Bsw2668/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Dink gegen die Türkei, Urteil vom 14.9.2010, Bsw. 2668/07, Bsw. 6102/08, Bsw. 30079/08, Bsw. 7072/09 und Bsw. 7124/09.
Spruch
Art. 10 EMRK - Meinungsfreiheit eines ermordeten Journalisten.
Verbindung der Prüfung der Einreden der Regierung mit der meritorischen Entscheidung (einstimmig).
Zurückweisung der Einreden der Regierung (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich dessen materiellen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art. 2 EMRK hinsichtlich dessen formellen Aspekts (einstimmig).
Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 13 in Verbindung mit Art. 2 EMRK (einstimmig).
Keine Notwendigkeit, die Beschwerde unter Art. 6, 7 und 14 EMRK zu prüfen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 100.000,– für die Bf. Rahil, Delal, Arat und Sera Dink gemeinsam und € 5.000,– für den Bf. Hasrof Dink für immateriellen Schaden; € 28.595,– für alle Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Beim ErstBf. handelt es sich um den am 19.1.2007 erschossenen Firat Dink, ehemaliger Publikationsleiter und Chefredakteur der turko-armenischen Wochenzeitschrift Agos. Die übrigen Bf. sind dessen Verwandte.
Zwischen November 2003 und Februar 2004 publizierte der ErstBf. eine Serie von acht Artikeln, in denen er seine Ansichten über die Identität türkischer Staatsbürger armenischer Herkunft zum Ausdruck brachte. Er erklärte darin, dass die armenische Diaspora von einem (1915 verübten) Genozid geprägt sei, dessen Nichtanerkennung ein Faktor für die Zerstörung der armenischen Identität sei. Die Obsession, als Opfer eines Völkermordes anerkannt zu werden, sei zur raison d'être der Armenier geworden. Der ErstBf. befand, dass das türkische Element in der armenischen Identität zugleich Gift und Gegengift sei. Die Armenier könnten sich von ihrer türkischen Komponente befreien, indem sie eine eigenständige, von der türkischen und der übrigen Welt unterschiedliche Auffassung der Ereignisse von 1915 entwickelten. Im achten Artikel schrieb er: "Das reine Blut, das durch jenes vom 'Türken' vergiftete ersetzt werden wird, findet sich in der edlen Ader, die den Armenier mit Armenien verbindet, sofern der Armenier sich dessen bewusst ist."
Im Februar 2004 erschien in Agos ein Artikel, in dem die armenische Herkunft der Adoptivtochter Atatürks angesprochen wurde. Dieser Veröffentlichung folgten gegen den ErstBf. gerichtete Drohbriefe ultranationalistischer Gruppierungen.
Am 27.2.2004 wurde der Bf. von einem Mitglied einer ultranationalistischen Gruppierung angezeigt, da er mit der oben zitierten Phrase die Türken beleidigt habe. Am 16.4. erhob man Anklage wegen Verunglimpfung der türkischen Identität (Türklük) gemäß Art. 159 des türkischen Strafgesetzbuchs. Einige der Ultranationalisten wurden als Prozessbeteiligte anerkannt.
Obwohl ein vom Strafgericht beauftragtes Expertengremium bei einer Gesamtbetrachtung der Artikelserie zu dem Schluss kam, dass der ErstBf. mit "Gift" nicht das türkische Blut, sondern die Obsession der Armenier betreffend die Anerkennung des Genozids gemeint hatte, wurde der Bf. am 7.10.2005 zu sechs Monaten bedingter Haft verurteilt.
Das Kassationsgericht bestätigte die Schuld des Bf., hob allerdings die Anerkennung der Prozessbeteiligten auf. Eine außerordentliche Revision des Generalprokurators wurde von der Versammlung der Strafsenate des Kassationsgerichts abgewiesen. Diese ging davon aus, dass sich der Begriff Türklük auf die türkische Nation beziehe und die Gesamtheit nationaler und moralischer Werte – menschlicher, religiöser und historischer Werte sowie der Nationalsprache, nationaler Gefühle und nationaler Traditionen – meinte.
Das Verfahren wurde an das Strafgericht zurückverwiesen, nach dem Tod des Bf. jedoch eingestellt.
Firat Dink wurde am 19.1.2007 erschossen. Der Tat verdächtigt wurde ein Mitglied einer ultranationalistischen Gruppierung. Zwei weitere Personen, Y. H. und E. T., wurden der Anstiftung zum Mord verdächtigt. Ermittlungen ergaben, dass diese von den Sicherheitsbehörden von Trabzon bereits überwacht worden waren und E. T. als Informant der Polizei von Trabzon jene sogar über die beabsichtigte Ermordung aufgeklärt habe. Auch die Sicherheitsbehörde von Istanbul sei darüber informiert worden, habe jedoch nicht reagiert. In der Folge wurde gegen 18 Personen Anklage erhoben. Das Verfahren ist noch anhängig.
Daneben wurden Untersuchungen zur Klärung der Verantwortlichkeit der Gendarmerie von Trabzon betreffend die Ermordung Firat Dinks eingeleitet. Man nahm an, diese sei von einem weiteren Informanten über die geplante Tötung aufgeklärt worden. In der Folge wurde lediglich gegen zwei Gendarmen, nicht jedoch gegen deren Vorgesetzte, Anklage erhoben. Die Beamten gaben zu, Informationen erhalten, jedoch auch ihre Vorgesetzten darüber in Kenntnis gesetzt zu haben. Diese hätten sie später dazu aufgefordert, den Informationserhalt zu leugnen. Die Untersuchung ist noch anhängig.
Auch gegen die Verantwortlichen der Polizei von Trabzon, die von E. T. Informationen über die Ermordung des ErstBf. erhalten hatte, wurden Untersuchungen eingeleitet, später jedoch eingestellt, da der Staatsanwalt das Argument der Beamten, E. T. sei unglaubwürdig gewesen, für überzeugend hielt.
Da vorangehende Ermittlungen ergeben hatten, dass die Polizei von Trabzon jene von Istanbul über die mögliche Ermordung Firat Dinks in Kenntnis gesetzt, diese jedoch nicht reagiert habe, wurde auch diesbezüglich ermittelt und vom Verwaltungsrat der Präfektur Istanbul entschieden, gegen bestimmte Beamte ein Strafverfahren einzuleiten. Dieser Beschluss wurde jedoch vom Verwaltungsgericht zweiter Instanz aufgehoben.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen Verletzungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege), Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK
Die Verwandten des ErstBf. sind der Ansicht, die Türkei habe ihre Verpflichtung, dessen Leben zu schützen, verletzt. Zudem sei die strafrechtliche Verfolgung der Beamten, die nicht die nötigen Maßnahmen zum Schutz von Firat Dinks Leben ergriffen hätten, ineffektiv gewesen.
1. Zur Zulässigkeit
Die Regierung wendet die Nichterschöpfung des Instanzenzugs ein, da die strafrechtliche Verfolgung der Mordverdächtigen und der zwei Gendarmeriebeamten noch anhängig sei. Diese Einreden werfen Fragen auf, die eng mit der Prüfung der Effektivität der innerstaatlichen Untersuchungen verbunden sind. Der GH wird sie daher zusammen mit der Entscheidung in der Sache prüfen.
2. In der Sache
a. Zur Ermordung Firat Dinks
Unter Umständen erlegt Art. 2 EMRK Konventionsstaaten die positive Verpflichtung auf, präventive Maßnahmen zu ergreifen, um eine Person, deren Leben bedroht ist, vor kriminellen Handlungen Dritter zu schützen. Dabei muss aber erwiesen sein, dass die Behörden von einer reellen, unmittelbaren Lebensbedrohung wussten oder wissen hätten müssen und es unterließen, die ihnen möglichen Maßnahmen zu ergreifen, die diese Gefahr zweifellos gelindert hätten.
Firat Dink erhielt Drohbriefe, wurde wegen Beleidigung der Türken von einem Mitglied einer ultranationalistischen Gruppierung angezeigt und in erster Instanz wegen Verunglimpfung der türkischen Identität (Türklük) schuldig gesprochen. Das Kassationsgericht hat seine Schuld bestätigt. Polizei und Gendarmerie waren zudem über die Möglichkeit seiner Ermordung informiert. Ermittlungen haben gezeigt, dass verdächtige Personen unter Beobachtung standen und einer von ihnen als Informant von der bevorstehenden Ermordung berichtet hatte, wovon die Sicherheitsbehörden von Trabzon und Istanbul erfuhren. Ein weiterer Informant hatte sein Wissen zwei Gendarmeriebeamten mitgeteilt, die die Informationen an ihre Vorgesetzten weiterleiteten. In Anbetracht dieser Feststellungen kann man davon ausgehen, dass die Behörden wussten oder wissen hätten müssen, dass eine reelle und unmittelbare Gefahr für Firat Dinks Leben bestand.
Es ist anzumerken, dass drei Behörden mit dem Schutz des Lebens des ErstBf. befasst waren. Keine von ihnen hat reagiert, um die Ermordung zu verhindern, obwohl sie über deren Planung auf dem Laufenden waren. Die Behörden hätten reagieren müssen, obwohl der Bf. nicht darum ersucht hat. Sie haben somit nicht die vernünftigerweise zur Verfügung stehenden Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr für das Leben von Firat Dink ergriffen. Es ist eine Verletzung des materiellen Aspekts von Art. 2 EMRK festzustellen (einstimmig).
b. Zum Vorwurf einer unzureichenden Untersuchung
Nach Firat Dinks Tod wurden Untersuchungen eingeleitet, um den Umgang der Sicherheitskräfte mit den den geplanten Mord betreffenden Informationen zu beleuchten. Die Beamten der Gendarmerie Trabzon wurden, abgesehen von zwei Unteroffizieren, allerdings nicht vor die Strafgerichte gebracht, obwohl sie nach Erhalt der Informationen untätig blieben. Die Unteroffiziere gaben zudem an, von ihren Vorgesetzten zur Falschaussage angehalten worden zu sein, was als eine Verletzung der Pflicht zur Beweiserlangung und eine abgestimmte Aktion, um die Untersuchung zur Klärung der Verantwortlichkeit der involvierten Personen zu behindern, zu werten ist.
Die Polizei von Trabzon betreffend ist festzuhalten, dass die Argumente für die Einstellung der gegen sie geführten Untersuchungen einigen Tatsachen widersprachen: Dem Schluss, die Informationen von E. T. seien unglaubwürdig gewesen, steht entgegen, dass die Polizei von Trabzon jene von Istanbul offiziell über die Gefahr der Ermordung in Kenntnis gesetzt hatte.
Gegen die Polizei von Istanbul wurden nach der Aufhebung der Anordnung, bestimmte Polizeibeamte vor Gericht zu stellen, keine strafrechtlichen Ermittlungen eingeleitet, dies obwohl Ermittlungen des Innenministeriums ergaben, dass die Verantwortlichen nicht die gebotenen Maßnahmen getroffen hatten.
Es ist zwar richtig, dass gegen die Tatverdächtigen ein strafrechtliches Verfahren noch anhängig ist. Die Verfahren zur Klärung der Verantwortlichkeit der Behörden wurden, abgesehen von jenem gegen die beiden Gendarmeriebeamten, jedoch alle eingestellt.
Als weiterer Mangel der Untersuchungen ist zu werten, dass diese teils von Verwaltungsstellen durchgeführt wurden, die nicht gänzlich unabhängig von den involvierten Personen waren.
Zudem wurde den legitimen Interessen der Opfer nicht entsprochen, da die Verwandten von Firat Dink nicht in die gegen die Beamten eingeleiteten Verfahren eingebunden wurden.
Die Einstellung der Ermittlungen gegen die betroffenen Polizei- und Gendarmeriebeamten ist als Verkennung der von Art. 2 EMRK gestellten Anforderungen an eine effektive Untersuchung zur Identifizierung und möglichen Sanktionierung der für die Mängel Verantwortlichen zu verstehen. Es liegt daher eine Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 2 EMRK vor (einstimmig). Die Einrede der Regierung wegen Nichtausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs ist zurückzuweisen (einstimmig).
Der Fall wirft keine neuen Fragen nach Art. 6 und Art. 14 EMRK auf (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Bf. behaupten, die Verurteilung Firat Dinks habe dessen Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und ihn zu einer Zielscheibe für ultranationalistische Gruppierungen gemacht. Sie machen zudem eine Diskriminierung geltend, da die Richter den Begriff der türkischen Identität (Türklük) lediglich auf Personen ethnisch-türkischer Abstammung bezogen hätten. Der GH wird diese Beschwerden zunächst unter Art. 10 EMRK prüfen.
1. Zur Zulässigkeit
Die Regierung macht geltend, dass die Bsw. Nr. 2.668/07 erst nach dem Tod von Firat Dink eingebracht wurde und deren Prüfung deshalb unterbleiben solle. Der GH weist diese Einrede zurück, da der Poststempel des Beschwerdeschreibens mit 11.1.2007 datiert ist, acht Tage vor dem Tod des ErstBf.
Die Regierung wendet weiters die Nichterschöpfung des Instanzenzugs und fehlende Opfereigenschaft ein, da Firat Dink starb, bevor seine Verurteilung rechtskräftig wurde. Zudem sei es den anderen Bf. nicht möglich, die Rechte des ErstBf. betreffend seine Meinungsäußerungsfreiheit geltend zu machen.
Diese Einreden sind eng mit der Frage des Bestehens eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit und der Begründetheit der Beschwerde verbunden. Der GH wird sie daher im Lichte der Ergebnisse der Untersuchung in der Sache beantworten. Da die Beschwerdepunkte weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig sind, werden sie für zulässig erklärt (einstimmig).
2. In der Sache
Firat Dinks Schuld betreffend die Verunglimpfung der türkischen Identität wurde von der höchsten strafgerichtlichen Instanz – dem Kassationsgericht – bestätigt. Nach Ansicht des GH konnte der ErstBf. daher a fortiori und bis zu seinem Tod behaupten, Opfer einer Verletzung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung zu sein. Zudem ist zu sagen, dass die strafrechtliche Verfolgung des ErstBf. ihren Ursprung in der Anzeige einer ultranationalistischen Gruppierung hatte, die sich durch die Worte des ErstBf. angegriffen fühlte. Durch die Feststellung seiner Schuld wurde der ErstBf. in der Öffentlichkeit so dargestellt, als habe er alle Personen türkischer Abstammung beleidigt. Die über die Mordabsichten informierten Behörden haben danach nichts unternommen, um sein Leben zu schützen.
Der GH geht daher davon aus, dass die Bestätigung der Schuld durch das Kassationsgericht – für sich allein oder zusammen mit dem Fehlen von Maßnahmen zum Schutz gegen Ultranationalisten – einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des ErstBf. darstellte. Aus denselben Motiven weist er die Einrede der Regierung betreffend die fehlende Opfereigenschaft und die Nichtausschöpfung des Instanzenzugs zurück (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sajó, gefolgt von Richterin Tsotsoria).
Im Lichte der genannten Erwägungen haben zudem die anderen Bf. ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass der Ausspruch von Firat Dinks Schuld in Verletzung von Art. 10 EMRK geschah. Der GH weist die diesbezügliche Einrede der Regierung daher ebenfalls zurück (einstimmig). Es bleibt zu prüfen, ob der Eingriff gerechtfertigt war.
Mit Art. 159 Strafgesetzbuch hatte der Eingriff eine gesetzliche Grundlage im nationalen Recht. Die Vorhersehbarkeit der Bestimmung scheint dem GH in Anbetracht des weiten Begriffs der "türkischen Identität" (Türklük) allerdings zweifelhaft. Angsichts seiner folgenden Feststellungen muss dieser Punkt jedoch nicht näher untersucht werden.
Die Regierung meint, der Eingriff verfolgte das legitime Ziel, die öffentliche Ordnung zu wahren. Der GH hat auch hier Zweifel, ob die öffentliche Ordnung gefährdet sein kann, ohne dass der Bf. mit seinen Worten zu Gewalt angestiftet hat, stellt jedoch einen engen Zusammenhang mit der nachfolgenden Untersuchung der Notwendigkeit des Eingriffs fest.
Die strittigen Artikel des Bf. betrafen Fragen der Identität der armenischen Diaspora und hatten die Form einer historischen Reflexion und eines politischen Diskurses. Bei einer Gesamtbetrachtung der Artikel kommt der GH zu dem Schluss, dass der ErstBf. mit "Gift" die Wahrnehmung der Türken und das zwanghafte Bedürfnis der armenischen Diaspora, die Ereignisse von 1915 als Genozid anzuerkennen, meinte. Diese Obsession hielt Firat Dink dafür verantwortlich, dass die Armenier daran gehindert wurden, ihre Identität auf einer gesunden Basis zu entwickeln. Anders als die Regierung ist der GH der Ansicht, dass diese Behauptungen, die keinesfalls auf "die Türken" abzielten, nicht mit einer Hassrede gleichgesetzt werden sollten.
Das Kassationsgericht definierte den Begriff Türklük anhand eines Elements des Staates, nämlich der türkischen Nation, und interpretierte ihn als die Gesamtheit menschlicher, religiöser und historischer Werte sowie der Nationalsprache, nationaler Gefühle und nationaler Traditionen. Diese Auslegung bezog sich einerseits auf den Staat selbst, wie er durch Politik und Staatshandeln verwirklicht wird. Andererseits begrenzte sie den Terminus auf eine traditionell türkisch religiöse, historische und sprachliche Zugehörigkeit und schloss damit Minderheiten von der türkischen Identität aus.
Der Begriff der türkischen Identität wurde für das Kassationsgericht zum Symbol der konkreten Staatspolitik. Jede Kritik an dieser Politik könnte daher die türkische Identität oder Nation herabwürdigen. Durch den Ausspruch seiner Schuld wurde der Bf. somit indirekt für seine Kritik daran sanktioniert, dass die staatlichen Institutionen die These eines 1915 erfolgten Genozids bestritten.
Bei politischen Diskursen oder Angelegenheiten im öffentlichen Interesse lässt Art. 10 Abs. 2 EMRK kaum Platz für Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit. Die Grenzen der zulässigen Kritik sind zudem weiter, wenn sie die Regierung und nicht eine Einzelperson betreffen. Der ErstBf. hat die umstrittenen Artikel in seiner Eigenschaft als Journalist verfasst und Themen angesprochen, die die armenische Minderheit in ihrer Rolle als politischer Akteur betrafen. Er tat nichts anderes, als seine Meinung über eine im Interesse der Allgemeinheit gelegene Angelegenheit zu äußern. Zudem ist die Recherche über die historische Wirklichkeit integrativer Bestandteil der Meinungsäußerungsfreiheit.
Den ErstBf. für eine Verunglimpfung der türkischen Identität verantwortlich zu erklären, verfolgte somit kein übergeordnetes soziales Bedürfnis.
Die Behauptung der Bf. betreffend, der ErstBf. sei durch seinen Schuldspruch Zielscheibe von Ultranationalisten geworden, verweist der GH auf die – auch in Hinblick auf Angriffe durch Private bestehenden – positiven staatlichen Verpflichtungen im Bereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Diese verpflichten unter anderem dazu, ein wirksames System zum Schutz von Journalisten und ein günstiges Umfeld für die furchtfreie Teilnahme am politischen Diskurs zu schaffen. Das unterbliebene Eingreifen der Behörden, um Firat Dinks Leben gegen Angriffe ultranationalistischer Gruppen zu schützen, zusammen mit dessen keinem übergeordneten sozialen Bedürfnis folgendem Schuldspruch, haben ihrerseits eine Missachtung der Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. durch die Regierung bewirkt.
Die Feststellung der Schuld des ErstBf. begründete somit – allein oder zusammen mit dem Fehlen von Maßnahmen zum Schutz gegen den tödlichen Angriff – eine Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sajó, gefolgt von Richterin Tsotsoria).
Die Beschwerden unter Art. 6, Art. 7 und Art. 14 EMRK werfen keine Fragen auf, die eine weitere Untersuchung erfordern würden (einstimmig).
III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK
Auch dieser Beschwerdepunkt ist für zulässig zu erklären (einstimmig).
Bei behaupteten Verletzungen von Art. 2 EMRK fordert Art. 13 EMRK außer der Gewährung einer nötigen Entschädigung auch die Durchführung effektiver Untersuchungen zur Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen sowie einen Zugang der Familienangehörigen zu den Ermittlungen. Das Fehlen einer effektiven strafrechtlichen Untersuchung im vorliegenden Fall veranlasst den GH dazu, auch eine Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 2 EMRK festzustellen, da den Bf. damit der Zugang zu theoretisch bestehenden Rechtsmitteln, etwa einer Schadenersatzklage, verwehrt wurde (einstimmig).
IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 100.000,– für die Bf. Rahil, Delal, Arat und Sera Dink gemeinsam und € 5.000,– für den Bf. Hasrof Dink für immateriellen Schaden; € 28.595,– für alle Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Ogur/TR v. 20.5.1999 (GK), NL 1999, 98.
Dalban/RO v. 28.9.1999 (GK), NL 1999, 159.
Keenan/GB v. 3.4.2001, NL 2001, 65.
Natchova u.a./BG v. 6.7.2005 (GK).
Gongadzé/UA v. 8.11.2005, NL 2005, 275.
Branko TomaŠic/HR v. 15.1.2009.
Opuz/TR v. 9.6.2009, NL 2009, 154.
Maiorano u.a./I v. 15.12.2009, NL 2009, 365.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.9.2010, Bsw. 2668/07, Bsw. 6102/08, Bsw. 30079/08, Bsw. 7072/09 und Bsw. 7124/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 281) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_5/Dink.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.