JudikaturAUSL EGMR

Bsw23205/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
01. Februar 2011

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Karoussiotis gegen Portugal, Urteil vom 1.2.2011, Bsw. 32205/08.

Spruch

Art. 8 EMRK - Zulässigkeit bei vorhergehender Beschwerde bei der Europäischen Kommission.

Verbindung der Einrede der Regierung hinsichtlich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs mit der Prüfung in der Sache (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. lebt in Krefeld (Deutschland) und brachte am 25.8.2001 ein Kind von ihrem damaligen Partner, einem portugiesischen Staatsbürger, zur Welt. Der Vater des Kindes wurde 2004 aus Deutschland ausgewiesen, da er wegen Drogenhandels strafrechtlich verurteilt worden war. Die Bf. trennte sich in der Folge von ihm.

Im Jänner 2005 reiste der Sohn der Bf. nach Portugal, um seinen Vater zu besuchen. Die Bf. begab sich kurze Zeit später ebenfalls nach Portugal, um ihren Sohn wieder abzuholen, kam jedoch am 22.2.2005 allein nach Deutschland zurück.

Im März 2005 wandte sich die Bf. an die deutschen Behörden und bat um Unterstützung, um die Rückkehr ihres Sohnes gemäß der Haager Konvention über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung 1980 (im Folgenden: HKÜ) zu erreichen. Am 27.10.2005 stellten die deutschen Behörden eine Anfrage an die portugiesischen Behörden, um die Rückverbringung aufgrund der Widerrechtlichkeit der Verbringung gemäß Art. 3 HKÜ zu veranlassen.

Am 24.1.2006 entschied das Familiengericht Braga, dass die Verbringung des Kindes rechtmäßig gewesen sei, da diese von den Eltern gemeinsam vereinbart worden wäre. Nachdem diese Entscheidung wegen mangelnden rechtlichen Gehörs der Mutter aufgehoben und an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen worden war, wiederholte das Familiengericht Braga 2008 diese Entscheidung.

Das Gericht zweiter Instanz entschied am 9.1.2009, dass die Verbringung des Kindes nach Portugal zwar illegal gewesen sei, das Kind jedoch gemäß der VO (EG) Nr. 2201/2003 (Anm.: Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 23. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000.) nicht nach Deutschland verbracht werden könne, da inzwischen die Urgroßmutter Bezugsperson des Kindes geworden sei und eine Trennung von ihr das psychische Gleichgewicht des Kindes beeinträchtigen könne. Eine Rückverbringung entspreche daher nicht dem Kindeswohl.

Bereits im März 2005 wurde ein Verfahren zur Klärung des Sorgerechts für das Kind eingeleitet. Das Verfahren wurde bis zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verbringung des Kindes ausgesetzt. Das provisorische Sorgerecht wurde zunächst dem Vater, dann der Urgroßmutter des Kindes übertragen. 2009 beantragte die Bf. das Sorgerecht, wobei sie angab, der Vater habe dem zugestimmt. Auch die Urgroßmutter des Kindes hatte das Sorgerecht beantragt. Die Sache ist derzeit noch anhängig.

Am 2.4.2008 brachte die Bf. eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein und behauptete eine Verletzung der VO (EG) Nr. 2201/2003 durch Portugal. Sie rügte die überlange Verfahrensdauer vor dem Familiengericht Braga. Informationen der Bf. vom 2.7.2010 zufolge ist das Verfahren vor der Europäischen Kommission noch im Gange.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt eine Verletzung ihres Rechts unter Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens), da die Rückverbringung ihres Sohnes nach Deutschland abgelehnt und das vorläufige Sorgerecht der Urgroßmutter des Kindes übertragen wurde. Sie stützt sich außerdem darauf, dass die portugiesischen Gerichte den Umstand außer Acht ließen, dass der Vater der Übertragung des Sorgerechts auf die Mutter zugestimmt habe.

Weiters behauptet sie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) wegen der exzessiven Verfahrensdauer bezüglich der Rückverbringung ihres Sohnes.

Auf Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) beruft sie sich, da ihr kein effektives Rechtsmittel zur Verfügung gestanden habe, um die überlange Verfahrensdauer geltend machen zu können.

Der GH beschließt angesichts seiner rechtlichen Beurteilung des Falles, die Sache im Lichte von Art. 8 EMRK zu prüfen.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

1. Zur Zulässigkeit

Die Regierung äußert sowohl Einwände in Bezug auf die Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs als auch bezüglich der Ausnahme unter Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK.

a. Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs

Die Regierung bringt vor, die Eingabe die Beschwerde sei verfrüht, da beide gegenständlichen Verfahren noch anhängig seien.

Die Beschwerde muss zuerst, zumindest in ihrer Substanz, gemäß den nationalen Regelungen vor den zuständigen nationalen Behörden vorgebracht werden. Der GH akzeptiert, dass dies erst kurz nach Einbringung der Beschwerde erfolgte, jedoch noch bevor er über die Zulässigkeit der Beschwerde befunden hat. Die Einwendung bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs hängt hinsichtlich der behaupteten Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens, bedingt durch die Verfahrensdauer, eng mit der Prüfung des Falles in der Sache zusammen und wird daher mit dieser verbunden (einstimmig).

b. Zulässigkeit nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK

Die Regierung rügt, die Bf. habe dieselbe Beschwerde bereits vor der Europäischen Kommission vorgebracht.

Der GH merkt an, dass die Beschwerde der Bf. vom 2.4.2008 an die Europäische Kommission den gleichen Sachverhalt betrifft.

Die Konvention schließt es aus, dass der GH eine Beschwerde behandelt, die bereits durch eine internationale Instanz überprüft wurde. Der GH hat daher zu klären, ob die Natur des Kontrollorgans, das Verfahren vor diesem und die Auswirkung seiner Entscheidungen derart ausgestaltet sind, dass Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK die Zuständigkeit des GH ausschließt.

Im vorliegenden Fall hat der GH zu prüfen, ob die Beschwerde essentiell dieselbe ist wie jene, die bei der Europäischen Kommission anhängig ist. Dies ist der Fall, wenn die Parteien und der Beschwerdegrund identisch sind. Die Identität beider Punkte ist vorliegend unstrittig.

Zu klären ist nun, ob das Verfahren vor diesem Organ in verfahrensrechtlicher Hinsicht sowie mit Blick auf die potentiellen Auswirkungen der Entscheidung mit der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK gleichgesetzt werden kann.

Bei der Europäischen Kommission kann sich ein Individuum über eine gesetzliche Regelung, Vorschrift oder Verwaltungsmaßnahme bzw. über eine Praxis eines EU-Mitgliedstaates beschweren, von der es glaubt, sie verletze eine Regelung oder einen Grundsatz des Unionsrechts. Die Kommission hat einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Entscheidung, ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH gemäß Art. 258 AEUV zu initiieren. Zweck dieses Vorverfahrens ist, die freiwillige Anpassung an die Vorgaben des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten zu erreichen. Bezüglich der Auswirkungen einer Entscheidung regelt Art. 260 AEUV, dass – wenn der EuGH eine Vertragsverletzung feststellt und der Staat dem Urteil nicht nachkommt – die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängt werden kann. Eine diesbezügliche Entscheidung des EuGH hat jedoch keine Auswirkungen auf die Rechte des Bf., da sie keine individuelle Situation regelt. Aus diesem Grund hat der Bf. auch kein rechtliches Interesse oder direkte Betroffenheit nachzuweisen. Der EuGH spricht auch keine individuelle Entschädigung zu.

Aufgrunddessen kann dieses Verfahren weder hinsichtlich der verfahrensrechtlichen Regelung noch hinsichtlich der potentiellen Auswirkungen mit der Individualbeschwerde iSv. Art. 34 EMRK gleichgesetzt werden.

Die Europäische Kommission stellt daher vorliegend keine »internationale Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz« iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK dar. Die Einrede der Regierung wird zurückgewiesen.

c. Ergebnis

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und auch nicht aus sonstigen Gründen unzulässig. Sie ist daher zulässig (einstimmig).

2. In der Sache

Die Bf. behauptet, in ihrem Recht gemäß Art. 8 EMRK verletzt zu sein, da die portugiesischen Behörden es verabsäumt hätten, schnelle und effektive Maßnahmen zu setzen, um ihren Sohn nach Deutschland zurückzuholen und ihr das Sorgerecht zuzusprechen.

Der GH hat bezüglich der positiven Verpflichtung der Staaten unter Art. 8 EMRK schon oft festgestellt, dass ein Elternteil ein Recht auf angemessene Maßnahmen zur Wiederzusammenführung mit seinem Kind hat und die nationalen Behörden eine Verpflichtung haben, diese zu ergreifen. Dieses Recht des Elternteils ist jedoch nicht absolut. Nach einer bestimmten Zeit, die das Kind mit dem anderen Elternteil verbracht hat, kann eine Wiederzusammenführung nicht sofort stattfinden und erfordert Vorbereitungen. Die Umstände des Einzelfalls sowie die Interessen, Rechte und Freiheiten der verschiedenen Beteiligten, insbesondere das Kindeswohl und die Rechte des Kindes unter Art. 8 EMRK, sind zu beachten. Die Behörden haben einen fairen Ausgleich zu schaffen. Die positiven Verpflichtungen des Staates bezüglich der Wiedervereinigung eines Elternteils mit dem Kind sind weiters im Lichte des HKÜ zu interpretieren.

Bei der Beurteilung, ob das Familienleben der Betroffenen effektiv respektiert wurde, kann der GH auch die Art und Dauer des Entscheidungsprozesses miteinbeziehen. Verfahren in Bezug auf die Übertragung des Sorgerechts, einschließlich der Exekution der darin ergangenen Entscheidungen, verlangen eine schnelle Abwicklung, da das Verstreichen von Zeit für das Verhältnis zwischen einem Kind und dem von ihm getrennt lebenden Elternteil unwiederbringliche Nachteile mit sich bringen kann. Art. 11 HKÜ und Art. 11 Abs. 3 VO (EG) Nr. 2201/2003 regeln, dass die Verfahren zur Rückverbringung der Kinder mit gebotener Eile durchzuführen sind. Zentrale Frage ist vorliegend daher, ob die portugiesischen Behörden alle Maßnahmen ergriffen haben, die ihnen im Rahmen des Verfahrens betreffend die Rückverbringung sowie des Verfahrens bezüglich des Sorgerechts vernünftigerweise zur Verfügung standen.

Es dauerte fast drei Monate, bis das Familiengericht Braga auf die Anfrage bezüglich der Rückverbringung des Kindes reagierte. Insgesamt dauerte das Verfahren etwa drei Jahre und zehn Monate in zwei Instanzen. Die Verfahrensdauer führte zu einer für die Bf. nachteiligen Situation, vor allem da das Kind zum Zeitpunkt seiner Verbringung nach Portugal unter vier Jahre alt war.

Das Verfahren bezüglich des Sorgerechts ist zur Zeit noch anhängig und dauerte bisher fünf Jahre und acht Monate.

Aufgrund dieser Feststellungen findet der GH, dass die nationalen Behörden keine effektiven Mittel ergriffen haben, um die beiden Verfahren rasch abzuwickeln. Die Verzögerungen bewirkten eine Trennung von Mutter und Kind von mehr als fünf Jahren, die zu einer Entfremdung der beiden führte, die dem Kindeswohl entgegensteht.

Der GH weist daher die Einrede der Regierung bezüglich der Erschöpfung des nationalen Instanzenzugs zurück und stellt eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Da die Bf. ihre Entschädigungsforderungen nicht rechtzeitig gestellt hat, wird ihr keine Entschädigung nach Art. 41 EMRK zugesprochen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Hokkanen/FIN v. 23.9.1994, NL 1994, 333; ÖJZ 1995, 271

McMichael/GB v. 24.2.1995, ÖJZ 1995, 704

Ignaccolo-Zenide/RO v. 25.1.2000

Folgero u.a./N v. 14.7.2006 (ZE)

Celniku/GR v. 5.7.2007 (ZE)

Neulinger und Shuruk/CH v. 6.7.2010 (GK), NL 2010, 211

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 1.2.2011, Bsw. 23205/08 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 32) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Karoussiotis.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise