung widerspiegelt. Art. 4 Abs. 3 selbst anerkennt nämlich weder ein Recht auf Wehrdienstverweigerung noch schließt er ein solches aus. Deshalb kann ihm auch keine einschränkende Wirkung auf die gemäß Art. 9 EMRK garantierten Rechte zuerkannt werden.

Der GH ist sich im Übrigen bewusst, dass die restriktive Auslegung von Art. 9 EMRK durch die Kommission ein Spiegelbild der damalig vorherrschenden Sichtweise darstellt. Die letzte Entscheidung der EKMR datiert allerdings aus 1995. Zwischenzeitlich haben sich wichtige Entwicklungen sowohl auf der nationalen Ebene der Mitgliedstaaten als auch international ergeben.

Der GH erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Konvention ein »living instrument« darstellt und im Lichte der aktuellen Bedingungen und unter den in demokratischen Staaten heute vorherrschenden Sichtweisen ausgelegt werden muss. Der GH hat deshalb die sich ändernden Bedingungen in den Mitgliedstaaten zu beachten und etwa einen entstehenden Konsens hinsichtlich der anzustrebenden Standards zu berücksichtigen. Er kann und muss bei der Auslegung der Konvention auch Elemente des internationalen Rechts jenseits der Konvention in Betracht ziehen (sowie die Auslegung derselben durch die zuständigen Organe).

Der GH bemerkt, dass Ende der 1980er-Jahre und in den 1990er-Jahren ein offensichtlicher Trend in europäischen Ländern existierte, ein Recht auf Wehrdienstverweigerung anzuerkennen. Bereits zur für den Fall maßgeblichen Zeit war beinahe ein diesbezüglicher Konsens unter den Mitgliedstaaten des Europarats erreicht. Der GH hält auch fest, dass Armenien selbst dieses Recht nach der Entlassung des Bf. aus dem Gefängnis und dem Einbringen der vorliegenden Beschwerde anerkannt hat.

Der GH verweist auch auf internationale Entwicklungen und insbesondere auf die Auslegung der Art. 8 und 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, die den Art. 4 und 9 EMRK ähnlich sind, durch den UN-Menschenrechtsausschuss. Dieser ging ursprünglich von der gleichen Sichtweise aus wie die Kommission, legte jedoch 1993 in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 22 fest, dass ein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Art. 18 IPBPR abgeleitet werden könne, soweit die Verpflichtung, tödliche Gewalt anwenden zu müssen, ernsthaft in Konflikt mit der Freiheit des Gewissens und dem Recht, seine Religion oder seine Weltanschauung zu bekennen, treten kann.

Der GH erwähnt weiters die Europäische Grundrechtecharta, die in Art. 10 Abs. 2 bestimmt, dass das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach Maßgabe der einzelstaatlichen Gesetze anerkannt wird, die die Ausübung dieses Rechts regeln. Dieser Zusatz zu Art. 10 Abs. 1 der Charta, der Art. 9 Abs. 1 EMRK fast wörtlich entspricht, spiegelt die einhellige Anerkennung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung durch die Mitgliedstaaten der EU genauso wider wie das Gewicht, das diesem Recht in der modernen

europäischen Gesellschaft zugestanden wird.

Auch im Rahmen des Europarates wurde die Anerkennung des Rechts mehrfach eingefordert und sogar zu einer Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten gemacht.

Der GH kommt somit zum Ergebnis, dass sowohl das nationale Recht der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates als auch die internationalen Instrumente sich dahingehend entwickelt haben, dass zum für den Fall maßgeblichen Zeitpunkt bereits ein annähernder Konsens existierte.

Im Lichte der vorangegangenen Ausführungen und in Übereinstimmung mit dem »living instrument«-Ansatz ist der GH deshalb der Ansicht, dass die Rechtsprechung der Kommission nicht bestätigt werden kann und dass Art. 9 EMRK nicht länger in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EMRK gelesen werden darf. Die Beschwerde des Bf. ist folglich lediglich nach Art. 9 EMRK zu beurteilen.

Der GH bemerkt diesbezüglich, dass sich Art. 9 EMRK nicht explizit auf ein Recht auf Wehrdienstverweigerung bezieht. Er berücksichtigt allerdings, dass Wehrdienstverweigerung, die von einem ernsthaften und unüberwindbarem Konflikt zwischen der Verpflichtung zum Wehrdienst und dem Gewissen einer Person bzw. ihrer tiefen und aufrichtigen religiösen oder anderweitigen Weltanschauung getragen wird, eine ausreichende Überzeugung oder Weltanschauung darstellt, um die Garantien des Art. 9 EMRK auf den Plan zu rufen. Ob und in welchem Ausmaß Wehrdienstverweigerung in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, muss im Lichte der besonderen Umstände des Einzelfalles beurteilt werden.

Da der Bf. ein Zeuge Jehovas ist und diese aus ihrer Überzeugung und Weltanschauung heraus auch gegen unbewaffneten Dienst im Rahmen des Militärs sind, zweifelt der GH nicht daran, dass die Wehrdienstverweigerung auf einer den genannten Kriterien entsprechenden religiösen Überzeugung des Bf. beruht. Art. 9 EMRK ist somit auf den Fall anzuwenden.

Einhaltung von Art. 9 EMRK

Der GH berücksichtigt, dass die Entziehung des Bf. vor dem Wehrdienst ein Bekenntnis seiner religiösen Überzeugung und seine Verurteilung deswegen einen Eingriff in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, darstellt. Ein solcher Eingriff verstößt dann nicht gegen Art. 9 EMRK, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, eines oder mehrere der legitimen Ziele nach Abs. 2 verfolgt und notwendig in einer demokratischen Gesellschaft ist.

Der GH stellt fest, dass die nationalen Bestimmungen zugänglich und ausreichend klar umschrieben waren. Er weist jedoch darauf hin, dass diese nationalen Bestimmungen mit der von Armenien im Zuge des Beitritts zum Europarat abgegebenen Erklärung, Alternativen zum Wehrdienst zu schaffen, in Widerspruch stehen. Der GH erachtet es unter Verweis auf seine Ausführungen zur Notwendigkeit des Eingriffs nicht für notwendig, diesen Konflikt aufzulösen und lässt die Frage, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, deshalb offen.

Der GH sieht die von der Regierung vorgebrachten Ziele des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der Rechte anderer für den Fall nicht als überzeugend an, da Armenien zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits die Einrichtung von Alternativen zum Wehrdienst und das Absehen von der Verurteilung zukünftiger Wehrdienstverweigerer zugesichert hatte. Der GH sieht jedoch davon ab, dies genauer zu

untersuchen, da der Eingriff aus den unten angeführten Gründen ohnehin nicht mit Art. 9 Abs. 2 EMRK vereinbar ist.

Die in Art. 9 EMRK verbürgte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit stellt einen der Eckpfeiler einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der EMRK dar. Diese Freiheit ist in ihrer religiösen Dimension eines der grundlegendsten jener Elemente, die die Identität Gläubiger und ihre Vorstellung vom Leben ausmachen. Sie ist aber gleichzeitig auch ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Ungläubige und Gleichgültige. Der untrennbar mit einer demokratischen Gesellschaft verbundene Pluralismus hängt davon ab. Diese Freiheit bringt auch die Freiheit mit sich, religiöse Überzeugungen beizubehalten und eine Religion auszuüben oder nicht.

Um die Reichweite des Ermessensspielraumes im vorliegenden Fall festzulegen, muss der GH beachten, was auf dem Spiel steht, nämlich das für das Überleben einer demokratischen Gesellschaft grundlegende Bedürfnis, wahren religiösen Pluralismus zu erhalten. Der GH kann dabei auch auf einen Konsens oder andere gemeinsame Werte Rücksicht nehmen, die aus der Praxis der Mitgliedstaaten der Konvention ersichtlich sind.

Da mittlerweile beinahe alle Mitgliedstaaten des Europarates, die eine Wehrpflicht vorgesehen haben/hatten, Alternativen dafür eingerichtet haben, um dem möglichen Konflikt zwischen individuellem Gewissen und militärischen Verpflichtungen entgegenzutreten, kann einem Staat, der das nicht gemacht hat, lediglich ein begrenztes Ermessen zuerkannt werden. Dieser muss daher überzeugende und zwingende Gründe anführen, um einen Eingriff zu rechtfertigen und insbesondere zeigen, dass der Eingriff einem zwingenden gesellschaftlichen Bedürfnis folgt.

Der GH kann nun nicht übersehen, dass der Bf. als Zeuge Jehovas die Freistellung vom Wehrdienst nicht aus persönlichem Nutzen, sondern aufgrund seiner tatsächlichen religiösen Überzeugungen suchte. Da zur betreffenden Zeit in Armenien kein alternativer Zivildienst vorgesehen war, hatte der Bf. keine andere Wahl, als der Einberufung nicht zu folgen, um seinen Überzeugungen treu zu bleiben und dadurch strafrechtliche Sanktionen zu riskieren. Das existierende System sah keine Ausnahmen aus Gewissensgründen vor und bestrafte jene, die sich wie der Bf. weigerten, Wehrdienst zu leisten. Nach Ansicht des GH gelingt es einem solchen System nicht, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Gesellschaft und jenen des Bf. zu schaffen. Die Auferlegung einer Strafe gegenüber dem Bf. konnte unter Umständen, wo sein Gewissen und seine Überzeugungen nicht berücksichtigt wurden, nicht als eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahme gesehen werden. Dies gilt umso mehr, als gangbare und effektive Alternativen existiert hätten, um den widerstrebenden Interessen Rechnung zu tragen. Dies zeigt sich auch in den Erfahrungen der überwiegenden Mehrheit der anderen europäischen Staaten.

Der GH gesteht ein, dass die Wehrpflicht den Bürgern eine empfindliche Last auferlegt. Sie ist allerdings akzeptabel, wenn sie gerecht verteilt wird und Ausnahmen davon aus haltbaren und überzeugenden Gründen möglich sind. Der GH hat bereits festgestellt, dass der Bf. Gründe vorgebracht hat, um eine Ausnahme zu rechtfertigen. Er bemerkt im Übrigen, dass der Bf. sich nie geweigert hat, seinen bürgerlichen Pflichten im Allgemeinen nachzukommen und die Behörden sogar explizit um die Möglichkeit, einen alternativen Dienst versehen zu dürfen, gebeten hat. Der Bf. war somit bereit, die gesellschaftliche Last mit seinen Landsleuten unter Wehrpflicht in gleichem Ausmaß zu teilen. Mangels einer solchen Möglichkeit hatte der Bf. allerdings stattdessen eine Gefängnisstrafe zu verbüßen.

Respekterweisung von Seiten des Staates gegenüber den Überzeugungen einer religiösen Minderheit wie jener des Bf. dadurch, dass ihren Mitgliedern die Möglichkeit eingeräumt wird, der Gesellschaft so zu dienen, wie es ihnen von ihrem Gewissen vorgegeben wird, kann entgegen den von der Regierung angeführten Befürchtungen dadurch entstehender Ungleichheiten oder Diskriminierungen sogar einen zusammenhaltenden und tragfähigen Pluralismus sichern und religiöse Eintracht und Toleranz fördern.

Der GH weist zuletzt auch darauf hin, dass die Verfolgung und Verurteilung des Bf. zu einer Zeit erfolgte, als Armenien bereits offiziell versprochen hatte, alternative Dienste zur Wehrpflicht innerhalb einer bestimmten Zeit vorzusehen. Die Verurteilung des Bf. wegen Wehrdienstverweigerung war daher in direktem Widerspruch zur offiziellen Politik, die auf Reform und gesetzliche Veränderungen zur Umsetzung der internationalen Verpflichtungen ausgerichtet war. Sie kann folglich nicht als einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechend angesehen werden. Dies gilt umso mehr, als das Gesetz zur Einrichtung alternativer Dienste weniger als ein Jahr nach der endgültigen Verurteilung des Bf. angenommen wurde. Die spätere Entlassung des Bf. auf Bewährung spielt für die Beurteilung keine Rolle.

Die Verurteilung des Bf. stellte somit einen Eingriff dar, der nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Es erfolgte daher eine Verletzung von Art. 9 EMRK (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Gyulumyan).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 10.000,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Gyulumyan).

Vom GH zitierte Judikatur:

Grandrath/D v. 12.12.1966 (EKMR)

X./A v. 2.4.1973 (EKMR)

Manoussakis u.a./GR v. 26.9.1996 = NL 1996, 138 = ÖJZ 1997, 352

Metropolitan Church of Bessarabia/MD v. 13.12.2001 = NL 2001, 250

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 7.7.2011, Bsw. 23459/03 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 211) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Bayatyan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise