Bsw66274/09 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesachen Liga der Muslime in der Schweiz u.a. gg. die Schweiz und Ouardiri gg. die Schweiz, Zulässigkeitsentscheidungen vom 28.6.2011, Bsw. 66274/09 und Bsw. 65840/09.
Spruch
Art. 9 EMRK, Art. 13 EMRK, Art. 14 EMRK, Art. 34 EMRK - Verbot des Baus von Minaretten.
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich Art. 9 EMRK (mehrheitlich).
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich Art. 14 iVm Art. 9 EMRK (mehrheitlich).
Unzulässigkeit der Beschwerden hinsichtlich Art. 13 iVm Art. 14 und Art. 9 EMRK hinsichtlich des Bf. des zweiten Falles (mehrheitlich).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf. im ersten Fall handelt es sich um drei Vereine, namentlich die Liga der Muslime in der Schweiz mit Sitz in Prilly (Kanton Waadt), den muslimischen Kulturverein Neuchâtel und den Genfer muslimischen Verein sowie eine Stiftung, nämlich die muslimische Gemeinschaft Genf. Alle sind nach Schweizer Recht organisiert und haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Interessen von in der Schweiz lebenden Muslimen zu unterstützen.
Der Bf. im zweiten Fall ist französischer Staatsangehöriger, aber im Kanton Waadt ansässig. Er ist muslimischen Glaubens und arbeitet für die Stiftung »Fondation de l’Entre-connaissance« mit Sitz in Genf, deren Ziel es insbesondere ist, den kulturellen Austausch zu fördern.
Am 8.7.2008 wurde bei der Schweizerischen Bundeskanzlei die Volksinitiative »Gegen den Bau von Minaretten« eingereicht, die auf eine entsprechende Verfassungsänderung abzielte. Da ausreichend Unterschriften vorlagen, brachte der Schweizerische Bundesrat am 27.8.2008 bei der Bundesversammlung einen Vorschlag hinsichtlich der Initiative ein, in dem er allerdings auch auf die menschenrechtliche Problematik hinwies. Die Bundesversammlung erklärte die Initiative am 12.6.2009 für gültig und ordnete eine Volksabstimmung an. Diese erfolgte am 29.11.2009. 57,5% der Wähler sowie 17 Kantone und 5 Halbkantone unterstützten die Initiative, was für eine Verfassungsänderung ausreichend war. Der neue Art. 72 Abs. 3 der Verfassung lautet seither: »Der Bau von Minaretten ist verboten.«
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. des ersten Falles rügen eine Verletzung der Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), da das Bauverbot für Minarette die Religionsfreiheit verletze und eine Diskriminierung in Hinblick auf die Religion darstelle.
Der Bf. des zweiten Falles rügt zusätzlich, dass er in Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) verletzt sei, da er kein wirksames Rechtsmittel habe, um feststellen zu lassen, dass die Verfassungsänderung gegen die EMRK verstoße.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 und Art. 14 EMRK
Der Begriff des Opfers iSd. Art. 34 EMRK ist autonom und unabhängig vom innerstaatlichen Verständnis zu sehen. Darunter fallen in erster Linie direkte Opfer, also Personen, die von den angeblich einen Eingriff begründenden Tatsachen direkt betroffen sind.
Der GH nimmt ausnahmsweise auch Beschwerden von Personen an, die lediglich indirekt von der vermeintlichen Konventionsverletzung beeinträchtigt werden. In ganz außergewöhnlichen Fällen anerkennt der GH auch die Opfereigenschaft von Personen, die von den angeblich zu einem Eingriff führenden Handlungen lediglich potentiell betroffen sind.
Es muss aber in jedem Fall ein Bezug zwischen dem Bf. und dem vermeintlich aus der gerügten Verletzung erlittenen Schaden gegeben sein. Die Konvention beabsichtigt nämlich nicht, Popularklagen zum Zwecke der Auslegung der in ihr enthaltenen Rechte zu ermöglichen. Sie autorisiert Beschwerdeführer auch nicht, sich über eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts zu beklagen, ohne dass sie selbst deren Auswirkungen zu spüren bekommen haben, nur weil ihnen scheint, dass diese gegen die Konvention verstößt.
Auch wenn die Bf. des ersten Falles als ideelle Vereine sich nicht selbst als Opfer von Maßnahmen sehen können, die die Rechte beeinträchtigen, die die Konvention ihren Mitgliedern zuerkennt, so lässt es der GH dagegen zu, dass sich Vereine gegen Maßnahmen beschweren, die den Abgang von Mitgliedern und den Verlust ihres eigenen Ansehens zur Folge haben.
Für den gegenständlichen Fall weist der GH darauf hin, dass die Vereine der Bf. des ersten Falles nicht zum Ziel haben, Moscheen mit Minaretten zu bauen. Sie haben auch genausowenig wie der Bf. des zweiten Falles behauptet, die Errichtung solcher Bauwerke zu beabsichtigen. Sie sind damit nicht direkte Opfer der behaupteten Konventionsverletzung. Da es sich bei den Bf. des ersten Falles um juristische Personen handelt, kommen sie auch nicht als indirekte Opfer in Betracht. Es bleibt somit nur noch die Frage, ob den Bf. eine potentielle Opfereigenschaft zukommt, insoweit als die Verfassungsänderung geeignet ist, die Verwirklichung ihres sozialen Zieles zu behindern, die in der Schweiz lebenden Muslime kulturell und geistig zu unterstützen.
Der GH betont, dass die Bf. keine Anwendung der neuen Verfassungsbestimmung vorgebracht oder behauptet haben, dass diese irgendeine konkrete Wirkung entfaltet hat. Die Bf. des ersten Falles rügen insbesondere auch keinen Mitgliederschwund oder Prestigeverlust. Ihre Aktivitäten werden daher von der Verfassungsänderung nicht berührt.
Der GH ist auch der Meinung, dass die Schweizer Gerichte in der Lage sind, zu prüfen, ob eine mögliche Verweigerung der Baugenehmigung für Minarette mit der Konvention vereinbar ist.
Da die Beschwerden lediglich darauf abzielen, eine verfassungsrechtliche Bestimmung anzufechten und die Bf. keine außergewöhnlichen Umstände nachgewiesen haben, die ihre Opfereigenschaft rechtfertigen könnten, kommt der GH zum Schluss, dass in beiden Fällen eine Popularklage vorliegt, die ratione personae nicht mit der Konvention vereinbar ist. Die Beschwerde ist somit gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK als unzulässig zurückzuweisen (mehrheitlich).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 9 und Art. 14 EMRK
Der GH erinnert daran, dass nach Art. 13 EMRK nicht auch eine Beschwerdemöglichkeit gegeben sein muss, mit der man die Gesetzgebung eines Staates anfechten kann, weil sie als solche bereits der Konvention widerspricht. Da es nun im konkreten Fall um den Inhalt einer Verfassungsbestimmung geht, nicht aber um eine individuelle Anwendung derselben, ist die Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK offensichtlich unbegründet und daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 EMRK zurückzuweisen (mehrheitlich).
Vom GH zitierte Judikatur:
Klass u.a./D v. 6.9.1978 = EuGRZ 1979, 278
Grande Oriente d’Italia di Palazzo Giustiniani/I v. 2.8.2001 = NL 2001, 163
Fédération chrétienne des témoins de Jéhovah de France/F v. 6. 11.2001 (ZE)
Burden/GB v. 29.4.2008 (GK) = NL 2008, 105
Sejdic und Finci/BIH v. 22.12.2009 (GK) = NL 2010, 10
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidungen des EGMR vom 28.6.2011, Bsw. 66274/09 und Bsw. 65840/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 206) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung "Liga der Muslime in der Schweiz gegen die Schweiz" im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_4/Liga der Muslime.pdf
Die Originale der Zulässigkeitsentscheidungen sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.