JudikaturAUSL EGMR

Bsw20201/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. April 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Frodl gg. Österreich, Urteil vom 8.4.2010, Bsw. 20201/04.

Spruch

Art. 3 1. Prot. EMRK, § 22 NRWO - Entzug des Wahlrechts eines Strafgefangenen.

Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf., ein österreichischer Staatsbürger, wurde 1993 wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt und ist Insasse der Justizanstalt Garsten.

Am 18.10.2002 erhob er Einspruch gegen das Wählerverzeichnis bei der Gemeindewahlbehörde, da er zu Unrecht nicht in das Verzeichnis aufgenommen worden sei. Er berief sich unter anderem auf Art. 3 1. Prot. EMRK und brachte vor, dass § 22 der Nationalratswahlordnung (NRWO), der Personen, die wegen Vorsatzdelikten zu einer mehr als einjährigen Freitheitsstrafe verurteilt worden sind, vom Wahlrecht ausschließt, verfassungswidrig sei. Nachdem der Einspruch von der Gemeindewahlbehörde abgewiesen wurde, befand auch die Bezirkswahlbehörde, dass § 22 NRWO korrekt angewendet worden war und erklärte sich für unzuständig, über die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung zu befinden.

Der Bf. stellte in weiterer Folge einen Verfahrenshilfeantrag beim Verfassungsgerichtshof, um die Entscheidung der Bezirkswahlbehörde bekämpfen zu können. Dieser wurde am 3.12.2003 abgewiesen, da die angestrebte Beschwerde insofern keine Aussicht auf Erfolg hätte, als der VfGH erst kurz zuvor über die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Bestimmung erkannt hatte. (Anm.: VfGH 27.11.2003, B 669/02.)

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK (Recht auf freie Wahlen).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK

Der Bf. rügt, in seinem Recht auf freie Wahlen verletzt zu sein, indem ihm das Wahlrecht entzogen wurde.

1. Allgemeine Grundsätze

Der GH betont den hohen Stellenwert des in Art. 3 1. Prot. EMRK enthaltenen Prinzips einer effektiven Demokratie und des Prinzips freier Wahlen als deren Grundlage. Trotzdem steht den Staaten in diesem Bereich ein weiter Ermessensspielraum zu, da Wahlen auf unterschiedliche Weise organisiert und abgehalten werden können und Unterschieden bezüglich der historischen Entwicklung, der Kultur und dem politischen Denken in den Staaten Rechnung getragen werden muss. Da jedoch ein Risiko besteht, die demokratische Legitimierung der Gesetzgebung auszuhöhlen, müssen Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts mit den Art. 3 1. Prot. EMRK zugrunde liegenden Zwecken vereinbar sein.

Ein Häftling verwirkt seine Konventionsrechte nicht schon bloß wegen seines Status als Person, die nach einer Verurteilung angehalten wird. Auch gibt es im System der EMRK, wo Toleranz ein anerkanntes Merkmal demokratischer Gesellschaften ist, keinen Raum für einen automatischen Entzug des Wahlrechts, der nur auf dem beruht, was der öffentlichen Meinung entgegenstehen könnte. Dieser Toleranzmaßstab hindert demokratische Gesellschaften nicht daran, sich gegen Aktivitäten zur Wehr zu setzen, die auf die Zerstörung der durch die Konvention geschützten Rechte und Freiheiten gerichtet sind.

Die schwerwiegende Maßnahme des Entzugs des Wahlrechts darf jedoch nicht leichtfertig ergriffen werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt einen erkennbaren und ausreichenden Zusammenhang zwischen der Sanktion und dem Verhalten und den persönlichen Umständen der betroffenen Person.

2. Anwendung im vorliegenden Fall

Der GH stellt Gemeinsamkeiten mit dem Fall Hirst/GB fest. Hier ging der GH zwar von einem weiten Ermessensspielraum der Staaten bei der rechtlichen Ausgestaltung des Ausschlusses vom Wahlrecht infolge strafrechtlicher Verurteilung aus, er legte jedoch einige Kriterien fest, die von den Staaten hierbei zu beachten sind. So muss die vom Ausschluss betroffene Gruppe von Straftätern eng definiert sein und insbesondere eine längere Haftstrafe zu verbüßen haben. Die Sanktion des Entzugs des Wahlrechts sollte in einem direkten Zusammenhang mit dem Sachverhalt stehen, auf den sich die Verurteilung gründet und sie sollte durch richterliche Verfügung verhängt werden, der ein gerichtliches Verfahren vorausgeht.

Bezüglich der Verfolgung eines legitimen Ziels ging aus der Argumentation der Regierung hervor, dass der Ausschluss vom Wahlrecht der Prävention von Straftaten durch Bestrafung des Verhaltens verurteilter Straftäter dienen sowie das Verantwortungsgefühl der Bürger und den Respekt vor dem Rechtsstaat fördern soll. Diese Ziele sind per se nicht unvereinbar mit Art. 3 1. Prot. EMRK, da eine Einschränkung dieser Konventionsbestimmung nicht nur zu bestimmten, sondern zur Verfolgung einer Vielzahl von Zwecken möglich ist.

Die Regierung brachte vor, die österreichische Regelung sei insofern verhältnismäßig, als sie enger definiert sei als die britische im Fall Hirst einschlägige Ausgestaltung, die den Entzug des Wahlrechts generell und automatisch für alle verurteilten Straftäter vorsah. Außerdem ermögliche § 44 Abs. 2 StGB dem Strafrichter ein weites Ermessen bei der Entscheidung, ob diese Sanktion verhängt werden soll oder nicht.

Bezüglich des letzteren Arguments führt der GH aus, dass § 44 StGB erst 1997 in Kraft trat und daher im vorliegenden Fall nicht anzuwenden war.

Der GH berücksichtigt zwar die engere Ausgestaltung von § 22 NRWO, stellt jedoch fest, dass die Regelung dennoch nicht alle im Fall Hirst festgelegten Kriterien erfüllt. Essentielles Element dieser Rechtsprechung ist, dass die Entscheidung über den Entzug des Wahlrechts von einem Richter getroffen wird, der die individuellen Umstände des Falles berücksichtigt, und dass die begangene Straftat mit Angelegenheiten in Bezug auf Wahlen oder demokratische Institutionen in Zusammenhang steht.

Sinn dieser Kriterien ist es, den Entzug des Wahlrechts als Ausnahme festzulegen, deren notwendige Anwendung in einer individuellen Entscheidung entsprechend zu begründen ist.

Da die österreichische Regelung keinen erkennbaren und ausreichenden Zusammenhang zwischen der Sanktion des Entzugs des Wahlrechts und dem Verhalten sowie den persönlichen Umständen der betroffenen Person herstellt, liegt eine Verletzung von Art. 3 1. Prot. EMRK vor (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Kovler).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Mathieu-Mohin und Clerfayt/B v. 2.3.1987.

Podkolzina/LV v. 9.4.2002, NL 2002, 64.

Aziz/CY v. 22.6.2004.

Hirst/GB (Nr. 2) v. 6.10.2005 (GK), NL 2005, 236.

Lykourezos/GR v. 15.6.2006, NL 2006, 142.

Yumak u. Sadak/TR v. 8.7.2008 (GK), NL 2008, 202.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 8.4.2010, Bsw. 20201/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 117) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_2/Frodl.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise