Bsw397/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Hoffer und Annen gegen Deutschland, Urteil vom 13.1.2011, Bsw. 297/07 und Bsw. 2322/07.
Spruch
Art. 10 EMRK - Vergleich von Abtreibungen mit dem Holocaust.
Verbindung der beiden Beschwerden (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK sowie hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht (einstimmig).
Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).
Keine Veletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Jeweils € 4.000,- für immateriellen Schaden; € 1.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Am 8.10.1997 verteilten die Bf. vor einer Nürnberger Klinik ein Flugblatt, in welchem namentlich der Frauenarzt Dr. F. wegen der von ihm durchgeführten Abtreibungen als »Tötungsspezialist« bezeichnet wurde. Das Schreiben enthielt den Appell: »Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem Gelände des Klinikums; damals: Holocaust – heute: Babycaust«. Der ZweitBf. gab auf dem Schreiben seine Adresse an.
Daraufhin erstattete Dr. F. Anzeige wegen übler Nachrede. Im Juli 1998 sprach das Amtsgericht Nürnberg die Bf. in allen Anklagepunkten – gestützt auf die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« (§ 193 StGB) – frei.
Am 26.5.1999 hob das Landgericht Nürnberg-Fürth das Urteil auf und verurteilte die Bf. wegen übler Nachrede zum Nachteil der Klinik und von Dr. F. mit der Begründung, dass ein Vergleich mit dem Holocaust nicht mehr in den Bereich der freien Meinungsäußerung falle, da es Dr. F. unnötig stark herabwürdige (Schmähkritik). Das Landgericht verurteilte beide Bf. zu einer Geldstrafe.
Die von den Bf. eingebrachte Revision gegen das Urteil wies das Bayrische Oberste Landesgericht am 8.12.1999 ab.
Im Jänner 2000 erhoben die Bf. Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.
Am 24.5.2006 hob das BVerfG das Urteil des Landgerichts teilweise auf. Das BVerfG erinnerte dabei an die Vorinstanzen, welche angenommen hatten, dass das strittige Flugblatt die professionelle Tätigkeit des Mediziners auf eine Stufe mit dem Holocaust stelle. Obwohl die Äußerungen der Bf. nicht als Schmähkritik zu bezeichnen waren, sei, laut BVerfG, die Entscheidung des Landgerichts nicht zu beanstanden, weil das Urteil einen gerechten Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen der Bf. und denen von Dr. F. bilde.Nicht der Holocaust-Vergleich an sich, sondern die Tatsache, dass die Bf. diesen direkt gegen Dr. F. gerichtet hatten, würde die Persönlichkeitsrechte des Mediziners stark verletzen. Nach Zurückverweisung der Sache belegte das Landgericht die Bf. mit je einer Geldstrafe von € 100,– bzw. € 150,–.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).
Des Weiteren rügen sie Verletzungen von Art. 7 Abs. 1 EMRK (Nulla poena sine lege) und Art. 6 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren).
Die beiden Beschwerden werden miteinander verbunden (einstimmig).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Es wird festgestellt, dass die Beschwerde hinsichtlich der Verletzung von Art. 10 EMRK gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Die Beschwerde wird für zulässig erklärt (einstimmig).
Die Bf. sehen durch ihre Verurteilung ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.
Die Verurteilungen der Bf. stellen unstrittig einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Sie basierten auf § 185 StGB und waren damit »gesetzlich vorgesehen«. Sie dienen dazu, den guten Ruf und die Rechte anderer, in diesem Fall die von Dr. F., zu schützen.
Daher bleibt zu prüfen, ob die Beeinträchtigung der freien Meinungsäußerung »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« iSv. Art. 10 EMRK war.
Insoweit hatte bereits das Landgericht eingeräumt, dass die Bf. eine Problematik von öffentlichem Interesse angesprochen hatten, und es ihnen erlaubt war, ihre politischen Ziele zu verfolgen, und zwar auch mit Hilfe von polemischer Kritik.
Das Landgericht hat alle Passagen des Flugblatts, außer dem Ausspruch »damals: Holocaust / heute: Babycaust«, als akzeptable Bestandteile einer öffentlichen Diskussion anerkannt, die sich innerhalb der Grenzen der freien Meinungsäußerung bewegten. Der GH wird daher nur die erwähnte Textstelle behandeln.
Nach Meinung der nationalen Gerichte verletzten die Bf. die persönlichen Rechte des Mediziners besonders schwerwiegend, indem sie die Durchführung der Abtreibung mit dem Massenmord während des Holocaust verglichen. Es hätte von ihnen erwartet werden können, dass sie ihren Vorwurf auf eine Art und Weise ausdrückten, die weniger nachteilig für das Ansehen des Mediziners gewesen wäre.
Das BVerfG hatte außerdem eingeräumt, dass das Flugblatt der Bf. auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden könne, dabei aber bedacht, dass alle möglichen Interpretationen auf eine schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Mediziners hinausliefen.
Zudem stellt der GH fest, dass Auswirkungen, die Meinungsäußerungen auf die Persönlichkeitsrechte eines Anderen haben, nicht abgelöst vom historischen und sozialen Kontext, in dem diese getätigt werden, betrachtet werden können. Der Hinweis auf den Holocaust muss also im spezifischen Zusammenhang der deutschen Geschichte betrachtet werden. Daher akzeptiert der GH die abschließende Erklärung des BVerfG, wonach das umstrittene Flugblatt eine schwerwiegende Verletzung der Persönlichkeitsrechte des Mediziners sei.
Die nationalen Gerichte schufen somit einen gerechten Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung der Bf. und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte des Arztes. Der Eingriff war »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig«. Die Geldstrafen sind außerdem als verhältnismäßig zu bezeichnen.
Im Ergebnis ist keine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK
Es wird festgestellt, dass die Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist. Die Beschwerde wird für zulässig erklärt (einstimmig).
Für die Bf. stellt die Länge des Verfahrens vor dem BVerfG von fast sechseinhalb Jahren einen Verstoß gegen ihr Recht auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK dar.
Der GH hat bereits in früheren ähnlichen Fällen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt. Er geht auch vorliegend von einer Verletzung dieser Bestimmung aus (einstimmig).
III. Zu den übrigen behaupteten Verletzungen
Die Bf. behaupten, ihnen wäre die Auslegung ihrer Aussagen durch die Strafgerichte nicht bewusst gewesen. Sie hätten folglich nicht den Vorsatz gehabt, eine kriminelle Handlung zu begehen. Das Verfahren vor dem BVerfG sei des Weiteren nicht fair gewesen, da nur drei Richter und nicht ein Senat über die Sache entschieden hätten. Zudem beschwert sich der ZweitBf. darüber, dass er eine höhere Strafe bekommen habe, nur weil er seine Adresse auf dem Dokument angegeben hatte.
Die diesbezüglichen Beschwerden unter Art. 7 Abs. 1, Art. 10 und Art. 6 EMRK werden als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen (einstimmig).
IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 4000,– je Bf. für immateriellen Schaden und € 1000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Sürek/TR (Nr. 1) v. 8.7.1999.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.1.2011, Bsw. 397/07 und Bsw. 2322/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 18) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Hoffer.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.