JudikaturAUSL EGMR

Bsw35016/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. Oktober 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Saliyev gegen Russland, Urteil vom 21.10.2010, Bsw. 35016/03.

Spruch

Art. 10 EMRK - Rücknahme eines Artikels durch politisch motivierte Entscheidung.

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Präsident der NGO Investory Kolymy. 2001 verfasste er einen Artikel, der den Erwerb von Anteilen an einem lokalen Energieproduktionsunternehmen, welches damals Teil der Staatsholding Edinye Energeticheskiye Systemy Rossii war, durch in Moskau angesiedelte Betriebe betraf. Darin bezeichnete er den Verkauf als einen betrügerischen Deal, hinter dem ein hochrangiger Moskauer Beamter mit Führungsposition in einer politischen Partei stehe. Er übermittelte diesen Artikel an eine in Gemeindeeigentum stehende Zeitung, Vecherniy Magadan. Der Chefredakteur, Herr Svistunov, stimmte einer Veröffentlichung in Ausgabe Nr. 44 vom 2.11.2001 zu. Mehr als 2.000 Hefte wurden danach an Abonnenten und Bibliotheken verschickt. 2.000 weitere wurden einer Vertriebsgesellschaft übergeben, um sie an Kiosken und Zeitungsständen zu verkaufen. Letztere Kopien wurden jedoch wenig später von den Verkaufsstellen genommen und vernichtet. Die Rücknahme wurde der Regierung zufolge von Herrn Svistunov erbeten. Dieser trat kurz nach der Aktion von seinem Posten als Chefredakteur zurück.

2002 erhob der Bf. Anzeige wegen der Rücknahme der Kopien seines Artikels, die er als einen strafrechtlich zu ahndenden Verstoß gegen die Pressefreiheit erachtete. Von einer strafrechtlichen Untersuchung wurde jedoch per Entscheidung des Ermittlungsbeamten abgesehen. Wie dieser feststellte, habe der Chefredakteur, ohne unter Zwang zu stehen, entschieden, die Zeitungsexemplare mit dem Artikel zurückzunehmen, um mögliche Rechtsstreitigkeiten zu verhindern und die Redaktion zu schützen.

Der Bf. focht die Entscheidung erfolgreich vor dem Stadtgericht Magadan an. Nach diversen Befragungen entschied der Ermittlungsbeamte am 3.5.2003 jedoch erneut, dass kein zu untersuchender Fall vorliege.

Der Bf. brachte außerdem eine zivilrechtliche Klage ein, um den Nachdruck und Verkauf von 2.000 Exemplaren der Ausgabe Nr. 44 zu erwirken. Das Stadtgericht Magadan wies die Klage am 1.7.2003 jedoch mit der Begründung ab, die Zeitung könne als Inhaber der Kopien über diese frei verfügen. Zudem habe kein Vertrag zwischen dem Bf. und der Zeitung bestanden, der eine Verpflichtung zur Veröffentlichung des Artikels beinhaltet hätte.

Nach der Satzung der Zeitung Vecherniy Magadan wurde diese vom Eigentumsausschuss der Gemeinde Magadan in Form einer Gemeindeeinrichtung gegründet, um die Bevölkerung über das soziale, politische und kulturelle Leben in der Stadt zu informieren. Die Gemeinde hält die Eigentümerrechte, wohingegen der Zeitung ein Recht auf "betriebliches Management" zukommt. 2007 wurden alle Ausgaben der Zeitung vom Gemeindebudget bezahlt. Die Gemeinde hat die Möglichkeit, Ziele für die Entwicklung von Vecherniy Magadan zu formulieren. Sie ernennt den Chefredakteur, der auch gegenüber Dritten für die Zeitschrift handelt. Sie kann die Zeitung nicht verpflichten, Material zu veröffentlichen, das von der Chefredaktion zurückgewiesen wurde. Wer über die Rücknahme und Vernichtung von Kopien entscheiden kann, ist in der Satzung nicht normiert.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Der Bf. beschwert sich über die Rücknahme der Zeitungsexemplare, die seinen Beitrag enthielten.

1. Zum Vorliegen eines Eingriffs

Private Zeitungen müssen über ein redaktionelles Ermessen hinsichtlich der Entscheidung verfügen, ob sie einen Artikel veröffentlichen oder nicht. Die staatliche Verpflichtung zur Wahrung der Meinungsäußerungsfreiheit gibt Privatpersonen kein uneingeschränktes Recht auf Zugang zu den Medien, um ihre Meinung kund zu tun. Dies kann jedoch anders sein, wenn die Presse de iure oder de facto in der Hand eines Monopols, vor allem eines staatlichen, liegt.

Bei Vecherniy Magadan ist dies allerdings nicht der Fall, da sie auf einem für den Wettbewerb geöffneten Sektor tätig ist. Auch wenn eine Zeitung für einen öffentlichen Dienst gegründet wird, kann sie ihre eigene Redaktionspolitik haben und muss nicht unbedingt neutrale Ansichten vertreten. Die Auswahl der Zeitungsbeiträge untersteht dann der redaktionellen Kontrolle. Wenn der Chefredakteur sich weigert, einen Artikel zu veröffentlichen, würde der GH die Angelegenheit daher unter dem »Recht auf Zugang zur Presse« betrachten, das nur einen minimalen Schutz unter der Konvention genießt. Den vorliegenden Fall wird er allerdings – aus nachfolgenden Gründen – in Hinblick auf einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. prüfen:

Erstens wurden die Zeitungsexemplare erst zurückgenommen und vernichtet, nachdem die Redaktion den Artikel akzeptiert und veröffentlicht hatte. Für Abonnenten und Bibliotheksbesucher war dieser erhältlich. Jede Entscheidung, die die Zirkulation des Artikels beschränkte, sollte daher als Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. angesehen werden, auch wenn sie vom Chefredakteur getroffen wurde.

Zweitens war der Inhalt des Artikels Hauptgrund für die Rücknahme der Zeitungsexemplare. Im zivilgerichtlichen Verfahren wurde dies nicht berücksichtigt, sondern die Zeitungsexemplare wie jedes andere Verkaufsprodukt behandelt. Die Gründe für die Rücknahme sind jedoch relevant für eine Untersuchung nach Art. 10 EMRK. Der Chefredakteur von Vecherniy Magadan hielt den Artikel für eine Veröffentlichung geeignet und hat somit eine fundierte Entscheidung in Hinblick auf Form und Inhalt des Beitrags getroffen. Auch die Rücknahme der Zeitungsexemplare basierte auf einer, wenn auch anderen, Abwägung des Inhalts, wie aus der Entscheidung, die strafrechtlichen Untersuchungen einzustellen, hervor geht. Der Chefredakteur entschloss sich dazu aus Angst vor möglichen Sanktionen aufgrund des Inhalts. Da in Zeitungsausgabe Nr. 44 nichts Weiteres zu finden ist, was eine Zurücknahme erfordert hätte, geht der GH davon aus, dass diese aufgrund des Inhalts des Artikels erfolgte. Sie ist somit als Eingriff in die von Art. 10 EMRK garantierten Rechte des Bf. zu werten.

2. Eingriff durch den Staat

In Anbetracht der Feststellungen der nationalen Gerichte geht der GH davon aus, dass die Rücknahme der Zeitungsexemplare vom Chefredakteur der Vecherniy Magadan, Herrn Svistunov, angeordnet wurde. Es stellt sich nun die Frage, ob dieser dabei die Gemeinde repräsentiert hat.

Die Zeitung Vecherniy Magadan wurde als eigenständiger Rechtsträger gegründet und theoretisch hatte die Chefredaktion auch eine gewisse Freiheit, darüber zu entscheiden, welche Inhalte veröffentlicht werden. Dies geht auch aus der Satzung der Zeitung hervor, der zufolge die Gemeinde diese nicht dazu verpflichten kann, gewisse Inhalte zu publizieren. Die Zeitung wurde jedoch gegründet, um einen öffentlichen Dienst (Bürgerinformation) in Form einer "Gemeindeeinrichtung" anzubieten. Vermögen und Ausrüstung stehen im Eigentum der Gemeinde und der Chefredakteur wurde von dieser bestimmt und bezahlt. Obwohl die Zeitschrift auch über unabhängige Einkommensquellen verfügen darf, existierte sie durch die Finanzierung der Gemeinde. Diese hatte zudem das Recht, die Redaktionspolitik der Zeitung, zumindest strategisch, zu gestalten. Die Unabhängigkeit der Zeitung war damit ernsthaft beschränkt. Herrn Svistunov kam dabei eine Doppelrolle zu: einerseits war er professioneller Journalist, andererseits musste er die Loyalität der Zeitung zur Gemeinde und ihrer Politik wahren. Die Rücknahme erfolgte aufgrund seiner eigenen Einschätzung der Situation und seiner Angst vor negativen Konsequenzen, die jedoch unspezifiziert war. Die Rücknahme der Zeitungsexemplare kann daher als ein Akt politisch motivierter Zensur verstanden werden. Der GH kommt zu dem Schluss, dass der Chefredakteur die politische Linie der Gemeinde vertrat und als ihr Vertreter agierte.

Da die Regierung vorbringt, die Gemeinde Magadan sei keine staatliche Behörde im Sinne der Konvention, hat der GH noch die Frage zu klären, ob durch ihre Handlungen eine Verantwortlichkeit Russlands begründet werden kann. In Anbetracht seiner Rechtsprechung kommt er zu der Ansicht, dass ihre Befugnisse als "öffentlich" qualifiziert werden müssen. Die Gemeinde Magadan ist demnach eine staatliche Behörde und der GH hat ratione materiae die Kompetenz, ihr Handeln zu überprüfen. Die Rücknahme der Zeitungsexemplare stellte daher einen Eingriff einer Behörde in die Rechte des Bf. nach Art. 10 EMRK dar.

3. Zur Rechtfertigung des Eingriffs

Der GH muss nun untersuchen, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, ein legitimes Ziel verfolgte und notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war.

Das russische Recht räumt Chefredakteuren die Entscheidung über Fragen in Zusammenhang mit der Verteilung einer Zeitung ein. Der GH ist bereit zu akzeptieren, dass dem Chefredakteur damit ein Recht zukam, die Exemplare zurückzunehmen, nachdem das Heft veröffentlicht worden war. Es scheint zudem, dass die Rücknahme darauf abzielte, den Ruf und die Rechte anderer, nämlich der mit dem Artikel angegriffenen Staatsbeamten und Manager, zu schützen. Der GH ist auch hier bereit, dies als legitimes Ziel zu akzeptieren.

Der strittige Artikel des Bf. kritisierte die Art und Weise, in der die Anteile einer großen staatlich kontrollierten Energiegesellschaft verwaltet wurden, und die Rolle einiger darin involvierter Beamter. Die Verwaltung von Staatsvermögen und die Art und Weise, in der Politiker ihre Aufgaben erfüllen, ist per definitionem eine »Angelegenheit im öffentlichen Interesse«. Die diesbezügliche Berichterstattung liegt im Kernbereich der Verantwortung der Medien und des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen zu erhalten. Der Artikel des Bf. ist daher als eine Rede zu betrachten, die höchsten Schutz unter der Konvention genießt. Zu prüfen ist, ob damit die Grenzen der erlaubten Kritik überschritten wurden.

Der GH wird diesbezüglich zunächst die Entscheidungen der nationalen Behörden betrachten. Grundsätzlich ist es dabei seine Aufgabe, diese lediglich zu überprüfen. Vorliegend haben die Gerichte jedoch den Inhalt oder die Form des Artikels überhaupt nicht analysiert, sondern den Fall als rein geschäftliche Angelegenheit und somit nicht unter Art. 10 EMRK betrachtet. Der GH weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen einem Journalisten und dem Chefredakteur (oder Verleger, Produzenten, Programmdirektor etc.) nicht nur oder immer ein geschäftliches ist. Zumindest vorliegend war das nicht der Fall, da Vecherniy Magadan im öffentlichen Eigentum stand und als öffentliche Institution zur Information der Bevölkerung gegründet wurde. Außerdem wurden die Zeitungsexemplare wegen des Standpunktes zurückgenommen, den der Bf. darin vertrat. Da die Gerichte aber ihre Entscheidungen auf die fälschliche Annahme stützten, der Fall betreffe grundsätzlich das Recht eines Eigentümers, frei über sein Eigentum zu verfügen, haben sie es verabsäumt, die Gründe für die Rücknahme der Hefte zu untersuchen und die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. gegen andere, möglicherweise auf dem Spiel stehende Interessen abzuwägen. Aus dem Blickwinkel von Art. 10 EMRK betrachtet, war die Entscheidungsfindung daher unzureichend.

Im Ergebnis enthielten die Entscheidungen der nationalen Gerichte in Hinblick auf Art. 10 EMRK keine Rechtfertigung für die Rücknahme der Zeitungsexemplare. Der Artikel des Bf. betraf eine wichtige Angelegenheit von öffentlichem Interesse und die Wahrheit der darin enthaltenen Tatsachen wurde niemals bestritten. Die kritischen Ansichten hatten eine nachvollziehbare Stütze in den Fakten und wurden in akzeptabler Form geäußert. Der Eingriff in die Rechte des Bf. war nicht notwendig, weshalb eine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen ist (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Da der Bf. keine gerechte Entschädigung beantragt hat, spricht ihm der GH eine solche nicht zu.

Vom GH zitierte Judikatur:

Dalban/RO v. 28.9.1999 (GK), NL 1999, 159.

Österreichischer Rundfunk/A v. 7.12.2006, NL 2006, 248; ÖJZ 2007, 472.

Manole u.a./MD v. 17.9.2009, NL 2009, 268.

Kimlya u.a./RUS v. 1.10.2009, NL 2009, 284.

Yershova/RUS v. 8.4.2010.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.10.2010, Bsw. 35016/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 308) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_5/Saliyev.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise