Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache P. B. und J. S. gegen Österreich, Urteil vom 22.7.2010, Bsw. 18984/02.
Art. 8, 14 EMRK - Mitversicherung gleichgeschlechtlicher Partner.
Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK in Bezug auf die Zeitspanne bis zum 1.8.2006 (5:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK in Bezug auf die Zeitspanne zwischen 1.8.2006 und 30.6.2007 (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK in Bezug auf die Zeitspanne ab 1.7.2007 (einstimmig).
Keine Notwendigkeit, die Beschwerde unter Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK zu prüfen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für materiellen Schaden und € 10.000,– für immateriellen Schaden. € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Begründung:
Sachverhalt:
Bei den Bf. handelt es sich um ein gleichgeschlechtliches Paar, das in Wien in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Der ZweitBf. ist öffentlicher Bediensteter und bei der Versicherungsanstalt Öffentlicher Bediensteter (in der Folge: »BVA«) kranken- und unfallversichert.
Am 1.7.1997 beantragte der ErstBf., als »Angehöriger« anerkannt zu werden, und die Erweiterung des Versicherungsschutzes des ZweitBf. auf ihn. Die BVA lehnte den Antrag ab, wobei sie sich auf § 56 Abs. 6 Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (B-KUVG) stützte. Die Bestimmung beziehe sich nur auf nahe Verwandte oder eine Person des anderen Geschlechts, die mit dem Versicherten in Hausgemeinschaft lebt und unentgeltlich den gemeinsamen Haushalt führt.
Der Wiener Bürgermeister bestätigte die Entscheidung der BVA. Daraufhin erhob der ErstBf. Verfassungsbeschwerde. Der VfGH weigerte sich – unter Berufung auf den weiten Spielraum, den der Gesetzgeber in diesem Bereich genieße – die Beschwerde zu behandeln. Er bewilligte jedoch die Abtretung der Sache an den VwGH.
Am 4.10.2001 wies der VwGH die Beschwerde ab, da er feststellte, die Behörden hätten § 56 Abs. 6 B-KUVG korrekt angewendet. Art. 8 EMRK garantiere keine speziellen sozialen Rechte und der vorliegende Fall läge daher nicht im Anwendungsbereich dieser Bestimmung. Die unterschiedliche Behandlung sei insofern gerechtfertigt, als bei Personen unterschiedlichen Geschlechts, von denen einer – ohne berufstätig zu sein – unentgeltlich den Haushalt führt, sicher angenommen werden könne, dass diese in einer Partnerschaft zusammen leben. Bei Personen des gleichen Geschlechts könne dies nicht einfach angenommen werden.
In zwei Verfahren zur Überprüfung ähnlicher Gesetzesbestimmungen hob der VfGH § 123 Abs. 8b Allgemeines Sozialversicherungsgesetz und § 83 Abs. 3 Gewerbliches Sozialversicherungsgesetz auf. In beiden Fällen bezog er sich auf die Rechtsprechung des EGMR im Fall Karner/A und bezeichnete die Bestimmungen als diskriminierend, da sie die Ausweitung des Versicherungsschutzes auf Personen verschiedenen Geschlechts beschränkten.
Am 1.8.2006 trat das Sozialrechts-Änderungsgesetz in Kraft, mit welchem unter anderem § 56 B-KUVG geändert wurde. Von da an bestand die Möglichkeit, einen gleichgeschlechtlichen Partner als Angehörigen zu qualifizieren, wenn dieser sich der Kinderbetreuung oder der Pflege des Versicherten widmet. Für Partner unterschiedlichen Geschlechts galt dieses Erfordernis nicht.
Eine weitere Änderung von § 56 B-KUVG trat am 1.7.2007 in Kraft, der zufolge andersgeschlechtliche Partner nicht mehr als Angehörige betrachtet werden können, wenn sie weder Kinder betreuen noch für die Pflege des Versicherten zuständig sind. Die Gesetzesänderung enthielt auch Übergangsbestimmungen für Personen, die gemäß der alten Rechtslage mitversichert waren.
Rechtsausführungen:
Die Bf. behaupten, in ihrem Recht gemäß Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie in Verbindung mit Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) verletzt zu sein.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK
Die Bf. behaupten, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert zu sein, indem der VwGH bestätigte, dass der Versicherungsschutz gemäß § 56 Abs. 6 B-KUVG nur heterosexuellen Paaren zustehe.
1. Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK
Art. 8 EMRK garantiert kein Recht eines im gemeinsamen Haushalt lebenden Partners auf Erweiterung des sozialen Versicherungsschutzes.
Dass eine gleichgeschlechtliche Beziehung wie die vorliegende unter den Begriff »Privatleben« iSv. Art. 8 EMRK fällt, ist unbestritten. Der GH hält es jedoch für angemessen, die Frage zu klären, ob eine solche Beziehung »Familienleben« darstellt.
In seiner früheren Rechtsprechung ging der GH davon aus, dass die emotionale und sexuelle Beziehung gleichgeschlechtlicher Partner zwar unter den Begriff des »Privatlebens«, jedoch nicht des »Familienlebens« fällt – sogar in Fällen, in denen es um Langzeitbeziehungen zweier, im gleichen Haushalt lebender Personen ging. Seither hat jedoch in den Konventionsstaaten eine rasche Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren stattgefunden. Eine signifikante Zahl der Staaten ermöglicht inzwischen die gesetzliche Anerkennung dieser Paare und auch einige Bestimmungen des EU-Rechts zeigen die Tendenz, sie in den Begriff der Familie miteinzubeziehen.
Unter diesen Umständen ist es nicht mehr vertretbar, davon auszugehen, dass homosexuelle Paare kein »Familienleben« iSv. Art. 8 EMRK genießen könnten. Die Beziehung der Bf. – ein im gemeinsamen Haushalt und in einer stabilen de facto-Beziehung lebendes, gleichgeschlechtliches Paar – fällt daher unter den Begriff »Familienleben«, so wie dies auch im Falle eines heterosexuellen Paares zutreffen würde.
Für die Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK genügt es, dass der Sachverhalt in den Anwendungsbereich einer oder mehrerer Konventionsbestimmungen fällt. Das Diskriminierungsverbot gilt jedoch auch für zusätzliche Rechte, die ein Staat gewährt und die in den Anwendungsbereich der Konvention fallen.
Die österreichische Regelung sieht vor, dass unter Umständen der Kranken- und Unfallversicherungsschutz auf Partner, die im gemeinsamen Haushalt leben, ausgeweitet werden kann. Dies ist als Maßnahme zu qualifizieren, die das Privat- und Familienleben des Versicherten zu verbessern bezweckt. Daher fällt die Ausweitung des Versicherungsschutzes unter Art. 8 EMRK.
Da die Bf. behaupten, Opfer einer unterschiedlichen Behandlung zu sein, die weder objektiv noch sachlich gerechtfertigt sei, ist Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar.
2. Vereinbarkeit mit Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK
Eine unterschiedliche Behandlung, die aufgrund des Geschlechts erfolgt, kann nur durch besonders schwerwiegende Gründe gerechtfertigt werden und so mit der Konvention vereinbar sein. Basiert die unterschiedliche Behandlung auf Gründen der sexuellen Orientierung, sind ebenso schwerwiegende Rechtfertigungsgründe nötig.
Der GH prüft die Objektivität und sachliche Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung für jede Zeitperiode – also vor, zwischen und nach den Gesetzesänderungen – getrennt.
a. Vor Inkrafttreten des Sozialrechts-Änderungsgesetzes
Die Regierung hat keinerlei Rechtfertigungsgründe für die unterschiedliche Behandlung vorgebracht.
In Karner/A hat der GH festgestellt, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen den Staaten ein enger Ermessensspielraum zusteht, das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt, dass die gewählte Maßnahme nicht nur grundsätzlich geeignet ist, das verfolgte Ziel zu erreichen. Es muss vielmehr notwendig gewesen sein, eine Kategorie von Personen von der Anwendung einer Gesetzesbestimmung auszuschließen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Regierung hat keinerlei Argumente vorgebracht, die es erlauben würden, zu diesem Schluss zu gelangen.
In dieser Periode hat daher eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden (5:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richterin Vajic und Richter Malinverni).
b. Ab Inkrafttreten des Sozialrechts-Änderungsgesetzes bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung 2007
Der GH stellt fest, dass nach Inkrafttreten der ersten Gesetzesänderung sich die Situation zwar verbessert hat, sich der diskriminierende Charakter der Regelung jedoch nicht verändert hat. Im Gegensatz zu verschiedengeschlechtlichen konnten gleichgeschlechtliche Partner nur mitversichert werden, wenn sie gemeinsam Kinder aufzogen. Dies stellte nach wie vor eine substantielle unterschiedliche Behandlung dar, für die keine ausreichende Rechtfertigung vorlag. Es hat daher auch in dieser Zeitspanne eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
c. Nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung vom 1.7.2007
Die neue Fassung der einschlägigen Bestimmung verzichtet auf die Bezugnahme auf Partner des anderen Geschlechts und ist neutral formuliert.
Der GH ist nicht vom Argument der Bf. überzeugt, die Situation wäre weiterhin diskriminierend, weil die Ausweitung des Versicherungsschutzes durch neue Anforderungen erschwert worden sei, die insbesondere die Bf. nicht erfüllen. Art. 8 EMRK garantiert kein Recht auf Zugang zu besonderen Leistungen. Die Bedingung, gemeinsam Kinder aufzuziehen, ist neutral formuliert und die Bf. haben auch nicht vorgebracht, dass dies in Österreich für homosexuelle Paare unmöglich sei.
Der GH ist weiters nicht davon überzeugt, dass die Bf. dadurch diskriminiert würden, dass Personen, die vor der Gesetzesänderung mitversichert waren, dies aufgrund der Übergangsregelung unter gewissen Umständen weiterhin sind. Voraussetzung für das Fortbestehen der Mitversicherung ist, dass diese Personen ein gewisses Mindestalter erreicht haben und sich die relevanten Umstände nicht verändert haben. Eine solche Regelung ist, mit Hinblick auf die einschlägige Judikatur des GH zum Prinzip der Rechtssicherheit, mit Art. 14 EMRK vereinbar.
Die Bf. können daher nicht mehr behaupten, Opfer einer diskriminierenden Behandlung zu sein. In dieser Periode hat keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK stattgefunden (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK
Bezüglich der Behauptung der Bf., die Entscheidung des VwGH habe ihr Recht auf ungestörte Nutzung ihres Eigentums verletzt, stellt der GH fest, dass weder die Bf. noch die Regierung diesbezüglich Stellung genommen haben. Aufgrund der Feststellungen bezüglich Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK ist die Prüfung dieses Beschwerdepunktes nicht notwendig (einstimmig).
III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 5.000,– für materiellen Schaden und € 10.000,– für immateriellen Schaden. € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Marckx/B v. 13.6.1979, EuGRZ 1979, 454.
Mata Estevez/E v. 10.5.2001 (ZE).
S.L./A v. 9.1.2003, NL 2003, 16; ÖJZ 2003, 395.
Karner/A v. 24.7.2003, NL 2003, 214; ÖJZ 2004, 36.
Stec u.a./GB v. 12.4.2006 (GK), NL 2006, 90.
E.B./F v. 22.1.2008 (GK), NL 2008, 10; ÖJZ 2008, 499.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 22.7.2010, Bsw. 18984/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 240) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/P.B._J.S..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.
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