Bsw50084/06 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache RTBF gg. Belgien, Urteil vom 29.3.2011, Bsw. 50084/06.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 10 EMRK - Einstweiliges Verbot der Ausstrahlung einer TV-Sendung.
Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Die Feststellung einer Verletzung ist eine ausreichende Entschädigung (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Das bf. Unternehmen, RTBF, ist eine Rundfunkgesellschaft, deren Zielgruppe die französischsprachige Gemeinschaft in Belgien ist. Seit vielen Jahren produzierte die Bf. eine monatliche Sendung mit dem Titel "Au nom de la loi" (Im Namen des Gesetzes), die sich mit gerichtlichen Angelegenheiten auseinandersetzte.
Für den 24.10.2001 wurde die Ausstrahlung einer Folge dieser Sendung bezüglich medizinischer Risiken geplant, die auch allgemein über Patientenrechte und die Schwierigkeiten von Patienten im Bereich der Kommunikation und Information informieren sollte. Beispielhaft sollten die Fälle von fünf Patienten eines Neurochirurgen, D. B., herangezogen werden. Aufmerksam wurden die Produzenten auf diese Fälle, da etwa ein Jahr zuvor in verschiedenen Zeitungen Vorwürfe gegen D. B. in Bezug auf seine medizinische Tätigkeit veröffentlicht worden waren, gegen die dieser keinerlei Schritte gesetzt hatte. D. B. lehnte es zwar ab, Fernsehinterviews für das erwähnte Programm zu geben, erklärte sich jedoch dazu bereit, in Anwesenheit seines Anwalts einige Fragen der Journalisten zu beantworten.
Am 3.10.2001 wurde die Bf. vor den Präsidenten des Gerichts erster Instanz Brüssel vorgeladen, da D. B. in einem Eilverfahren ein einstweiliges Verbot der Ausstrahlung des Programms beantragt hatte. Diesem Antrag wurde mit Entscheidung vom 24.10.2001 stattgegeben und ein Zwangsgeld von zwei Millionen belgischen Franken für den Fall der Nichtbefolgung der Anordnung festgelegt. Das Verbot wurde bis zur endgültigen Entscheidung in der Sache befristet.
Die Bf. strahlte das Programm wie geplant aus, ersetzte jedoch den Teil der Sendung, der sich mit den vermeintlichen medizinischen Fehlern des Arztes befasste, durch eine Diskussion zwischen einem Journalisten und dem Produzenten der Sendung, in der die einstweilige Verfügung ausführlich kommentiert und als "Zensur der Pressefreiheit" bezeichnet wurde.
Am 5.11.2001 focht die Bf. die Entscheidung vom 24.10.2001 vor dem Appellationshof Brüssel an. Einen Tag später initiierte D. B. ein Verfahren zur meritorischen Entscheidung der Sache vor dem Gericht erster Instanz Brüssel. Zur Zeit der Einbringung der Beschwerde beim EGMR war dieses Verfahren noch anhängig.
Der Appellationshof stellte am 21.12.2001 per Zwischenurteil fest, dass sich Art. 25 der Verfassung, in dem die Pressefreiheit verbürgt ist, nur auf Printmedien und nicht auf die audiovisuelle Presse beziehe und weder Art. 19 der Verfassung noch Art. 10 EMRK eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit verbieten würden, sofern diese auf einer gesetzlichen Grundlage basiert. Letzteres sei hier der Fall, da der Richter im Verfahren bezüglich der einstweiligen Verfügung berechtigt war, bei "flagranten Verletzungen der Rechte anderer" eine derartige Einschränkung vorzusehen. Das Gericht habe nämlich durch die Ausstrahlung der strittigen Sendung die Ehre, den guten Ruf und das Privatleben des Arztes gefährdet gesehen. Am 10.1.2002 wurde die gesamte Folge der Sendung vor Gericht begutachtet.
In einem zweiten Urteil vom 22.3.2002 erklärte der Appellationshof die Berufung der Bf. für unbegründet. Es sei nicht gezeigt worden, dass die fünf herangezogenen Patientenfälle repräsentativ für das Schaffen des Mediziners seien. Gegen D. B. sei bisher nur eine einzige zivilrechtliche Klage eingebracht worden. Die Berichterstattung der Bf. sei nicht objektiv gewesen und sie habe verabsäumt zu bedenken, wie ein durchschnittlicher Zuseher die präsentierten Informationen wahrnehmen würde. Die Bf. könne sich daher nicht darauf berufen, dass die Sendung im öffentlichen Interesse gelegen sei.
Der Revisionsantrag der Bf. wurde am 2.6.2003 abgelehnt. Der Kassationshof bestätigte die Entscheidung des Appellationshofs bezüglich der einschlägigen Verfassungsbestimmungen und äußerte, dass nach seiner eigenen gefestigten Rechtsprechung die Verfassung, die EMRK und die Zivilprozessordnung (in der Folge: ZPO) Einschränkungen gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK erlaubten. Die Bestimmungen seien ausreichend präzise, um jedermann zu ermöglichen, die rechtlichen Konsequenzen vorherzusehen. Einen Eventualantrag auf Feststellung einer Verletzung von Art. 10 EMRK wies der Kassationshof mit der Begründung zurück, die Bf. hätte sich auf § 584 ZPO stützen müssen, um die Entscheidung des Appellationshofs kritisieren zu können.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die bf. Gesellschaft behauptet, in ihren Rechten nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) verletzt zu sein.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Die Bf. rügt, dass die Zurückweisung ihres Eventualantrags durch den Kassationshof aufgrund eines exzessiven Formalismus, nämlich rein aufgrund der fehlenden Geltendmachung von § 584 ZPO, erfolgte.
1. Zur Zulässigkeit
Die Regierung bringt vor, Art. 6 EMRK sei auf Provisorialverfahren wie dem vorliegenden nicht anwendbar.
Der GH verweist diesbezüglich auf den Fall Micallef/M, in dem er den breiten Konsens der Konventionsstaaten hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in Bezug auf einstweilige Verfügungen unterstrich. In vielen Fällen wird in derartigen Provisorialverfahren die Sache für einen längeren Zeitraum meritorisch entschieden. Ihr Gegenstand sind häufig die gleichen »zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen« iSv. Art. 6 EMRK wie im Verfahren zur Entscheidung in der Sache und sie ziehen die gleichen Folgen nach sich, die trotz des provisorischen Charakters oft nicht mehr rückgängig gemacht werden können.
Vorliegend hatte die Entscheidung vom 24.10.2001 den gleichen Gegenstand wie das Hauptverfahren, nämlich die Ausstrahlung der Sendung zu untersagen, betraf ebenso das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit und auf Verbreitung von Informationen durch die Presse und war sofort vollstreckbar. Art. 6 EMRK ist daher anwendbar. Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).
2. In der Sache
Der GH hat bereits mehrmals festgestellt, dass Förmlichkeiten, die einzuhalten sind, um einen Rechtsbehelf einlegen zu können, dafür anfällig sind, das Recht auf Zugang zu einem Gericht zu beschneiden. Dies ist dann der Fall, wenn die zu formalistische Auslegung der Regelung dazu führt, dass die Prüfung des Rechtsbehelfs in der Sache faktisch verhindert wird.
Vorliegend konnte sich die Bf. zwar an den Kassationshof wenden, dies bedeutet jedoch nicht, dass dadurch bereits ihrem Recht auf Zugang zu einem Gericht iSv. Art. 6 EMRK Genüge getan wurde. § 548 ZPO regelt die Kompetenzen des Richters eines Provisorialverfahrens. Der GH stellt fest, dass die Regel, die der Kassationshof heranzog, um den Eventualantrag der Bf. für unzulässig zu erklären, aus einer Konstruktion der Rechtsprechung hergeleitet wurde, die nicht auf einer Gesetzesbestimmung, sondern auf der speziellen Rolle des Kassationshofs selbst beruht, dessen Kontrolle sich auf Fragen der Gesetzmäßigkeit beschränkt. Die diesbezügliche Rechtsprechung ist des Weiteren nicht einheitlich, da das Rekursgericht in manchen Fällen Rechtsbehelfe gegen einstweilige Verfügungen für zulässig erklärt hatte, obwohl sich die Rechtsmittelwerber nicht auf § 584 ZPO stützten. Der Eventualantrag der Bf. bezog sich auf Art. 10 EMRK und führte präzise die Umstände an, durch die die Bf. diese Bestimmung verletzt sah. Es kann daher nicht argumentiert werden, dass die rechtliche Grundlage, aufgrund der das Gericht das Kontrollverfahren durchführen hätte sollen, nicht erkennbar gewesen sei.
Dies ist für den GH ausreichend, um festzustellen, dass der Kassationshof einen exzessiven Formalismus anwandte, um den Eventualantrag der Bf. für unzulässig zu erklären. Es ist eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Bf. beschwert sich darüber, dass die vorherige Begutachtung der Sendung, die Kontrolle ihres Inhalts und das einstweilige Verbot der Ausstrahlung ihr Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Freiheit, Informationen zu verbreiten, verletzt habe.
1. Zur Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, die Bf. habe den nationalen Instanzenzug nicht ausgeschöpft, da die Entscheidung in der Sache noch anhängig sei.
Der GH kann dem nicht zustimmen. Die Bf. hat in Bezug auf das Provisorialverfahren alle möglichen Rechtsbehelfe ergriffen. Die Entscheidung in der Sache stellt vorliegend keinen effektiven Rechtsbehelf im Sinne der Konvention dar. Information ist nach Ansicht des GH ein vergängliches Gut und selbst eine nur kurze Verzögerung der Veröffentlichung läuft Gefahr, deren Wert und Belang völlig zu untergraben.
Da dieser Beschwerdepunkt weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, wird er für zulässig erklärt (einstimmig).
2. In der Sache
Dass die einstweilige Verfügung in das Recht der Bf. nach Art. 10 EMRK eingreift, ist unbestritten. Fraglich ist, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war.
Eine Norm stellt nur dann ein »Gesetz« iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK dar, wenn sie ausreichend bestimmt ist, sodass sie dem Bürger erlaubt, sein Verhalten danach zu richten: Es muss nach den Umständen des Einzelfalls in einem vernünftigen Grad möglich sein, die Konsequenzen eines konkreten Verhaltens vorherzusehen. Dem steht jedoch nicht entgegen, dass die betroffene Person unter Umständen angehalten ist, sich angemessen darüber zu informieren, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich ziehen kann. Dies gilt insbesondere für Fachleute, die es gewohnt sind, bei der Ausübung ihres Berufs mit besonderer Vorsicht vorgehen zu müssen. Von diesen kann auch erwartet werden, dass sie die bestehenden Risiken mit spezieller Sorgfalt abwägen.
Der GH hat bereits erwähnt, dass Information ein vergängliches Gut ist. Das Risiko, dass durch Verzögerung ihr Wert verloren geht, besteht nicht nur bei Zeitschriften, sondern auch bei anderen Veröffentlichungsformen, die über aktuelle Themen berichten. Art. 10 EMRK verbietet nicht alle vorbeugenden Einschränkungen einer Veröffentlichung, aufgrund des Risikos hat der GH diese jedoch hinsichtlich ihres gesetzlichen Rahmens besonders aufmerksam zu prüfen.
Art. 19 der Verfassung, auf den sich der Appellationshof vorliegend berief und der die Pressefreiheit verbürgt, erlaubt nach Ansicht des GH nur die Ahndung von Delikten, die anlässlich der Ausübung der Pressefreiheit erfolgten. Dies stellt eine Sanktion a posteriori dar. Alle anderen relevanten Bestimmungen der ZPO sowie § 1382 Zivilgesetzbuch, auf die sich das Gericht bezog, sind – für sich alleine oder iVm. Art. 144 der Verfassung gesehen – generelle Texte, die die Kompetenzen der Gerichte regeln, jedoch keine Einzelheiten über die erlaubten Einschränkungen, ihr Ziel, ihre Dauer, ihren Umfang oder ihre Kontrolle enthalten. Diese Gesetzesbestimmungen bilden daher keinen rechtlichen Rahmen, der hinsichtlich der Abgrenzung von Verboten im Sinne des Urteils im Fall Association Ekin/F ausreichend präzise ist.
Von der Rechtsprechung in den Fällen Leempoel und S.A. Editions Ciné Revue/B und De Haes und Gijsels/B unterscheidet sich der vorliegende Fall, da er sich nicht auf nachträgliche Einschränkungen der Pressefreiheit bezieht.
Der GH stellt des Weiteren in Bezug auf die Rechtsprechung der nationalen Gerichte eine Diskrepanz hinsichtlich der Zulässigkeit eines präventiven Eingreifens des Richters im Provisorialverfahren fest, zumal §§ 1382 und 1383 Zivilgesetzgebuch einen Sanktionsmechanismus a posteriori festlegen. Es besteht zwar Judikatur hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle der Presse in Belgien, jedoch ist diese nicht einheitlich bzw. sogar widersprüchlich. Die Rechtsprechung ließ daher vorliegend nicht zu, dass die Bf. in einem vernünftigen Maß voraussehen hätte können, welche Konsequenzen die Ausstrahlung der strittigen Sendung nach sich ziehen würde.
Ein derart ungeklärter rechtlicher Rahmen hinsichtlich präventiver Einschränkungen der Pressefreiheit könnte dazu führen, dass sich eine Vielzahl von Personen, die befürchten, in Fernsehsendungen attackiert zu werden, in einem Provisorialverfahren an einen Richter wenden. Dies würde wiederum zu uneinheitlichen Lösungen der Fälle führen, die mit dem Schutz des Wesensgehalts des Rechts, Informationen zu verbreiten, nicht vereinbar wären.
Art. 10 EMRK verhindert zwar nicht, dass audiovisuelle Medien einem Lizenzierungsregime und einer unterschiedlichen Behandlung, verglichen mit Printmedien, unterworfen werden. Das Kriterium, aufgrund dessen der Kassationshof vorliegend verschiedene Verfassungsbestimmungen anwandte – nämlich der Umstand, ob ein gedrucktes oder ein audiovisuelles Medium betroffen ist – ist jedoch nicht als maßgebend zu bezeichnen. Auf diese Weise wurde kein strenger rechtlicher Rahmen für die Zulässigkeit präventiver Einschränkungen geschaffen, besonders da die belgische Rechtsprechung nicht ausreichend klärt, wie der Begriff der "Zensur" in Art. 25 der Verfassung zu verstehen ist.
Der GH zieht daher den Schluss, dass der bestehende rechtliche Rahmen in Verbindung mit der belgischen Judikatur, wie er vorliegend angewandt wurde, der Anforderung der Vorhersehbarkeit gemäß der Konvention nicht genügt. Es ist daher eine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen (einstimmig).
Angesichts dieser Feststellung hält es der GH nicht für notwendig, die übrigen Anforderungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK zu prüfen.
III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Feststellung einer Verletzung stellt in diesem Fall eine ausreichende Entschädigung für den erlittenen materiellen und immateriellen Schaden dar; € 42.014,40 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
De Haes und Gijsels/B v. 24.2.1997, NL 1997, 50; ÖJZ 1997, 912.
Association Ekin/F v. 17.7.2001.
Leempoel und S.A. Editions Ciné Revue/B v. 9.11.2006.
Micallef/M v. 15.10.2009 (GK), NL 2009, 294.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.3.2011, Bsw. 50084/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 90) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_2/RTBF.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.