JudikaturAUSL EGMR

Bsw38058/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Juni 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Osman gg. Dänemark, Urteil vom 14.6.2011, Bsw. 38058/09.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK - Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis einer Minderjährigen.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 4 EMRK, Art. 13 EMRK sowie Art. 2 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden, € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. wurde 1987 in Somalia geboren. Von 1991 bis 1995 lebte sie mit ihrer Familie in Kenia. Ihr Vater und eine ihrer Schwestern erhielten im April 1994 Asyl in Dänemark. Nachdem ihr Aufenthalt in Dänemark im November 1994 genehmigt worden war, zogen die Bf. im Alter von sieben Jahren, ihre Mutter und drei weitere Geschwister nach. Einige Jahre später ließen sich die Eltern scheiden, behielten jedoch das gemeinsame Sorgerecht für die Bf.

Im Mai 2003, als die Bf. 15 Jahre alt war, entschied ihr Vater, sie nach Kenia zu bringen, wo sie im Flüchtlingslager Hagadera ihre Großmutter pflegen sollte. Offenbar stimmte die Mutter nur widerwillig und in dem Glauben zu, die Tochter verreise nur für kurze Zeit. Die Bf. glaubte offenbar ebenso, sie besuche die Großmutter nur kurz.

Am 9.8.2005 beantragte die Bf. bei der dänischen Botschaft in Nairobi, nach Dänemark zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern zurückkehren zu dürfen. Am 21.12.2006 stellte die Immigrationsbehörde fest, dass die Aufenthaltserlaubnis der Bf. gemäß § 17 Fremdengesetz erloschen sei, da sie für mehr als zwölf aufeinander folgende Monate Dänemark verlassen habe und sie die Immigrationsbehörde nicht rechtzeitig kontaktiert habe. Eine neue Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 1 (ii) Fremdengesetz stehe ihr nicht zu, weil diese Bestimmung ein Recht auf Familienzusammenführung nur für Kinder unter 15 Jahren festlege, die Bf. jedoch bereits 17 Jahre alt sei. Außerdem lägen keine besonderen Umstände vor, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 9c Abs. 1 Fremdengesetz (Anm: Diese Bestimmung sieht den Erlass einer Aufenthaltserlaubnis in Ausnahmefällen vor, etwa um dem Prinzip der Familieneinheit Rechnung zu tragen) rechtfertigten. Die Bf. habe ihre Mutter jahrelang nicht gesehen, diese habe ihre Tochter freiwillig nach Kenia geschickt und die Bf. könne ihr Familienleben mit der Mutter im selben Ausmaß fortsetzen wie bisher.

Im April 2007 berief die Bf. gegen diese Entscheidung. Im Juni 2007 reiste sie illegal nach Dänemark ein. Im Juli erhielt die Immigrationsbehörde ein Formular, das zur Beantragung einer Ausnahme in Bezug auf erloschene Aufenthaltsgenehmigungen diente und das von der Bf. teilweise ausgefüllt war. Im Oktober 2007 bestätigte die Migrationsbehörde die Entscheidung vom 21.12.2006. Das Stadtgericht Kopenhagen entschied ebenfalls gegen die Bf. und betonte, dass § 9 Abs. 1 (ii) Fremdengesetz 2004 geändert worden sei und das Recht auf Familienzusammenführung nur mehr Kindern unter 15 Jahren und jenen zwischen 15 und 18 Jahren nicht mehr zustehe. Dies solle die Eltern davon abbringen, ihre Kinder auf so genannte »Umerziehungstrips« zu schicken, um deren Erziehung in einer Weise zu erreichen, die ihrer Meinung nach mehr ihrer ethnischen Abstammung entspricht. Der Gesetzgeber sei der Ansicht, ausländische Minderjährige sollten so viele Entwicklungsjahre wie möglich in Dänemark verbringen.

Die Bf. legte erfolglos Berufung ein. Ein Rechtsmittel an das Höchstgericht wurde am 19.1.2008 abgelehnt.

Am 27.1.2010 wurde die Bf. über ihre Pflicht unterrichtet, das Land zu verlassen. Sie wurde auch über die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, informiert, dies tat sie jedoch nicht.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt vor allem Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe) sowie unter Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Die Bf. behauptet, sie habe ihrer Angst, nach Somalia zurückzukehren, in dem Formular vom Juli 2007 Ausdruck verliehen. Die Behörden hätten dieses Formular daher als Asylantrag werten müssen.

Der GH merkt an, dass die Bf. keinen Asylantrag stellte, obwohl die Behörden sie diesbezüglich anleiteten. Die dänischen Behörden hatten daher keine Gelegenheit, zu bewerten, ob die Bf. in Somalia der Gefahr einer Art. 3 EMRK entgegenstehenden Behandlung ausgesetzt worden wäre. Die Beschwerde ist wegen Nichterschöpfung des nationalen Instanzenzugs gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK unzulässig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. rügt des Weiteren, dass die Weigerung, ihre Aufenthaltserlaubnis wieder in Kraft zu setzen, ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt habe.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig und wird daher für zulässig erklärt (einstimmig).

Als die Bf. im August 2005 beantragte, mit ihrer Familie wieder vereint zu werden, war sie minderjährig. Als die Entscheidung, mit der die Wiedereinsetzung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde, am 9.1.2008 in Rechtskraft erwuchs, hatte die Bf. die Volljährigkeit erreicht. In einigen Fällen hat der GH akzeptiert, dass die Beziehung junger Erwachsener, die noch keine eigene Familie gegründet haben, zu den Eltern und anderen engen Familienmitgliedern »Familienleben« darstellt. Des Weiteren stellt die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen sesshaften Migranten und der Gemeinschaft, in der sie leben, einen Teil des Konzepts des »Privatlebens« iSv. Art. 8 EMRK dar. Die strittigen Maßnahmen griffen daher sowohl in das »Privatleben« als auch in das »Familienleben« der Bf. ein.

Der Eingriff basierte auf § 17 und § 9 Abs. 1 (ii) Fremdengesetz und verfolgte das legitime Ziel, die Immigration zu kontrollieren. Vorliegend ist daher primär zu klären, ob die dänischen Behörden verpflichtet waren, die Aufenthaltserlaubnis der Bf. wieder in Kraft zu setzen, nachdem sie mehr als zwei Jahre in Kenia war.

Die Bf. verbrachte die Entwicklungsjahre ihrer Kindheit und Jugend in Dänemark. Sie spricht dänisch und ging in Dänemark bis August 2002 zur Schule. Ihre geschiedenen Eltern und ihre älteren Geschwister leben in Dänemark. Sie hatte dort also soziale, kulturelle und familiäre Beziehungen. Derartige Beziehungen hatte sie jedoch auch in Kenia und Somalia. Sie lebte zeitweise in beiden Staaten, spricht Somali und hat Familie in Kenia.

Die Bf. bringt vor, die dänischen Behörden seien verpflichtet gewesen, über die Ausübung elterlicher Autorität hinaus zu schauen, um ihr Wohl zu schützen. Es sei offensichtlich gewesen, dass die Entscheidung des Vaters ihrem Wohl entgegen stand.

Der GH merkt an, dass die Ausübung elterlicher Rechte ein fundamentales Element des Familienlebens ist. Die Eltern entscheiden normalerweise im Rahmen der Pflege und Erziehung, wo die Kinder wohnen, und beschränken die Freiheit der Kinder.

Für die Ausweisung eines sesshaften Migranten, der den Großteil seiner Kindheit im Gastgeberstaat verbracht hat, sind sehr schwerwiegende Rechtfertigungsgründe nötig. Die Bf. wurde nicht wegen einer Straftat ausgewiesen, sondern ihr wurde die Wiedereinsetzung ihrer erloschenen Aufenthaltserlaubnis verweigert. Da sie ihre Entwicklungsjahre in Dänemark verbracht hat, dänisch spricht, in Dänemark zur Schule ging und ihre gesamte enge Familie in Dänemark lebt sind auch hier besonders schwerwiegende Gründe nötig, um das Vorgehen der Behörden zu rechtfertigen.

Der GH stellt nicht in Frage, dass § 9 Abs. 1 (ii) Fremdengesetz, der am 1.7.2004 geändert wurde, zugänglich und vorhersehbar war und ein legitimes Ziel verfolgte. Zu klären ist jedoch, ob unter den speziellen Umständen des Einzelfalls die Weigerung, die Aufenthaltserlaubnis wieder in Kraft zu setzen, verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.

Der Fall unterscheidet sich von Ebrahim und Ebrahim/NL, da vorliegend der Bf. 1994 eine Aufenthaltserlaubnis bereits erteilt worden war und sie acht Jahre ihrer Kindheit und Jugend legal in Dänemark verbracht hatte. Außerdem wurde sie im Alter von 15 Jahren in ein Land geschickt, das nicht ihr Heimatland war.

Obwohl die gegenständliche Gesetzgebung bezweckte, Eltern davon abzubringen, ihre Kinder zur Umerziehung in das Heimatland zu schicken, kann das Recht der Kinder auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nicht ignoriert werden. Die Bf. brachte vor, dass ihr Aufenthalt in Kenia unfreiwillig war, sie keine Möglichkeit hatte, das Flüchtlingslager zu verlassen, und dass die Entscheidung ihres Vaters, sie nach Kenia zu schicken, nicht ihrem Wohl entsprach. Die Behörden gingen auf diese Aspekte zwar ein, entschieden jedoch gegen die Bf., da ihre Eltern berechtigt gewesen seien, Entscheidungen über die persönlichen Umstände der Bf. zu treffen. Der GH merkt an, dass die Behörden durch § 9c Fremdengesetz hinsichtlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Ausnahmefällen Ermessensfreiheit genossen, etwa um die Familieneinheit zu berücksichtigen. Auch § 17 Abs. 2 Fremdengesetz erlaubte es den Behörden, in bestimmten Fällen anzunehmen, dass eine Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen sei. Trotzdem entschieden sie gegen die Bf.

Nach Ansicht des GH haben die Behörden zwar die elterlichen Rechte zu beachten, dabei jedoch das Kindeswohl, einschließlich dem Recht des Kindes auf Achtung des Privat- und Familienlebens, zu berücksichtigen.

Die Ansicht der Bf. ihr Recht auf Achtung des Familienlebens betreffend wurde unter anderem durch die Migrationsbehörde missachtet, die sich darauf bezog, dass die Bf. ihre Mutter vier Jahre lang nicht gesehen habe, dass es die freie Entscheidung der Mutter gewesen sei, sie wegzuschicken, und dass die Bf. ein Familienleben mit ihrer Mutter im gleichen Ausmaß genießen könne wie bisher. Der GH ist der Meinung, dass der Umstand, dass die Mutter ihre Tochter in Kenia nicht besuchte, und der eingeschränkte Kontakt durch viele Faktoren erklärt werden können, wie etwa praktische und finanzielle Hindernisse. Daraus kann kaum geschlussfolgert werden, die Bf. und ihre Mutter hätten nicht gewünscht, ihr Familienleben zu erhalten oder zu intensivieren.

Im Mai 2003, als die Bf. im Alter von 15 Jahren Dänemark verließ, wäre es ihr trotz des Erlöschens der Aufenthaltserlaubnis nach zwölf Monaten möglich gewesen, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 9 Abs. 1 (ii) Fremdengesetz zu beantragen. Diese Bestimmung wurde jedoch 2004 geändert, als die Bf. noch in Kenia war. Der GH stellt die geänderte Bestimmung nicht in Frage, merkt jedoch an, dass diese Änderung für die Eltern der Bf. nicht vorhersehbar war, als sie entschieden, ihr Kind nach Kenia zu schicken, oder als die Zwölfmonatsfrist verstrichen war.

Aufgrund dieser Umstände kann nicht gesagt werden, dass die Behörden das Interesse der Bf. ausreichend berücksichtigt oder einen fairen Ausgleich zwischen dem Interesse der Bf. und jenem des Staates, die Immigration zu kontrollieren, geschaffen hätten. Es ist eine Verletzung von Art. 8 EMRK festzustellen (einstimmig).

Zu den weiteren behaupteten Verletzungen

Die Bf. behauptet außerdem Verletzungen von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) sowie von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung). Keiner dieser Beschwerdepunkte wurde jedoch materiell vor den nationalen Gerichten geltend gemacht. Dieser Teil der Beschwerde ist daher wegen Nichterschöpfung des nationalen Instanzenzugs gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK unzulässig (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 6.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Nielsen/DK v. 28.11.1988 = ÖJZ 1989, 666

Ebrahim und Ebrahim/NL v. 18.3.2003 (ZE)

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK) = NL 2008, 157 = ÖJZ 2008, 779

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.6.2011, Bsw. 38058/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 159) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_3/Osman.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise