JudikaturAUSL EGMR

Bsw17185/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. September 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Iskandarov gegen Russland, Urteil vom 23.9.2010, Bsw. 17185/05.

Spruch

Art. 3, 5 EMRK - Entführung und Auslieferung eines Oppositionsführers.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Während des tadschikischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren war der Bf. einer der Führer der Vereinigten Tadschikischen Opposition. Später nahm er wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft ein. Zu einem unbekannten Zeitpunkt kritisierte er öffentlich den Präsidenten. Im Dezember 2004 zog er nach Russland.

Im November 2004 wurde der Bf. in Tadschikistan in Abwesenheit unter anderem wegen Terrorismusverdachts angeklagt. Er wurde auf eine internationale Fahndungsliste gesetzt und infolge eines Auslieferungsersuchens am 9.12.2004 von den russischen Behörden verhaftet. Am 23.12. ordnete das Bezirksgericht Babushkinskiy von Moskau die Auslieferungshaft an.

Im Jänner 2005 stellte der Bf. einen Antrag auf politisches Asyl. In dessen Folge wies die russische Generalstaatsanwaltschaft das Auslieferungsersuchen ab. Am 4.4.2005 wurde die Freilassung des Bf. angeordnet.

Der Bf. lebte danach bei einem Freund in Korolev. Am 15.4.2005 wurde er bei einem Spaziergang von zwei mit Uniformen der Straßenpolizei bekleideten Männern angehalten, in ein Fahrzeug verfrachtet und weggebracht. Nach längerer Fahrt hielt man den Bf. an einem ihm unbekannten Ort fest. Zwei vom Bf. als Vollzugsbeamte eingeschätzte Männer brachten ihn später mit verbundenen Augen zu einem Flughafen, wo man ihn ohne Ausweiskontrolle in ein Flugzeug setzte. Während des Flugs blieben seine Augen verbunden. Für Zivilflüge übliche Instruktionen konnte er dabei keine vernehmen. Nach der Landung in Dushanbe wurde er den tadschikischen Behörden übergeben.

Der Bf. wurde ab dem 17.4.2005 in einem tadschikischen Gefängnis angehalten. Er bekam kaum zu essen und zu trinken, wurde geschlagen und mit dem Tod bedroht. Am 5.10.2005 verurteilte ihn das tadschikische Höchstgericht zu 23 Jahren Haft.

Ab Mai 2005 versuchten die Anwälte des Bf. mehrmals, die Rechtswidrigkeit der Auslieferung geltend zu machen. Ihre Anträge blieben jedoch unbeantwortet oder wurden abgewiesen.

Die russische Regierung bestreitet, dass der Bf. von russischen Sicherheitskräften entführt worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).

I. Tatsachenfeststellung

Die Regierung bestreitet, dass die russischen Behörden in die Entführung des Bf. involviert waren. Letzterer hält dies jedoch durch verschiedene Fakten für belegt. Diese Unklarheiten machen es für den GH erforderlich, die Tatsachen betreffend den Transfer des Bf. nach Tadschikistan selbst festzustellen. Er wird dabei jedoch sensibel mit seiner subsidiären Rolle umgehen und muss RusslandAcht geben, dass er nur dort selbst als Tatsacheninstanz agiert, wo dies unvermeidbar ist. In Fällen einer behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK muss der GH aber eine besonders genaue Prüfung vornehmen.

Der GH geht nicht immer davon aus, dass derjenige, der eine Behauptung aufstellt, diese auch belegen muss. Unter bestimmten Umständen, wenn die Ereignisse zur Gänze oder zum Großteil ausschließlich den Behörden bekannt sind, kann die Beweislast als diesen obliegend betrachtet werden.

Im vorliegenden Fall gab der Bf. eine klare und kohärente Beschreibung der Ereignisse ab. Seine Behauptung, de facto rechtswidrig von den russischen Behörden ausgeliefert worden zu sein, wird von Berichten des US Department of State bekräftigt. Die Regierung hat zudem keine Erklärung dafür geliefert, wie der Bf., der zuletzt am 15.4.2005 in der Umgebung von Moskau gesehen und am 17.4. in einem tadschikischen Gefängnis aufgenommen wurde, nach Tadschikistan gelangt war.

Die kürzeste Straße zwischen Korolev und Dushanbe ist 3.660 Kilometer lang und führt durch Kasachstan und Usbekistan, an deren Staatsgrenzen Kontrollen durchgeführt werden. In Anbetracht dessen erscheint es unglaubwürdig, dass der Bf. von Entführern heimlich in weniger als zwei Tagen mit einem anderen Transportmittel als einem Flugzeug nach Tadschikistan gebracht worden sein könnte. Bei einem Transport mit dem Flugzeug hätten die Entführer den Bf. wohl nicht ohne Passkontrolle, für deren Vorliegen es keine Nachweise gibt, außer Landes schaffen können. Es erscheint daher glaubwürdig, dass der Bf. von russischen Staatsbeamten, die ohne Ausweiskontrolle passieren durften, per Flugzeug nach Tadschikistan gebracht wurde. Da die Regierung es verabsäumt hat, die Behauptungen des Bf. überzeugend zu widerlegen, erachtet es der GH als erwiesen, dass der Bf. am 15.4.2005 von russischen Staatsbeamten festgenommen wurde und sich bis zur Übergabe an die tadschikischen Behörden unter deren Kontrolle befand.

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

Der Bf. behauptet, durch seine rechtswidrige Verbringung nach Tadschikistan Misshandlungen und Verfolgung aufgrund seiner politischen Ansichten ausgesetzt worden zu sein.

1. Zur Zulässigkeit

Der Regierung zufolge sollte die Beschwerde ratione loci für unzulässig erklärt werden. Wie der GH jedoch betont, wird die Verantwortlichkeit eines ausliefernden Staates nicht durch außerhalb seiner Jurisdiktion liegende, sondern durch ihm zurechenbare Handlungen begründet, deren direkte Folge es ist, dass der Einzelne einer Misshandlung ausgesetzt wird. Die Einrede der Regierung ist zurückzuweisen. Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

2. In der Sache

Nun gilt es festzustellen, ob für den Bf. im Zeitpunkt seiner Außerlandesschaffung eine reale Gefahr bestand, in Tadschikistan einer von Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung unterworfen zu werden.

Diverse objektive Quellen belegen unzweifelhaft, dass 2005 die allgemeine Menschenrechtssituation in Tadschikistan sehr besorgniserregend war. Folter durch Staatsbeamte war generelle Praxis, wobei die Täter Immunität genossen. In Gefängnissen herrschten zudem widrige, lebensbedrohliche Bedingungen. Was die persönliche Situation des Bf. betrifft, so war er einer der möglichen Herausforderer von Präsident Rakhmonov im Kampf um das Präsidentenamt. Zum Zeitpunkt seiner Verbringung aus Russland gab es bereits Berichte, die die politische Verfolgung und Misshandlung eines anderen Oppositionsführers und Regimekritikers betrafen. Diese spezifischen Aspekte konnten es bzw. hätten es den Behörden ermöglichen sollen, eine mögliche Misshandlung des Bf. in Tadschikistan vorherzusehen.

Der GH ist sehr betroffen, dass es die russischen Behörden offenkundig verabsäumten, die Risiken einer Misshandlung abzuwägen. Mangels einer Auslieferungsanordnung hatte der Bf. keine Möglichkeit, Berufung gegen seine Verbringung einzulegen – eigentlich eine grundlegende Verfahrenssicherheit, um keinen Misshandlungen im Zielstaat ausgesetzt zu werden.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass die Verbringung des Bf. nach Tadschikistan in Verletzung von Art. 3 EMRK erfolgte (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Der Bf. ist der Ansicht, am 15.4.2005 von russischen Beamten entgegen nationalem Recht inhaftiert worden zu sein. Die Regierung bestreitet hingegen eine Festnahme und Anhaltung des Bf. nach seiner Entlassung aus der Auslieferungshaft am 4.4.2005.

1. Zur Zulässigkeit

Um festzustellen, ob ein Freiheitsentzug iSv. Art. 5 EMRK vorliegt, muss die konkrete Situation des Bf. betrachtet und eine Reihe von Kriterien berücksichtigt werden. Ein Freiheitsentzug unterscheidet sich von einer Freiheitsbeschränkung durch den Grad der Intensität.

Aufgrund der wenigen Informationen und dem Fehlen jeglicher amtlicher Aufzeichnungen kann der GH die Umstände der Verbringung des Bf. nach Dushanbe nicht im Detail feststellen. Als erwiesen wurde aber bereits angesehen, dass der Bf. von russischen Staatsbeamten begleitet und gegen seinen Willen nach Tadschikistan gebracht worden war. Da er von den Beamten zur Reise gezwungen wurde, kann seine Verbringung nicht bloß als Freiheitsbeschränkung betrachtet werden. Die kurze Dauer der ausgeübten Kontrolle ist nicht entscheidend.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass dem Bf., während er sich unter der Kontrolle russischer Staatsbeamter befand, praktisch die Freiheit entzogen wurde. Art. 5 Abs. 1 EMRK ist ratione materiae anwendbar. Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

2. In der Sache

Einer Person darf ihre Freiheit nur unter den in Art. 5 Abs. 1 EMRK genannten Bedingungen entzogen werden. Die Freiheitsentziehung muss rechtmäßig sein, indem sie einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren folgt. Eine willkürliche Freiheitsentziehung ist nicht mit der Konvention vereinbar.

Der GH bedauert die intransparente Vorgehensweise im Fall des Bf., die nicht nur die Rechtssicherheit gefährden kann, sondern auch die Gefahr birgt, das Vertrauen in die innerstaatlichen Behörden zu untergraben. Die Anhaltung des Bf. war zudem auf keine nach nationalem Recht ergangene Entscheidung gestützt. In einem der Rechtstaatlichkeit unterworfenen Staat ist dies undenkbar. Der Freiheitsentzug des Bf. lief darauf hinaus, die Abweisung des Auslieferungsersuchens durch die Generalstaatsanwaltschaft zu umgehen, und stellte keine in Hinblick auf eine Ausweisung oder Auslieferung notwendige Anhaltung dar. Sie war weder anerkannt noch schien sie in den Akten auf. Damit bedeutete sie eine komplette Negierung der von Art. 5 EMRK geschützten Freiheit und Sicherheit der Person.

Vom Moment seiner Verhaftung am 15.4.2005 bis zur Übergabe an die tadschikischen Behörden war dem Bf. daher willkürlich die Freiheit durch russische Staatsbeamte entzogen. Es ist eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festzustellen (einstimmig).

IV. Anwendung von Art. 41 und Art. 46 EMRK

€ 30.000,– für immateriellen Schaden, € 3.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Der Bf. fordert, Russland solle seine Freilassung aus dem tadschikischen Gefängnis und seine Rückverbringung nach Russland sichern. Dies würde jedoch einen Eingriff Russlands in die inneren Angelegenheiten Tadschikistans erfordern. Der GH hält es daher nicht für angemessen, individuelle Maßnahmen zur Wiedergutmachung der Konventionsverletzung aufzuzeigen.

Vom GH zitierte Judikatur:

Vilvarajah u.a./GB v. 30.10.1991, NL 1992/1, 15; ÖJZ 1992, 309.

Assanidze/GE v. 8.4.2004, EuGRZ 2004, 268.

Altun/TR v. 1.6.2004.

Mamatkulov und Askarov/TR v. 4.2.2005 (GK), NL 2005, 23; EuGRZ 2005, 357.

D. H. u.a./CZ v. 13.11.2007 (GK), NL 2007, 299; EuGRZ 2009, 90.

Medvedyev u.a./F v. 29.3.2010 (GK), NL 2010, 104.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.9.2010, Bsw. 17185/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 297) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_5/Iskandarov.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise