Bsw36376/04 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Kononov gegen Lettland, Urteil vom 17.5.2010, Bsw. 36376/04.
Spruch
Art. 7 EMRK - Rechtsgrundlage für Verurteilung wegen 1944 begangener Kriegsverbrechen.
Zurückweisung des Antrags des Bf., die von der Kammer für unzulässig erklärten Beschwerdepunkte zu prüfen (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 7 EMRK (14:3 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Im Zuge der Besetzung Lettlands 1941 durch die deutsche Wehrmacht floh der 1923 in Lettland geborene Bf. in die Sowjetunion. 1942 wurde er in die sowjetische Armee eingezogen und im Jahr darauf in ein von Deutschland besetztes Gebiet nahe der lettischen Grenze eingeschleust, wo er sich einer Gruppe »Roter Partisanen« anschloss, die Sabotageakte gegen die deutsche Wehrmacht vollziehen sollte.
Den Feststellungen der nationalen Gerichte zufolge ereignete sich dort am 27.5.1944 folgender Sachverhalt: Der Bf. und die ihm unterstellte Einheit betraten das Dorf Mazie Bati, von dessen Einwohnern sie annahmen, dass sie für die Deutschen spioniert und eine Gruppe Roter Partisanen unter der Leitung von Major Chugunov an den Feind ausgeliefert hatten, der die Gruppe danach tötete. Um keinen Verdacht zu erregen, marschierten sie mit Wehrmachtsuniformen bekleidet ein. Die Einwohner waren gerade dabei, Pfingsten zu feiern. Unter dem Kommando des Bf. stürmte die Einheit mehrere Häuser. Nachdem sie dort Gewehre und Granaten gefunden hatten – einige Männer des Dorfs waren von der deutschen Wehrmacht mit diesen Waffen ausgestattet worden – töteten sie sechs Männer und drei Frauen – eine davon hochschwanger – und setzten mehrere Häuser in Brand.
Der Bf. bestreitet diese Feststellungen. Bei den Dorfbewohnern habe es sich um Kollaborateure gehandelt und seine Einheit sei dazu angewiesen gewesen, diese vor Gericht zu bringen. Die Operation sei zudem nicht unter seiner Führung durchgeführt worden.
Nach Kriegsende blieb der Bf. in Lettland, wo er die höchste Auszeichnung der Sowjetunion für militärische Verdienste erhielt.
1991 erlangte Lettland die Unabhängigkeit. 1998 wurde gegen den Bf. ein Strafverfahren wegen Begehung von Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 27.5.1944 eingeleitet. Das Regionalgericht Riga befand ihn für schuldig, Verbrechen entgegen Art. 68-3 des lettischen Strafgesetzbuchs von 1961 (Anm.: Diese am 6.4.1993 in das Strafgesetzbuch eingefügte Bestimmung bezeichnete als Kriegsverbrechen, »wie in den einschlägigen internationalen Übereinkommen definiert«, Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges durch Mord, Folter, Plünderung der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten, von Geiseln oder von Kriegsgefangenen, die Deportation solcher Personen oder ihre Heranziehung zu Zwangsarbeit sowie die ungerechtfertigte Zerstörung von Städten oder Anlagen.) begangen zu haben, und verurteilte ihn zu sechs Jahren Freiheitsstrafe.
Die Kammer für Strafsachen des Obersten Gerichtshofs hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zurück an die Staatsanwaltschaft.
Der Bf. wurde danach erneut unter Art. 68-3 Strafgesetzbuch 1961 angeklagt. Am 3.10.2003 sprach ihn das Regionalgericht Latgale von der Begehung von Kriegsverbrechen frei. Es hielt den Bf. zwar für schuldig, die drei Frauen getötet zu haben, doch war diese Straftat bereits verjährt.
Mit Urteil vom 20.4.2004 hob die Strafkammer des Obersten Gerichtshofs auch dieses Urteil auf. Es erkannte den Bf. der Begehung von Akten entgegen Art. 68-3 Strafgesetzbuch 1961 für schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Durch die Tötung von neun Zivilisten in Mazie Bati, die nicht an den Kampfhandlungen beteiligt waren, hätten der Bf. und die ihm unterstellte Einheit eine Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges begangen, wie sie in der Haager Landkriegsordnung von 1907, in der Genfer Konvention vom 12.8.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und im Zusatzprotokoll vom 8.7.1977 festgelegt wären. Ein vom Bf. gegen dieses Urteil eingebrachtes Rechtsmittel wurde abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK
Der Bf. beschwert sich darüber, Opfer einer rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen geworden zu sein, da die Taten, wegen derer er verurteilt wurde, im Zeitpunkt ihrer Begehung keine strafbaren Handlungen dargestellt hätten.
1. Zum Ersuchen des Bf., für unzulässig erklärte Punkte noch einmal zu untersuchen
Der Bf. ersucht die Große Kammer, die von der Kammer mit Entscheidung vom 20.9.2007 für unzulässig erklärten Beschwerden unter Art. 3, 5, 6, 13 und 15 EMRK erneut zu untersuchen. Wie jedoch festzustellen ist, war die Entscheidung der Kammer endgültig, weshalb diese Beschwerdepunkte nicht Gegenstand des Verfahrens vor der Großen Kammer sind. Diese wird den Fall daher nur unter Art. 7 EMRK prüfen (einstimmig).
2. Allgemeine Grundsätze
Den Prinzipien des Art. 7 EMRK zufolge müssen Straftatbestände sowie die zu verhängende Strafe durch Gesetz festgelegt und muss die strafbare Handlung gesetzlich klar definiert sein, damit der Einzelne aus dem Wortlaut der Norm – nötigenfalls auch mit Hilfe gerichtlicher Auslegung – ableiten kann, durch welche Handlungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet wird. Der Begriff »Gesetz« umfasst dabei geschriebenes sowie ungeschriebenes Recht und hängt von qualitativen Merkmalen, vor allem von der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit, ab. Unter Art. 7 Abs. 1 EMRK hat der GH daher zu untersuchen, ob erstens eine ausreichend klare Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Bf. bestand und diese zweitens ausreichend vorhersehbar und zugänglich war.
3. Relevante Fakten des Falls
Die Große Kammer hat keinen Grund, die Sachverhaltsfeststellungen der nationalen Gerichte zu bezweifeln. Folgende Elemente sind herauszustreichen: Zu dem Zeitpunkt, als der Bf. und seine Einheit in Mazie Bati einmarschierten, waren die Dorfbewohner an keinen Kampfhandlungen beteiligt. Es wurden zwar Waffen in den Häusern gefunden, die Bewohner selbst trugen jedoch keine bei sich. Vier der Betroffenen, darunter die schwangere Frau, starben in den Flammen der angezündeten Häuser. Keiner der Dorfbewohner hatte Widerstand geleistet. Dass die Getöteten Major Chugunovs Einheit an die Wehrmacht ausgeliefert hatten, konnte nicht bewiesen werden.
Umstritten ist die Frage, in welchem Ausmaß die getöteten Dorfbewohner an den Feindseligkeiten teilgenommen hatten und welcher rechtliche Status bzw. Schutz ihnen folglich zukommt. Den nationalen Gerichten zufolge waren sie Zivilisten, die Kammer hielt die getöteten Männer für Kollaborateure und der Bf. selbst geht vom Kombattantenstatus der Dorfbewohner aus. Wegen dieser Unklarheiten wird die Große Kammer ihre Untersuchung auf Grundlage der für den Bf. vorteilhaftesten Hypothese beginnen: Entweder fallen die getöteten Dorfbewohner in die Kategorie von »Zivilisten, die an den Feindseligkeiten teilnahmen«, indem sie Informationen an die deutsche Wehrmacht weitergaben, oder sie sind aufgrund ihrer Hilfsdienste als »Kombattanten« einzustufen.
4. Bestand 1944 eine ausreichende Rechtsgrundlage für die dem Bf. angelasteten Verbrechen?
Die Verurteilung des Bf. war auf Art. 68-3 Strafgesetzbuch 1961 gestützt, der am 6.4.1993 in das Gesetz eingefügt wurde. Obwohl diese Norm Beispiele für Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges nennt, verweist sie für eine genaue Definition von Kriegsverbrechen auf »einschlägige internationale Übereinkommen«. Die Verurteilung basierte daher viel mehr auf internationalem als auf nationalem Recht und muss in erster Linie aus dieser Perspektive betrachtet werden. Der GH muss nun prüfen, ob unter Beachtung des 1944 geltenden Völkerrechts eine ausreichend klare Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Bf. bestand.
a. Zur Bedeutung des rechtlichen Status des Bf. und der Dorfbewohner
Die Parteien sowie die Kammer waren sich einig, dass dem Bf. Kombattantenstatus zugebilligt werden könne. Der Bf. könnte diesen Status zwar aufgrund des Tragens einer Wehrmachtsuniform – das Tragen der Uniform des Feindes stellt ebenfalls ein Verbrechen dar – verloren haben. Da er diesbezüglich aber nicht angeklagt wurde, geht der GH weiter von seinem Kombattantenstatus aus. Der ersten vom GH aufgestellten Hypothese zufolge ist dies auch für die getöteten Dorfbewohner anzunehmen. Nach dem 1944 geltenden Kriegsrecht hatten gefangene und sich ergebende Kombattanten sowie jene hors de combat das Recht auf Kriegsgefangenenstatus und als solche ein Recht auf menschenwürdige Behandlung.
Was den Schutz betrifft, der Zivilisten zukommt, die an den Feindseligkeiten teilnehmen – die zweite Hypothese des GH in Bezug auf die Dorfbewohner – so bestand 1944 die gewohnheitsrechtliche Regelung, dass diese nur angegriffen werden durften, solange sie direkt an den Kampfhandlungen beteiligt waren. An den Kampfhandlungen beteiligte Zivilisten, die eine Verletzung des ius in bello begingen, konnten festgenommen und vor Gericht gebracht werden, ihre summarische Hinrichtung wäre aber ein Verstoß gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges.
b. Bestand 1944 eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen?
In der Haager Landkriegsordnung von 1907 waren Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges detailliert aufgelistet und durch die Martens'sche Klausel bestand auch ein Schutz für Personen, die nicht ausdrücklich von den Bestimmungen der Landkriegsordnung erfasst waren. Das Genfer Recht, insbesondere die Konventionen von 1864, 1906 und 1929, schützte Kriegsopfer, verwundete Angehörige der Streitkräfte sowie Personen, die nicht an den Feindseligkeiten teilnahmen. Die Charta des Nürnberger Militärtribunals enthielt eine nicht erschöpfende Definition von Kriegsverbrechen, für die eine individuelle Verantwortlichkeit begründet werden konnte. Der Rechtsprechung des Tribunals zufolge waren die Regelungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 von allen zivilisierten Nationen anerkannt und begründete ihre Verletzung individuelle Strafbarkeit, weshalb es sich bei der Charta nicht um Rechtsetzung ex post facto handelte.
Während der dargestellten Kodifikationsperiode waren es vorwiegend innerstaatliche Militärtribunale, die den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges zur Durchsetzung verhalfen. Die durch Abkommen und Verträge begründete internationale Verantwortlichkeit eines Staates schloss die gewohnheitsrechtliche Verpflichtung von Staaten nicht aus, Einzelpersonen im Rahmen ihrer eigenen Gerichtsbarkeit zu verfolgen und zu bestrafen. Als Grundlage dafür zog man sowohl nationales als auch internationales Recht heran, letzteres insbesondere dann, wenn das innerstaatliche Recht die Charakteristika von Kriegsverbrechen nicht selbst festlegte. Ein solches Vorgehen der Gerichte stand dem Prinzip nulla poena sine lege nicht entgegen. Praktisch betrachtet wurden Kriegsverbrecher vor dem Ersten Weltkrieg zwar nur in wenigen Fällen vom eigenen Staat verfolgt. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Prinzip der parallelen innerstaatlichen Strafverfolgung jedoch beibehalten und nationale Verfahren geführt.
Was die individuelle Verantwortlichkeit eines Befehlshabers betrifft, so versteht der GH darunter weniger dessen indirekte Verantwortlichkeit für die Taten anderer, sondern vielmehr die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Vorgesetzten dafür, seine Verpflichtung zur Ausübung von Kontrolle vernachlässigt zu haben. Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für Handlungen Untergebener wurde schon vor dem Zweiten Weltkrieg in bestimmten Verfahren angenommen, seither als ein Prinzip des Völkergewohnheitsrechts bestätigt und ist Standardbestimmung in diversen Statuten internationaler Tribunale.
Aufgrund des Gesagten geht der GH davon aus, dass im Mai 1944 Kriegsverbrechen als Akte definiert wurden, die den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges zuwiderliefen. Die diesen Verbrechen zugrundeliegenden Prinzipien sowie eine Reihe diese begründender Akte waren völkerrechtlich festgelegt.
c. Zu den spezifischen Kriegsverbrechen, derentwegen der Bf. verurteilt wurde
Der GH wird nun untersuchen, ob eine ausreichend klare und zeitgemäße Rechtsgrundlage für die spezifischen Kriegsverbrechen bestand, derentwegen der Bf. verurteilt wurde. Dazu erinnert er zunächst an zwei sehr bedeutende Prinzipien des humanitären Völkerrechts: an das Prinzip der Unterscheidung zum Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte sowie an die Pflicht, Kombattanten unnötige Leiden zu ersparen.
Bei der Verurteilung des Bf. wegen Misshandlung und Tötung der Dorfbewohner stützten sich die nationalen Gerichte vor allem auf die Bestimmungen der IV. Genfer Konvention von 1949 zum Schutz der Zivilbevölkerung. Nach dem 1944 geltenden ius in bello, insbesondere nach Art. 23 lit. c der Haager Landkriegsordnung von 1907, waren die Umstände der Tötung – auch wenn die Dorfbewohner Kombattanten oder an den Feindseligkeiten teilnehmende Zivilisten waren – als Kriegsverbrechen einzuschätzen, da sie eine fundamentale Regel der Gesetze und Gebräuche des Krieges zum Schutz des Feindes hors de combat verletzten. Ein solcher Schutz kommt verletzten, behinderten oder aus anderen Gründen nicht zur eigenen Verteidigung fähigen Personen unabhängig von ihrem rechtlichen Status zu. Als Kombattanten hätten die Dorfbewohner zudem Anspruch auf Kriegsgefangenenstatus gehabt, weshalb ihre Misshandlung und summarische Hinrichtung auch gegen die diesbezüglichen Normen verstoßen hätte. Ihre Tötung und Misshandlung stellte demnach ein Kriegsverbrechen dar.
Die nationalen Gerichte zogen des weiteren Art. 23 lit. b der Haager Landkriegsordnung von 1907 heran, um den Bf. wegen meuchlerischer Tötung oder Verwundung zu verurteilen. Als meuchlerisch galt zur relevanten Zeit, den Feind etwa durch das Tragen der Feindesuniform glauben zu lassen, er wäre nicht in Gefahr. Wie den Sachverhaltsfeststellungen zu entnehmen ist, waren der Bf. und seine Einheit während der Operation in Mazie Bati tatsächlich mit Wehrmachtsuniformen bekleidet. Art. 23 lit. b ist jedenfalls anwendbar, wenn die Dorfbewohner Kombattantenstatus hatten, und kann auch greifen, wenn sie an den Feindseligkeiten beteiligte Zivilisten waren. Die Bestimmung spricht nämlich von meuchlerischer Tötung oder Verwundung von »Einzelpersonen, die Angehörige des feindlichen Volkes oder Heeres sind«. Dies konnte dahingehend ausgelegt werden, dass darunter jede Person fällt, die in irgendeiner Form der Kontrolle des gegnerischen Heeres untersteht – die Zivilbevölkerung eines besetzten Gebiets mit eingeschlossen.
Um die Tötung der schwangeren Frau als Kriegsverbrechen einzustufen, zogen die lettischen Gerichte Art. 16 der IV. Genfer Konvention von 1949 heran, der einen Schutz für werdende Mütter vorsieht. Der Schutz von Frauen und insbesondere Schwangeren war bereits nach dem Liber Code von 1863 Teil der Gesetze und Gebräuche des Krieges und wurde in der Folge durch das Genfer Recht weiterentwickelt. Der damit gewährte besondere Schutz zusammen mit der Martens'schen Klausel erscheint dem GH als plausible rechtliche Basis, um den Bf. wegen eines eigenständigen Kriegsverbrechens zu verurteilen.
Die Gerichte stützten sich weiters auf Art. 25 der Haager Landkriegsordnung von 1907, welcher Angriffe gegen unverteidigte Anlagen verbietet, sofern dies zu Kriegszwecken nicht unbedingt erforderlich ist. Dass das Niederbrennen der Häuser von Mazie Bati derart erforderlich gewesen wäre, wurde weder im nationalen Verfahren bewiesen noch vor dem GH argumentiert.
Hinzuzufügen ist schließlich, dass der Bf. und seine Einheit nach dem 1944 geltenden Völkerrecht auch dann, wenn anzunehmen war, die Dorfbewohner hätten Kriegsverbrechen begangen, diese lediglich festnehmen und erst im Anschluss an ein faires Verfahren eine Strafe vollziehen hätten dürfen. Hätte es auch ein Verfahren in Abwesenheit und ohne Wissen der Dorfbewohner gegeben, auf das hin ihre Hinrichtung erfolgte, wäre der nötigen Fairness nicht entsprochen worden.
Die Strafkammer des Obersten Gerichtshofs hat festgestellt, dass der Bf. die Partisaneneinheit, die dazu entschlossen war, die Dorfbewohner zu töten und die Häuser zu zerstören, organisiert, befehligt und geführt hatte und dass dies ausreichte, um seine Verantwortlichkeit als Befehlshaber für die Akte der Einheit zu begründen. Der Strafkammer zufolge würden die festgestellten Tatsachen zeigen, dass der Bf. de facto und de iure Kontrolle über die Einheit ausgeübt hatte. In Anbetracht der Verantwortlichkeit des Bf. als Befehlshaber sieht der GH keinen Anlass zu klären, ob ihm auch persönlich die Begehung der Taten vom 27.5.1944 zugeschrieben hätte werden können.
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass – sogar unter der Annahme, die getöteten Dorfbewohner seien »Kombattanten« oder »Zivilisten, die an den Feindseligkeiten teilnahmen« gewesen – in Anbetracht des 1944 bestehenden Völkerrechts eine ausreichend klare Rechtsgrundlage für die Verurteilung und Bestrafung des Bf. wegen der Begehung von Kriegsverbrechen als Befehlshaber über die für den Angriff vom 27.5.1944 verantwortliche Einheit bestand. Als Zivilpersonen hätte den Dorfbewohnern sogar noch weitreichenderer Schutz gebührt.
5. Waren die Kriegsverbrechen bereits verjährt?
Der 1993 eingefügte Art. 6-1 des Strafgesetzbuchs von 1961 sieht vor, dass es für Kriegsverbrechen keine Verjährungsfristen gibt. Strittig ist, ob die Strafverfolgung des Bf. auf dieser Grundlage eine rückwirkende Ausdehnung der Verjährungsfristen und damit eine rückwirkende Anwendung des Strafgesetzes darstellte.
Wäre der Bf. 1944 wegen der Begehung von Kriegsverbrechen verfolgt worden, hätte das damals geltende Strafgesetzbuch die vorliegend relevanten Kriegsverbrechen nicht abgedeckt und die Gerichte hätten auf das Völkerrecht zurückgreifen müssen. Die damaligen Verjährungsfristen wären auf völkerrechtliche Kriegsverbrechen nicht anwendbar gewesen, weshalb auch hier 1944 ein Rückgriff auf internationale Normen nötig gewesen wäre. Das Völkerrecht enthielt zum relevanten Zeitpunkt jedoch keine diesbezüglichen Bestimmungen, ebenso wenig wie die Statuten der Militärtribunale von Nürnberg und Tokio, die Völkermordkonvention von 1948, die Genfer Konventionen von 1949 oder die Nürnberger Prinzipien. Zentrale Frage ist, ob zu irgendeinem der Verfolgung des Bf. vorangehenden Zeitpunkt Verfolgungsverjährung eingetreten ist. 1944 bestand keine zeitliche Beschränkung für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen. Eine solche wurde auch durch spätere völkerrechtliche Entwicklungen nicht auferlegt. Hinsichtlich der Verfolgung des Bf. ist deshalb auch keine Verjährung eingetreten.
6. Waren die Einstufung als Kriegsverbrechen und die Strafverfolgung vorhersehbar?
Der Bf. behauptet, er hätte nicht vorhersehen können, dass die umstrittenen Taten Kriegsverbrechen darstellen bzw. dass er später deswegen verfolgt werden würde.
Hinsichtlich der Frage, ob 1944 ausreichend zugänglich und vorhersehbar festgelegt war, dass die umstrittenen Handlungen als im Völkerrecht verankerte Kriegsverbrechen zu qualifizieren sind, verweist der GH auf seinen früheren Fall K.-H.W./D. Hier wurde die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit eines rangniedrigen Soldaten unter anderem durch das Erfordernis ausreichend definiert, fundamentalen internationalen Menschenrechtsinstrumenten zu entsprechen – dies, obwohl diese selbst keine individuelle Verantwortlichkeit begründeten. Der GH ging davon aus, dass nicht einmal ein rangniedriger Soldat völlig blind Anordnungen befolgen darf, die offenkundig nicht nur nationales Recht, sondern auch internationale Menschenrechtsnormen, insbesondere das Recht auf Leben, verletzen.
Es kann nicht entscheidend sein, dass das Strafgesetzbuch von 1926 keinen Verweis auf die internationalen Gesetze und Gebräuche des Krieges enthielt und letztere in der Sowjetunion oder in der Lettischen Sowjetrepublik nicht förmlich publiziert waren. Die internationalen Gesetze und Gebräuche des Krieges waren 1944 für sich gesehen ausreichend, um individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen. Außerdem stellten diese Normen detaillierte lex specialis-Bestimmungen dar, die das strafrechtliche Verhalten in Kriegszeiten regelten und in erster Linie an Streitkräfte und vor allem an Befehlshaber gerichtet waren. Aufgrund seiner Funktion als befehlshabender Offizier hätte man vom Bf. erwarten können, spezielle Sorge bei der Abwägung der Risiken der Operation in Mazie Bati zu tragen. In Anbetracht der offensichtlich rechtswidrigen Natur der Misshandlung und Tötung der neun Dorfbewohner hätte sogar die oberflächlichste Betrachtung der Situation erkennen lassen, dass die umstrittenen Handlungen zumindest das Risiko beinhalteten, gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges zu verstoßen und Kriegsverbrechen zu begründen, für die der Bf. als Befehlshaber individuell strafrechtlich verantwortlich gemacht werden konnte. Nach Ansicht des GH war für den Bf. 1944 daher vorhersehbar, dass die Akte als Kriegsverbrechen qualifiziert werden konnten.
Für einen Nachfolgerstaat ist es zudem legitim und vorhersehbar, strafrechtliche Verfahren gegen Personen einzuleiten, die unter einem früheren Regime Kriegsverbrechen begangen haben. Er kann nicht dafür kritisiert werden, die damals in Kraft stehenden Normen im Lichte der Rechtsstaatlichkeit und unter Berücksichtigung der Prinzipien der EMRK anzuwenden und auszulegen, vor allem dann, wenn das Recht auf Leben betroffen ist. Wie die aus den Gesetzen und Gebräuchen des Krieges ableitbare Verpflichtung zur Verfolgung schreibt auch Art. 2 EMRK den Staaten vor, geeignete Schritte zum Schutz des Lebens der ihrer Hoheitsgewalt unterworfenen Personen zu setzen und das Recht auf Leben durch effektive strafrechtliche Bestimmungen zu schützen. Es ist ausreichend, darauf hinzuweisen, dass die angesprochenen Prinzipien auch für einen Regimewechsel gelten, wie er in Lettland infolge der Unabhängigkeitserklärungen von 1990 und 1991 erfolgt ist. Die Verfolgung und Verurteilung des Bf. durch die Republik Lettland, die auf dem zum Zeitpunkt der Tatbegehung in Kraft stehenden Völkerrecht basierte, kann somit nicht als unvorhersehbar gewertet werden.
In Anbetracht des Gesagten stellten die Taten des Bf. im Zeitpunkt ihrer Begehung Straftaten dar, die ausreichend zugänglich und vorhersehbar durch die Gesetze und Gebräuche des Krieges definiert waren.
7. Ergebnis
In Anbetracht all seiner Erwägungen kommt der GH zu dem Schluss, dass die Verurteilung des Bf. wegen der Begehung von Kriegsverbrechen keine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK darstellte. Es ist daher auch nicht nötig, diese unter Art. 7 Abs. 2 EMRK zu untersuchen (14:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Costa, gefolgt von Richterin Kalaydjieva und Richter Poalelungi; gemeinsames, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richter Rozakis, Spielmann und Jebens sowie von Richterin Tulkens).
Anmerkung
Die III. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 24.7.2008 (NL 2008, 225) mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 7 EMRK festgestellt.
Vom GH zitierte Judikatur:
Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.
K.-H. W./D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 219.
Jorgic/D v. 12.7.2007, NL 2007, 184.
Korbely/H v. 19.9.2008 (GK), NL 2008, 262.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.5.2010, Bsw. 36376/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 151) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Kononov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.