JudikaturAUSL EGMR

Bsw34848/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache O'Donoghue u.a. gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 14.12.2010, Bsw. 34848/07.

Spruch

Art. 8, 9, 12 und 14 EMRK - Konventionswidrigkeit eines "Heiratszertifikatssystems".

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 und 12 EMRK sowie hinsichtlich Art. 14 iVm. Art. 8, 9 und 12 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Verletzung von Art. 12 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 12 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine Notwendigkeit der separaten Prüfung der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 8.500,– für immateriellen Schaden und GBP 295,– für materiellen Schaden. € 16.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um einen Staatsbürger aus Nigeria, Herrn Iwu (ZweitBf.), und drei Doppelstaatsbürger britischer und irischer Nationalität, nämlich seine jetzige Gattin, Frau O’Donoghue (ErstBf.), ihren gemeinsam Sohn (DrittBf.) sowie einen Sohn aus einer früheren Beziehung von Frau O’Donoghue (ViertBf.). Alle vier Bf. sind praktizierende Katholiken. Der ZweitBf. lernte die ErstBf. kennen, als er 2004 nach Nordirland kam und dort um Asyl ansuchte. Sie leben seit Dezember 2005 zusammen. Im Mai 2006 beschlossen beide, zu heiraten.

2005 wurde mit § 19 Asylum and Immigration (Treatment of Claimants etc.) Act 2004 (im Folgenden: 2004 Act) eine neue Eheregelung für Immigranten eingeführt. Demnach mussten Fremde, um heiraten zu können, entweder über eine Einreisegenehmigung zum alleinigen Zweck der Heirat im Vereinigten Königreich oder über ein vom Innenminister gemäß den Immigration (Procedure for Marriage) Regulations 2005 ausgestelltes Heiratszertifikat verfügen. Letzteres stand nur Ausländern offen, denen eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von mehr als sechs Monaten erteilt worden war und konnte nur auf Antrag unter gleichzeitiger Entrichtung einer Gebühr von GBP 135,–, später erhöht auf GBP 295,– erlangt werden. Die Regelung nahm Angehörige des EWR und Fremde mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis explizit aus und erstreckte sich nicht auf Paare, die eine Ehe im Einklang mit den Riten der Anglikanischen Kirche eingehen wollten.

Am 10.4.2006 sprach Richter Silber vom High Court über den Fall »R. (Baiai u.a.) gg. den Innenminister« ab. Er erachtete die zur Umsetzung der vorliegenden Regelung herangezogenen Maßnahmen für nicht ausgewogen: Erstens wäre für alle in kirchlicher Zeremonie geschlossenen Ehen mit Ausnahme des anglikanischen Ritus ein Zertifikat ungeachtet der Tatsache notwendig, dass Scheinehen vorwiegend vor dem Standesamt geschlossen würden. Zweitens bestehe keine Basis für die Annahme, alle außerhalb der anglikanischen Kirche eingegangenen Ehen gleichsam als Scheinehen zu behandeln und für sie ein Zertifikat vorzusehen, während eine derartige Praxis für Ehen nach anglikanischem Ritus nicht vorgesehen sei. Drittens lasse die neue Regelung viele Faktoren (etwa Vorliegen einer langjährigen Beziehung, Zeugung von Kindern, gemeinsamer Kauf eines Hauses) außer Acht, die jedoch zur Beurteilung der Frage unerlässlich wären, ob ein Heiratsversprechen nur zum Schein geleistet wurde. Die Regelung bewirke nicht nur einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 12 EMRK, sondern stelle auch eine benachteiligende Behandlung iSv. Art. 14 EMRK dar, da Paare, die nach anglikanischem Ritus heirateten, davon ausgenommen wären und auch keine Gebühren leisten müssten. Das Urteil wurde vom House of Lords bestätigt.

In der Folge wurde die Regelung geändert. Die neue Version sah vor, dass Fremde, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Ausstellung eines Zertifikats über einen ungewissen Aufenthaltsstatus verfügten, zusätzliche Informationen vorlegen konnten, damit sich das Innenministerium überzeugen könne, dass der gehegte Wunsch, eine Ehe einzugehen, aufrichtig sei.

Eine Heirat war für die Erst- und den ZweitBf. nach diesem Konzept jedoch nicht möglich, da Herr Iwu, der zu diesem Zeitpunkt über kein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich verfügte, die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Heiratszertifikats nicht erfüllte.

Im Juni 2007 trat die dritte Version der Eheregelung in Kraft. Sie erstreckte die Möglichkeit, sich für ein Heiratszertifikat zu qualifizieren, auch auf Fremde, in Bezug auf die ein Verfahren betreffend Erlangung eines rechtmäßigen Aufenthaltsstatus noch anhängig war.

Am 9.7.2007 beantragten die Erst- und der ZweitBf. die Ausstellung eines Heiratszertifikats bei gleichzeitiger Befreiung von der Entrichtung einer Antragsgebühr. Begründend brachten sie vor, die ErstBf. wäre auf Sozialleistungen angewiesen, während der ZweitBf. mittellos sei. Die Behörden sahen jedoch für eine Befreiung von der Gebühr keinen Anlass und erklärten den Antrag wegen Nichtentrichtung der Gebühr für unzulässig.

Die Erst- und der ZweitBf. erhielten das Heiratszertifikat am 8.7.2008, nachdem Freunde sie finanziell unterstützt hatten. Sie heirateten am 18.10.2008. Mit Wirkung vom 9.4.2009 wurde das Erfordernis der Entrichtung einer Antragsgebühr ausgesetzt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 12 EMRK (Recht auf Eheschließung), Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Art. 9 EMRK (Glaubens-, Gewissens,- und Religionsfreiheit) jeweils alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sowie eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 12 EMRK

Die Bf. beklagen sich über das Heiratszertifikatssystem und die Art und Weise seiner Anwendung auf ihren Fall.

1. Zur Zulässigkeit

Die Regierung wendet ein, die Bf. hätten – insoweit sie die Höhe der Antragsgebühr beanstanden – den innerstaatlichen Rechtsweg beschreiten sollen.

Zum Zeitpunkt der Einbringung der vorliegenden Beschwerde war das Verfahren betreffend den Fall Baiai vor dem House of Lords noch anhängig. Da die Höhe der Gebühr im Verfahren vor diesem einen Schlüsselaspekt darstellte, kann den Bf. nicht der Vorwurf gemacht werden, keine separate Beschwerde hinsichtlich der Antragsgebühr auch für den Fall eingebracht zu haben, ein derartiger Rechtsbehelf hätte zum damaligen Zeitpunkt existiert. Die Bf. haben somit den innerstaatlichen Instanzenzug gemäß Art. 35 EMRK ausgeschöpft. Die Beschwerde ist für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Im vorliegenden Fall lebten die Erst- und der ZweitBf. seit Dezember 2005 zusammen und hegten im Mai 2006 die Absicht, eine Ehe eingehen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt war die zweite Version der Regelung in Kraft. Da der ZweitBf. über kein Aufenthaltsrecht für das Vereinigte Königreich verfügte, konnte er sich nicht für die Ausstellung eines Heiratszertifikats mangels Vorliegens exzeptioneller Umstände qualifizieren. Mit Wirkung vom 19.6.2007 erstreckte die dritte Version der Regelung die Möglichkeit, einen Antrag auf Ausstellung eines Heiratszertifikats zu stellen, auf Fremde, die auf den Ausgang eines Verfahrens betreffend Erlangung eines legalen Aufenthaltsstatus warteten. Obwohl sich der ZweitBf. ab diesem Datum für ein Heiratszertifikat qualifizierte, konnte er sich die Antragsgebühr nicht leisten, die am 2.4.2007 von ungefähr GBP 135,– auf GBP 295,– erhöht worden war.

Laut der Rechtsprechung der ehemaligen Konventionsorgane dürfen Staaten das Recht von Drittstaatsangehörigen auf Eingehen einer Ehe angemessenen Bedingungen unterwerfen, um feststellen zu können, ob die in Aussicht genommene Heirat eine Zweckehe ist und sie, falls notwendig, verhindern. Ein Staat handelt daher nicht notwendigerweise in Verletzung von Art. 12 EMRK, wenn er von Ausländern eingegangene Ehen einer genauen Überprüfung dahingehend unterwirft, ob es sich um eine Zweckehe handelt oder nicht.

Der GH stimmt insofern mit dem House of Lords überein, wonach das Erfordernis für Nicht-EU-Bürger gemäß § 19 2004 Act, beim Innenminister um Ausstellung eines Heiratszertifikats vorstellig zu werden, bevor sie eine Ehe im Vereinigten Königreich eingehen können, nicht zu beanstanden sei. Andererseits hegt er ernste Bedenken, was die Handhabung des Heiratszertifikatssystems in Großbritannien anlangt. Erstens stützte bzw. stützt sich die Entscheidung, ob ein solches Zertifikat ausgestellt werden soll, nicht ausschließlich auf die Aufrichtigkeit des Heiratsversprechens. Für alle drei Versionen galt, dass sich ein Antragsteller mit »ausreichendem Aufenthaltsstatus« für die Ausstellung eines Heiratszertifikats qualifizierte – ohne nähere Auskünfte betreffend die Ernsthaftigkeit seiner Absichten liefern zu müssen.

Zweitens ist der GH bestürzt über die Tatsache, dass die erste und die zweite Version des Konzepts einer spezifischen Personengruppe (zu der Herr Iwu gehörte) ein Blankoverbot betreffend die Ausübung ihres Rechts auf Eheschließung auferlegte, ohne darauf abzustellen, ob das gegebene Heiratsversprechen auf eine Zweckehe gerichtet war oder nicht. Erst die dritte Version erstreckte die Ausstellung eines Heiratszertifikats auch auf Personen, die – so wie der ZweitBf. – über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügten. Der GH kann keinerlei Rechtfertigung für ein derartiges Vorgehen erblicken. Auch gesetzt den Fall, Personen aus dieser Kategorie wären geneigt, eher eine Zweckehe einzugehen, schränkt ein Blankoverbot – ohne den Versuch einer Prüfung der Ernsthaftigkeit des Heiratsversprechens zu machen – den Wesensgehalt des Rechts auf Eheschließung ein. Die Möglichkeit, davon unter besonderen Umständen abzusehen, kann daran nichts ändern, hat sie doch Ausnahmecharakter und liegt im Ermessen des Innenministers. Ferner dürften derartige Ermessensentscheidungen ausschließlich auf den persönlichen Umständen von Antragstellern – und nicht auf der Ernsthaftigkeit des Heiratsversprechens – beruhen.

Drittens schließt sich der GH der Ansicht des House of Lords an, wonach eine Antragsgebühr in der vorliegenden Höhe, die sich ein bedürftiger Antragsteller nicht leisten kann, den Wesensgehalt des Rechts auf Eheschließung verletzt. Angesichts der Tatsache, dass viele der Einwanderungskontrolle unterliegende Personen entweder im Vereinigten Königreich keiner Arbeit nachgehen können (so wie der ZweitBf.) oder in eine niedrige Einkommensgruppe fallen, ist die Gebühr von GBP 295,– ausreichend hoch, um das Recht auf Eheschließung zu beeinträchtigen. Das im Juli 2010 eingerichtete System der Refundierung von Gebühren an bedürftige Antragsteller stellt keine effektive Abhilfe dar, da das Erfordernis der Entrichtung einer Gebühr, mag sie auch später rückerstattet werden, durchaus als wirkungsvolle Abschreckung, eine Heirat einzugehen, fungieren kann.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Wesensgehalt des Rechts auf Eheschließung der ersten beiden Bf. von Mai 2006 bis zum 8.7.2008, dem Tag der Ausstellung des Heiratszertifikats, beeinträchtigt wurde. Verletzung von Art. 12 EMRK (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 12 EMRK

Die Bf. behaupten, die erste Version der Regelung wäre von Anfang an diskriminierend gewesen, da sie sich nicht auf solche Personen erstreckt habe, die im Rahmen des anglikanischen Ritus heiraten wollten.

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Der GH stimmt mit den Bf. überein, dass die erste Version der Regelung eine Diskriminierung aus Gründen der Religion darstellte, konnten doch Personen ohne gültige Aufenthaltserlaubnis, die zum Eingehen einer Ehe in der Anglikanischen Kirche fähig und willens waren, ungehindert heirateten. Der ZweitBf. hingegen war sowohl unwillig (wegen seines römisch-katholischen Glaubens) als auch unfähig (aufgrund seines Wohnorts in Nordirland), eine derartige Ehe einzugehen. Folglich wurde er daran gehindert, im Vereinigten Königreich zu heiraten, und war dazu erst im Zuge einer Änderung der einschlägigen Regelung und nach Entrichtung einer hohen Gebühr fähig. Die Regierung hat für die unterschiedliche Behandlung keinerlei sachliche und angemessene Rechtfertigung vorgebracht. Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 12 EMRK (einstimmig). Angesichts dieser Feststellung erübrigt sich eine Prüfung, ob die Regelung aus anderen Gründen diskriminierend war.

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK

Die Bf. beklagen sich, sie hätten außerhalb der Anglikanischen Kirche nicht heiraten können. Die Regierung räumt ein, dass die Rechte der Erst- und des ZweitBf. nach Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK verletzt wurden, da sie einem Regime unterworfen waren, das für Personen, die nach anglikanischem Ritus heiraten wollten, nicht galt.

Für den GH besteht kein Grund zur Annahme, dass die Bf. an der Ausübung ihres Rechts auf Ausübung ihrer Religion gehindert wurden. Der Beschwerdepunkt unter Art. 9 EMRK alleine ist daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Hingegen ist der zweite Beschwerdepunkt für zulässig zu erklären und im Hinblick auf das Eingeständnis der Regierung eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK festzustellen (einstimmig).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK alleine und iVm. Art. 14 EMRK

Der GH erklärt diesen Beschwerdepunkt für zulässig, sieht aber angesichts seiner Schlüsse zu Art. 12 EMRK keinen Anlass zu einer separaten Prüfung (einstimmig).

V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Die Grundsatzentscheidung im Fall Baiai, die ähnliche Fragen aufwarf, zeigt klar, dass effektive innerstaatliche Rechtsmittel zur Anfechtung der Regelung zur Verfügung standen. Der GH vermag keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurückzuweisen (einstimmig).

VI. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 8.500,– für immateriellen Schaden und GBP 295,– für materiellen Schaden. € 16.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sanders/F v. 16.10.1996 (ZE der EKMR).

Klip und Krüger/NL v. 3.12.1997 (ZE der EKMR).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.12.2010, Bsw. 34848/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 363) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_6/O'Donoghue.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise