JudikaturAUSL EGMR

Bsw24478/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
21. Oktober 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Grosskopf gegen Deutschland, Urteil vom 21.10.2010, Bsw. 24478/03.

Spruch

Art. 5 Abs. 1 EMRK - Konventionskonformität von Sicherungsverwahrungen.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der 1945 geborene Bf. befindet sich in Sicherungsverwahrung. Am 17.5.1995 wurde er vom Landgericht Köln wegen versuchten Diebstahls als Mitglied einer Bande unter Einbeziehung einer vorherigen – einschlägigen – Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Gleichzeitig wurde gemäß § 66 StGB seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung mit der Begründung angeordnet, angesichts der hohen Zahl an einschlägigen Verurteilungen sei davon auszugehen, dass er einen Hang zur Begehung von Straftaten mit schweren wirtschaftlichen Schäden habe und deshalb für die Allgemeinheit eine Bedrohung darstelle. Er habe wiederholt erklärt, die von ihm begangenen Diebstähle mit dem Ziel, hohe Geldsummen zur Bestreitung seines Lebensunterhalts zu erbeuten, seien keineswegs unmoralisch gewesen. Es bestehe daher Rückfallsgefahr.

Am 6.2.2002 ordnete die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Aachen gemäß § 67c Abs. 1 StGB (Anm.: Danach ist für den Fall, dass eine Freiheitsstrafe vor einer zugleich angeordneten Unterbringung vollzogen wird, vor dem Ende des Vollzugs der Strafe zu prüfen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert.) an, die Sicherungsverwahrung im Anschluss an die Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Sie schloss sich der Einschätzung des Gefängnisleiters und der Staatsanwaltschaft an, wonach erhöhte Rückfallsgefahr bestehe, sollte der Bf. auf freien Fuß gesetzt werden. Letzterer habe wegen der Begehung von Diebstählen fast 26 Jahre in Haft verbracht. In Freiheit habe er seinen Lebensunterhalt nur auf kriminelle Weise bestritten und während der Haft kaum Arbeiten verrichtet, da ihm die Entlohnung dafür zu gering gewesen sei. Er beharre darauf, zu Unrecht verurteilt worden zu sein, und weigere sich, seine kriminelle Vergangenheit einer Neubewertung zu unterziehen.

Das OLG Köln bestätigte diese Entscheidung. Mit Beschluss vom 18.12.2002 lehnte es das BVerfG ab, die dagegen eingebrachte Beschwerde des Bf. zu behandeln.

Im Rahmen des "Überprüfungsverfahrens" nach § 67e StGB lehnte es die Strafvollstreckungskammer im Februar 2006 ab, die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, da nach wie vor Tatbegehungsgefahr bestehe. Der Bf. sei in seiner Eigenschaft als Redakteur der Gefängniszeitung wegen missbräuchlicher Verwendung des Computers entlassen worden und stehe nun ohne Arbeit da. Da er eine Gesprächstherapie prinzipiell verweigere, könne auch keine psychiatrische Expertise eingeholt werden, welche über eine positive Entwicklung Auskunft geben könnte. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben alle erfolglos.

Von September 2002 bis Jänner 2004 verrichtete der Bf. Arbeiten für eine private Firma, wofür er ca. € 300,– erhielt. Nach Beschreitung des innerstaatlichen Instanzenzugs erhob er Beschwerde an das BVerfG und brachte vor, seine extrem niedrige Entlohnung für geleistete Gefängnisarbeit stelle eine erniedrigende Behandlung dar. Mit Beschluss vom 30.9.2003 lehnte es das BVerfG ab, auf die Verfassungsbeschwerde näher einzugehen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. bringt vor, seine Anhaltung in Sicherungsverwahrung stelle eine Verletzung seines Rechts auf persönliche Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 EMRK dar.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet, noch aus anderen Gründen unzulässig. Sie wird daher für zulässig erklärt (einstimmig).

2. In der Sache

Der GH verweist auf sein Urteil im Fall M./D, wonach die unter Berufung auf § 66 Abs. 1 StGB angeordnete Unterbringung des damaligen Bf. in der Sicherungsverwahrung als Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK zu werten sei und bis zum Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstdauer von zehn Jahren zulässig gewesen wäre. Der GH nahm zur Kenntnis, dass die Sicherungsverwahrung hinsichtlich der vom verurteilten Straftäter ausgehenden Gefahr für die Öffentlichkeit angeordnet wurde – und insofern (auch) einen präventiven Zweck verfolgte.

Es besteht insofern kein Anlass, von den im Fall M./D getroffenen Feststellungen abzugehen. Die Unterbringung des Bf. in der Sicherungsverwahrung basierte somit auf einer Verurteilung iSv. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK. Bleibt zu prüfen, ob im Hinblick auf den Zeitraum zwischen der Verurteilung des Bf. und seiner Freiheitsentziehung ein ausreichender Kausalzusammenhang bestand.

Im vorliegenden Fall ordnete das Landgericht angesichts der Verurteilung des Bf. wegen versuchten Diebstahls als Mitglied einer Bande und mit Rücksicht auf sein Vorstrafenregister die Sicherungsverwahrung an, da er an der Begehung weiterer – einschlägiger – Verbrechen mit potentiell schweren wirtschaftlichen Schäden für die Betroffenen gehindert werden sollte. In den 2002 bzw. 2006 stattfindenden »Überprüfungsverfahren« nahmen die Strafvollzugsgerichte auf die einschlägigen Verurteilungen des Bf., sein Verhalten im Gefängnis und seine Einstellung zur Arbeit Bezug und befanden, dass er weiterhin rückfallgefährdet sei. Eine positive Entwicklung sei nicht absehbar, da der Bf. sich weigere, seine kriminelle Vergangenheit neu zu bewerten.

Die Entscheidung der Gerichte, den Bf. nicht auf freien Fuß zu setzen, stand daher mit den vom Landgericht Köln verfolgten Zielen in Einklang, ordnete dieses doch die Sicherungsverwahrung an, um den Bf. an der Begehung weiterer schwerer Eigentumsdelikte zu hindern.

Was die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte anlangt, der Bf. werde neuerlich in einschlägiger Weise straffällig werden, wiederholt der GH seine im Fall M./D geäußerten Bedenken: In Deutschland scheinen – abgesehen von den auch für gewöhnliche Langzeithäftlinge vorgesehenen Angeboten – für in der Sicherungsverwahrung untergebrachte Personen offenbar keine besonderen Instrumente oder Einrichtungen zur Verfügung zu stehen, die darauf abzielen, deren Gefährlichkeit zu reduzieren, und dazu beitragen, die Dauer ihrer Anhaltung auf das absolut notwendige Maß zu beschränken, um sie von der Begehung weiterer Delikte abzuhalten.

Ungeachtet dessen war die Entscheidung der deutschen Gerichte, wonach im vorliegenden Fall eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung notwendig sei, mit Blick auf die von der ursprünglichen Anordnung verfolgte Zielsetzung nicht unangemessen: Der Bf. hatte den Antritt jeglicher Therapie verweigert und keine Anzeichen einer Neubewertung seiner kriminellen Vergangenheit gezeigt. Andere effektive Maßnahmen, um ihn an der Begehung weiterer schwerer Eigentumsdelikte zu hindern, standen offenbar nicht zur Disposition.

Es bestand somit ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Bf. und der Sicherungsverwahrung während des fraglichen Zeitraums. Da seine Anhaltung auch rechtmäßig war, indem sie auf eine – vorhersehbare – Heranziehung der §§ 66, 67d und 67e StGB beruhte, wurde auch den Anforderungen von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK Genüge getan. Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

II. Zu den anderen gerügten Verletzungen der EMRK

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der Folter), da seine Sicherungsverwahrung bezweckt habe, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Er beansprucht ferner Schadenersatz für konventionswidrige Freiheitsentziehung gemäß Art. 5 Abs. 5 EMRK und macht eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) geltend, da die Gerichte es verabsäumt hätten, die Umstände seiner Verhaftung und die Rechtmäßigkeit seiner strafgerichtlichen Verurteilung zu überprüfen. Der Bf. behauptet schließlich, sein Arbeitslohn im Gefängnis sei derart niedrig gewesen, dass dies eine weitere Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der erniedrigenden Behandlung) darstelle. Darüber hinaus sei die Verpflichtung, Gefängnisarbeit verrichten zu müssen, als Verletzung von Art. 4 EMRK (hier: Verbot der Zwangsarbeit) zu werten. Das Versäumnis der Behörden, ihm das an den Staat gezahlte Honorar für geleistete Arbeiten im Gefängnis mitzuteilen, verletze dessen Verpflichtungen nach Art. 13 EMRK.

Im Verfahren betreffend die behauptete unfaire Entlohnung im Gefängnis unterließ es der Bf., die Frage der Verpflichtung zur Arbeit vor die Gerichte zu bringen. Die Beschwerde unter Art. 4 EMRK ist daher wegen fehlender Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs zurückzuweisen. Der GH hat die übrigen Beschwerdepunkte untersucht, die – auch unter der Voraussetzung, sie seien mit der Konvention ratione materiae vereinbar – keinen Anschein einer Konventionsverletzung erkennen lassen. Dieser Teil der Beschwerde ist daher gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

M./D v. 17.12.2009, NL 2009, 371; EuGRZ 2010, 25.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.10.2010, Bsw. 24478/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 311) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_5/Grosskopf.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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