Bsw28221/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Gatt gegen Malta, Urteil vom 27.7.2010, Bsw. 28221/08.
Spruch
Art. 3, 5 Abs. 1 EMRK - 2.000 Tage Haft wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen.
Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 5 Abs. 1 EMRK sowie unter Art. 1 4. Prot. EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Notwendigkeit der Prüfung der Beschwerde unter Art. 1 4. Prot. EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. befindet sich zur Zeit in einer maltesischen Haftanstalt.
Vor dem Hintergrund eines strafrechtlichen Verfahrens aufgrund von Drogenhandel wurde der Bf. am 13.8.2001 auf Kaution aus der Untersuchungshaft freigelassen, wobei er bestimmte Auflagen zu erfüllen hatte. Diese beinhalteten unter anderem eine persönliche Bürgschaft von ca. € 23.300,– sowie eine Ausgangssperre, die nur zu bestimmten Zeiten entfiel, sodass der Bf. seinen Sohn zur Schule bringen und wieder abholen konnte.
Nachdem der Bf. außerhalb der erlaubten Zeiten in Valetta gesehen wurde, widerrief das Strafgericht am 6.6.2006 die Freilassung auf Kaution und ordnete seine Inhaftierung an. Weiters wurde der Bf. angehalten, die bei seiner Freilassung hinterlegte Summe von € 1.165,– sowie die Bürgschaft in Höhe von € 23.300,– an die Regierung zu zahlen.
Da der Bf. die Summe der Bürgschaft nicht aufbringen konnte, wurde diese mit Entscheidung vom 28.7.2006 gemäß Art. 585 und Art. 586 Strafgesetz in eine Freiheitsstrafe umgewandelt, die insgesamt 2.000 Tage (mehr als fünf Jahre und sechs Monate) betrug.
Daraufhin erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde, in der er geltend machte, Art. 586 Strafgesetz und die Entscheidung vom 28.7.2006 seien mit Art. 3 EMRK nicht vereinbar, da sie eine exzessive und unverhältnismäßige Bestrafung bewirkten. Die Beschwerde wurde unter anderem mit der Begründung abgewiesen, der Bf. habe den Kautionsauflagen frei zugestimmt und die Konsequenzen seien vorhersehbar gewesen.
Das Verfassungsgericht wies die dagegen erhobene Berufung ab. Es führte aus, die Inhaftierung des Bf. habe ihre Grundlage in Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK, da sie der Durchsetzung einer gesetzlichen Verpflichtung diene. Der Bf. sei die Verpflichtung bewusst eingegangen und die Kautionsauflagen wären überflüssig, würde bei einem Verstoß keine Strafe verhängt. Daher sei die Inhaftierung verhältnismäßig und verstoße nicht gegen Art. 3 EMRK.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Strafe). Der GH selbst entscheidet, die Beschwerde auch unter Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art. 1 4. Prot. EMRK (Verbot der Freiheitsentziehung wegen Schulden) zu prüfen.
I. Zur Einrede der Regierung
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe es verabsäumt, den nationalen Instanzenzug zu erschöpfen, da sich dessen Verfassungsbeschwerde nur auf Art. 3 EMRK bezog.
Um das Kriterium der Erschöpfung des Instanzenzugs zu erfüllen, muss die Beschwerde zumindest substantiell und gemäß dem nationalen Recht vor die zuständigen nationalen Behörden gebracht werden. Im vorliegenden Fall berief sich der Bf. auf Art. 3 EMRK und beschwerte sich über die Verhältnismäßigkeit der auf ihn angewendeten Maßnahme. Die Beschwerden unter Art. 5 EMRK und Art. 1 4. Prot. EMRK stützen sich auf die gleichen Fakten und Argumente, die vor den nationalen Behörden vorgebracht wurden. Das Verfassungsgericht bezog sich sogar auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Art. 5 EMRK. Daher ist der GH der Meinung, dass die Behörden Gelegenheit hatten, die behauptete Verletzung wiedergutzumachen. Die Einrede der Regierung wird zurückgewiesen.
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK
Der Bf. beschwert sich, durch die Anwendung von Art. 586 Strafgesetz entgegen den Anforderungen von Art. 3 EMRK Opfer einer exzessiven und unverhältnismäßigen Bestrafung geworden zu sein. Er rügt den Umstand, dass die nationale Bestimmung keine Höchstgrenze für die Länge einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsehe und keine Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Strafe und der geringfügigen Gesetzesübertretung bestehe. Weiters sei diese Strafe im Gegensatz zu anderen keinem Strafnachlass zugänglich.
Der GH schließt nicht aus, dass die Verhängung einer unverhältnismäßigen Strafe eine Angelegenheit unter Art. 3 EMRK darstellen kann. Allerdings muss die Beschwerde ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Länge der Ersatzfreiheitsstrafe mag zwar im Bf. Stress und Angst ausgelöst haben, es kann jedoch nicht gesagt werden, dass dies die von Art. 3 EMRK verlangte Schwere erreicht hätte. Die Beschwerde ist daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK unzulässig (einstimmig).
III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus anderen Gründen unzulässig ist, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).
Die Regierung bringt vor, die Freiheitsentziehung des Bf. stütze sich auf beide Aspekte von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK. Der erste Rechtfertigungsgrund einer Freiheitsentziehung unter dieser Bestimmung bezieht sich auf die Nichtbefolgung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses. Die Konventionsorgane subsumierten darunter unter anderem die Nichtbezahlung gerichtlicher Geldbußen.
Im vorliegenden Fall missachtete der Bf. die Anordnung des Gerichts vom 6.6.2006, die Summe von € 23.300,– zu bezahlen, und wurde in der Folge für eine Zeitspanne von 2.000 Tagen inhaftiert. Da die Konvention in ihrer Gesamtheit zu lesen ist, weist der GH auf Art. 1. 4. Prot. EMRK hin. Der GH hat zwar bereits seine Vorbehalte gegenüber dem Einsatz von Freiheitsstrafen im Bereich des Leistungsverzugs geäußert, Art. 1 4. Prot. EMRK verbietet jedoch nur eine Inhaftierung, die aufgrund von vertraglichen Schulden erfolgt. Der GH ist daher bereit zu akzeptieren, dass sich die Regierung auf den ersten Aspekt von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK stützen konnte, um die Freiheitsentziehung zu rechtfertigen.
Grundsätzlich ist eine Inhaftierung »rechtmäßig« iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK, wenn sie auf einer gerichtlichen Anordnung basiert. Die nationalen Behörden müssen allerdings einen gerechten Ausgleich wahren zwischen der Wichtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die Umsetzung eines rechtmäßigen Gerichtsbeschlusses zu gewährleisten, und der Wichtigkeit des Rechts auf persönliche Freiheit.
Es ist unbestritten, dass die Freiheitsentziehung von einem Gericht auf gesetzlicher Grundlage, nämlich Art. 585 und Art. 586 Strafgesetz, angeordnet wurde. Zu klären ist, ob die Maßnahme verhältnismäßig war.
Die Anordnung des Gerichtes bezweckte, eine Zahlung an die Behörden sicherzustellen, die eine Strafe für die Verletzung der Kautionsauflagen darstellte. Der GH ist der Meinung, dass im Rahmen der Untersuchungshaft finanzielle Sicherheiten notwendig sind, um Respekt für das Recht auf Freiheit zu gewährleisten. Allerdings war der Bf. im Jahr 2006 mittellos und nicht in der Lage, die für einen Verst0ß gegen die Kautionsauflagen vereinbarte Geldstrafe zu bezahlen. Dies könnte im Jahr 2001 noch anders gewesen sein, als er dieser Verpflichtung zustimmte. Ferner war es für den Bf. nicht absehbar, dass die Verfahren gegen ihn über fünf Jahre dauern würden. Da er für fast fünf Jahre unter strengen Kautionsauflagen lebte, war es für ihn nicht möglich, erwerbstätig zu sein, und somit war es unrealistisch zu erwarten, dass er dem Gerichtsbeschluss Folge leisten könne.
Die bisher unter dem ersten Aspekt von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK behandelten Fälle bezogen sich auf Freiheitsstrafen von nur vier Tagen, einer Woche oder maximal sechs Monaten. Im vorliegenden Fall dauert die Anhaltung seit mehr als vier Jahren an und soll insgesamt mehr als fünf Jahre und sechs Monate betragen. Die Haftstrafe ist weiters keinem Strafnachlass zugänglich, wie es etwa der Fall wäre, wäre der Bf. aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung inhaftiert worden. Auch die Garantien von Art. 5 Abs. 3 EMRK kommen ihm nicht zugute. Unter diesen Umständen ist der GH der Meinung, dass eine derart lange Haftstrafe wegen einer einmaligen Verletzung der Ausgangssperre unverhältnismäßig ist. Insofern sie auf diesen Rechtfertigungsgrund gestützt wird, ist die gesamte Haftzeit des Bf. daher nicht mit Art. 5 EMRK vereinbar.
Der GH hat jedoch zu prüfen, ob die Haftstrafe durch den zweiten Aspekt von Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK gerechtfertigt ist, nämlich die Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung. Hierzu darf die Maßnahme keinen punitiven Charakter haben und es ist ein Ausgleich zu schaffen zwischen der Wichtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die Erfüllung der Verpflichtung zu erzwingen, und der Wichtigkeit des Rechts auf persönliche Freiheit.
Der Zweck der Inhaftierung ist hier nicht mehr, die Einhaltung der Kautionsauflagen, sondern die Zahlung einer Geldsumme zu sichern. Der GH hat bereits festgestellt, dass eine solche Maßnahme nicht der Durchsetzung der Geldbuße dient, sondern eine Bestrafung darstellt. Die Regierung hat im vorliegenden Fall bestätigt, dass der Maßnahme ein punitiver Charakter zuzuordnen ist. Dies kann zur paradoxen Situation führen, dass der Betroffene länger inhaftiert wird, als dies bei einer strafrechtlichen Verurteilung der Fall wäre, oder er in Haft bleibt, obwohl er freigesprochen wurde. Der GH hat Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass die Inhaftierung des Bf. die Erfüllung der Verpflichtung erzwingen könnte, da seine Mittellosigkeit während seiner Haft unzweifelhaft weiterbestehen oder sogar verschlimmert wird.
Der GH stellt fest, dass das maltesische Gesetz (Art. 579 Strafgesetz) beim Widerruf einer Freilassung auf Kaution wegen Verstoß gegen die Auflagen keinen Unterschied zwischen Umständen macht, die sich auf den primären Zweck der Kaution – nämlich das Erscheinen vor Gericht – beziehen, und jenen, die anderen Zwecken dienen. In Fällen, in denen der Verstoß nur geringfügig ist, verbleibt den Behörden jedoch die Möglichkeit, die hier einschlägige Bestimmung nicht anzuwenden.
Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der Auflage, gegen die verstoßen wurde, um eine Ausgangssperre, die nicht mit dem primären Zweck der Kaution zusammenhängt. Daher kann der GH die Entscheidung der Behörden, die einschlägige Bestimmung anzuwenden, schwer nachvollziehen. Das maltesische Gesetz ist mangelhaft, da es weder Richtlinien zur Ausübung des von Art. 579 Strafgesetz gewährten Ermessens, noch eine Unterscheidung zwischen Verstößen, die sich auf den primären Zweck der Kaution beziehen, und anderen Zwecken enthält und somit zu willkürlichen und unverhältnismäßigen Ergebnissen führen kann.
Auch hinsichtlich des Fehlens einer Höchstgrenze für die Inhaftierung aufgrund von Verstößen gegen Kautionsauflagen und der fehlenden Möglichkeit, Verhältnismäßigkeitsüberlegungen einfließen zu lassen, ist das maltesische Gesetz mangelhaft. Hier führte die Anwendung dieser Gesetze tatsächlich zu einer exzessiven Dauer der Haftstrafe im Verhältnis zur Verpflichtung, die aufgrund des Verstoßes zu erfüllen war.
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass das Gesetz und seine Anwendung keinen fairen Ausgleich schufen zwischen der Wichtigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die Erfüllung der gesetzlichen Verpflichtung durchzusetzen, und der Wichtigkeit des Rechts auf persönliche Freiheit. Die Haftstrafe war vor allem in Anbetracht ihrer Dauer unverhältnismäßig, sodass eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK festzustellen ist (einstimmig).
IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 4. Prot. EMRK
Der GH lässt die Frage der Anwendbarkeit dieser Konventionsbestimmung im vorliegenden Fall offen. Da dieser Beschwerdepunkt eng mit dem zuvor geprüften zusammenhängt, muss er ebenfalls für zulässig erklärt werden (einstimmig). In Anbetracht der festgestellten Verletzung von Art. 5 EMRK sieht der GH keine Notwendigkeit ihn getrennt zu prüfen (einstimmig).
V. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
Die Frage der Anwendung von Art. 41 EMRK ist noch nicht zur Entscheidung reif (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Airey/IRL v. 9.10.1979, EuGRZ 1979, 626.
Göktan/F v. 2.7.2002.
Vasileva/DK v. 25.9.2003, NL 2003, 255.
Paradis/D v. 4.9.2007 (ZE), EuGRZ 2007, 678.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.7.2010, Bsw. 28221/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 243) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Gatt.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.