Bsw21924/05 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Sinan Isik gegen die Türkei, Urteil vom 2.2.2010, Bsw. 21924/05.
Spruch
Art. 9 EMRK - Verpflichtende Angabe der Religion in Identitätspapieren.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK (mehrstimmig).
Zurückweisung der Einrede der Regierung in Bezug auf die Opfereigenschaft des Bf. (6:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 und von Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen).
Keine gesonderte Prüfung von Art. 6 und Art. 14 EMRK (6:1 Stimmen).
Vorschlag der Streichung der für die Angabe der Religion vorgesehenen Rubrik in Ausweisen als adäquate Form der Wiedergutmachung iSv. Art. 46 EMRK.
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist bekennender Alevit. (Anm: Es handelt sich hierbei um eine Religionsgemeinschaft, die in der türkischen Geschichte und Gesellschaft tief verwurzelt ist. Manche alevitischen Gelehrte sehen den alevitischen Glauben als eigenständige Religion an, andere hingegen nicht.) Am 7.5.2004 wandte er sich mit dem Hinweis an das Bezirksgericht Izmir, auf seinem von den Personenstandsbehörden ausgestellten Ausweis befinde sich unter der Rubrik »Religion« der Vermerk »Islam«, obwohl er diesem Glauben nicht angehöre. Er beantrage die Eintragung »Alevit«.
Am 9.7.2004 gab ein vom Gericht beauftragter Experte der staatlichen Abteilung für Glaubensfragen eine Stellungnahme ab, wonach die Erwähnung religiöser Auslegungen bzw. von Subkulturen des Islam in der besagten Rubrik mit der nationalen Einheit, republikanischen Grundsätzen und dem Prinzip des Laizismus nicht vereinbar sei. Der Begriff »Alevit«, der für eine Interpretation des Islam mit spezifischen kulturellen Eigenheiten stehe, könne nicht als unabhängige Religion betrachtet werden.
Am 7.9.2004 wies das Bezirksgericht den Antrag des Bf. mit der Begründung zurück, aus der genannten Stellungnahme gehe klar hervor, dass das alevitische Bekenntnis auf einer Auslegung des Islam beruhe und keine eigenständige Religion sei. Besagte Rubrik beziehe sich jedoch ganz allgemein auf Religionen und nicht auf Untergruppierungen. Der Vermerk »Islam« im Ausweis des Bf. sei daher korrekt.
In der Folge erhob der Bf. Beschwerde beim Kassationsgericht, worin er unter anderem ausführte, die Verpflichtung zur Offenlegung seines Glaubens sei mit Art. 24 Abs. 3 der türkischen Verfassung unvereinbar, wonach niemand gezwungen werden dürfe, seinen Glauben und seine religiösen Überzeugungen bekannt zu geben. Die Beschwerde wurde am 21.12.2004 ohne Angabe von näheren Gründen abgewiesen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 9 EMRK (Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK
Laut dem Bf. verstößt die Tatsache, dass er zur Offenlegung seines Glaubens in seinem Ausweis gezwungen sei, gegen seine Religionsfreiheit.
1. Zur Zulässigkeit
a. Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe den Instanzenzug nicht ordnungsgemäß ausgeschöpft, da er sich damit begnügt habe, von den Gerichten die Ersetzung des Wortes »Islam« durch »Alevit« zu begehren. Er habe nie behauptet, dass die Erwähnung der Religion in seinem Ausweis gegen seine Religionsfreiheit verstoße.
Der GH hält fest, dass der Bf. in seinem beim Bezirksgericht Izmir eingebrachten Antrag seine Unzufriedenheit hinsichtlich der verpflichtenden Eintragung seines Glaubensbekenntnisses »Islam« unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und die Rechtmäßigkeit der strittigen Erwähnung unter Berufung auf die Religionsfreiheit bzw. auf laizistische Prinzipien in Frage gestellt hat. Die Bezugnahme auf die Religion in Ausweisen war zum Zeitpunkt der relevanten Ereignisse in der Türkei zwingend vorgeschrieben und vom türkischen Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 21.6.1995 als mit Art. 24 Abs. 3 der türkischen Verfassung vereinbar angesehen worden. Der GH hegt keine Zweifel, dass der Bf. mit seinem Antrag vom Schutz der in Art. 24 Abs. 3 der türkischen Verfassung verankerten Religionsfreiheit profitieren wollte und folglich bereits vor den nationalen Instanzen seine vor dem EGMR geltend gemachten Beschwerdegründe vorgebracht hat.
Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.
b. Frage der Opfereigenschaft
Die Regierung bringt vor, dem Bf. mangle es an der Opfereigenschaft. Die Zurückweisung des Antrags des Bf. habe den Wesensgehalt seiner Religionsfreiheit nicht beeinträchtigt, da die Erwähnung der Religion in seinem Ausweis weder als Zwangsmaßnahme für türkische Bürger, ihr Glaubensbekenntnis und ihre religiösen Überzeugungen zu offenbaren, noch als Einschränkung der Freiheit angesehen werden könne, seine Religion durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
Die Argumente der Regierung sind eng mit dem Vorbringen des Bf. unter Art. 9 EMRK verknüpft, sodass der GH sie im Rahmen der meritorischen Prüfung der Beschwerde behandeln wird (6:1 Stimmen).
c. Ergebnis
Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (mehrstimmig).
2. In der Sache selbst
Im vorliegenden Fall war der Bf. wie jeder andere Bürger gesetzlich dazu verpflichtet, einen Ausweis mit sich zu führen, auf dem seine Religion angegeben war. Das Dokument war auf Ersuchen von Behörden, eines privaten Unternehmens oder im Zuge von Formalitäten zwecks Identifikation seines Inhabers vorzuweisen.
In diesem Zusammenhang ist an das Urteil des EGMR im Fall Sofianopoulos u.a./GR zu erinnern, wonach ein Ausweis Anhängern welchen Bekenntnisses auch immer kein Recht auf Ausübung oder Bekundung ihrer Religion einzuräumen vermag. Der GH hat an anderer Stelle – im Fall Alexandridis/GR – festgehalten, dass die Religionsfreiheit auch einen negativen Aspekt beinhaltet, nämlich das Recht jedes Individuums, nicht zur Offenlegung seines Glaubens oder seiner Überzeugungen gezwungen und zu Handlungen angehalten zu werden, die Rückschlüsse auf ein Vorliegen oder Nichtvorliegen derartiger Überzeugungen gestatten könnten.
Der GH wird den vorliegenden Fall daher unter dem negativen Aspekt der Religionsfreiheit prüfen.
Angesichts des häufigen Gebrauchs von Ausweisen birgt die Erwähnung religiöser Überzeugungen in solchen offiziellen Dokumenten eine Gefahr der Schaffung diskriminierender Situationen bei Beziehungen mit der Verwaltung in sich. Es ist auch nicht zu erkennen, inwieweit es notwendig wäre, das Religionsbekenntnis im Personenstandsregister oder in Ausweisen anzuführen, würde doch damit unweigerlich die Auferlegung einer gesetzlichen Verpflichtung zur unfreiwilligen Angabe der religiösen Überzeugungen einhergehen.
Der GH hat etwa im Fall Serif/GR betont, dass in einer demokratischen Gesellschaft, wo der Staat letztlicher Garant des (religiösen) Pluralismus ist, die Rolle der Behörden nicht darin bestehen kann, Maßnahmen zu treffen, die einer Interpretation einer Religion gegenüber anderen den Vorzug geben. Die von den Gerichten vorgenommene Bewertung der Konfession des Bf., die auf der Basis einer Stellungnahme einer mit Fragen des muslimischen Glaubens befassten staatlichen Stelle beruhte, ist folglich mit der von den Staaten auf diesem Gebiet geforderten Neutralität unvereinbar.
Die Regierung weist darauf hin, dass der Bf. mit der Änderung des Personenstandsrechts durch das Gesetz Nr. 5490/2006 (in Kraft getreten am 29.4.2006) nunmehr beantragen kann, dass die das Religionsbekenntnis betreffende Rubrik in Ausweisen leer bleiben kann.
Dem ist zu entgegnen, dass die Personenstandsregister laut Art. 7 leg. cit. nach wie vor einen Eintrag über die Religion der betreffenden Person enthalten müssen. Andererseits sieht Art. 35 Abs. 2 leg. cit. vor, dass Informationen betreffend die Religion einer Person mit ihrer schriftlichen Erklärung eingetragen oder modifiziert werden können; das hierfür vorgesehene Kästchen kann freigelassen oder ein bereits bestehender Vermerk gelöscht werden.
Für den GH haben die zuvor angestellten Überlegungen ungeachtet der neuen Gesetzeslage nichts an Gültigkeit verloren, existiert doch die strittige Rubrik – mag sie nun leer oder ausgefüllt sein – nach wie vor in Identitätspapieren. Abgesehen davon müssen Personen, die den Vermerk betreffend ihre Religionszugehörigkeit ändern oder eine diesbezügliche Eintragung verweigern wollen, eine schriftliche Erklärung abliefern. Mögen auch die Gesetzesvorlagen hinsichtlich des Inhalts einer solchen Erklärung schweigen, kann bereits die bloße Tatsache, dass die Streichung der Religion im Personenstandsregister beantragt werden muss, zu einer Verbreitung von Informationen führen, die Aspekte der Haltung einer Person zu ihrem Glauben betreffen.
Dies hat auch für den Bf. zu gelten. Er muss bei den Behörden sein Religionsbekenntnis angeben, das dann in seinen Ausweis eingetragen wird. Mit besagtem – im täglichen Leben laufend verwendeten – Dokument wird ihm praktisch bei jedem Gebrauch eine unfreiwillige Preisgabe seiner religiösen Überzeugungen abverlangt.
Mit der Möglichkeit, in Ausweisen die Rubrik »Religion« freilassen zu können, ist unweigerlich eine bestimmte Konnotation verbunden. Die Inhaber von Identitätspapieren ohne Angabe der Religion unterscheiden sich nämlich unfreiwillig und kraft behördlichen Eingriffs von Personen, die einen Ausweis besitzen, in dem ihr Religionsbekenntnis eingetragen ist. Im Übrigen steht die Haltung, die darin besteht, dass keine Erwähnung der Religion stattzufinden hat, in engem Zusammenhang mit den tiefsten Überzeugungen eines Individuums. Infolgedessen ist die Verbreitung eines der intimsten Aspekte einer Person nach wie vor im Spiel.
Eine derartige Situation ist mit der Freiheit unvereinbar, seinen Glauben oder seine Überzeugungen nicht preisgeben zu müssen. Der Verstoß liegt nicht in der Weigerung, das Religionsbekenntniss »Alevit« in den Ausweis einzutragen, sondern vielmehr darin, dass dieser einen obligatorischen bzw. fakultativen Vermerk über die Religionszugehörigkeit enthält.
Der Bf. kann daher auch nach dem Inkrafttreten von Gesetz Nr. 5490/2006 behaupten, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen und eine Verletzung von Art. 9 EMRK festzustellen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Cabral Barreto).
II: Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 14 EMRK
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 EMRK, da das Bezirksgericht Izmir ausschließlich eine Stellungnahme der Abteilung für Glaubensfragen – einer öffentlichen Einrichtung – eingeholt hätte. Diese sei aber nicht auf diese Konfession spezialisiert. Wäre die Meinung des Verbands der türkischen Aleviten eingeholt worden, wäre die Beurteilung anders ausgefallen.
Der Bf. bringt vor, sein Antrag sei von den nationalen Instanzen zurückgewiesen worden, weil er dem alevitischen Glauben angehöre. Das Bezirksgericht habe sich damit begnügt, eine Stellungnahme von einer öffentlichen Institution einzuholen, die die Existenz der Aleviten leugne, ohne beim Verband der türkischen Aleviten um dessen Meinung angefragt zu haben. Dies sei eine diskriminierende Vorgangsweise iSv. Art. 14 EMRK.
Diese Beschwerdepunkte sind mit der zuvor geprüften Beschwerde eng verknüpft und folglich für zulässig zu erklären. Angesichts der festgestellten Verletzung von Art. 9 EMRK hält der GH jedoch eine gesonderte Prüfung dieser Beschwerdepunkte nicht für notwendig (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Cabral Barreto).
III. Zur Anwendung von Art. 41 und Art. 46 EMRK
Der Bf. hat keinen Antrag auf eine gerechte Entschädigung gestellt. Der GH hält es daher nicht für notwendig, ihm eine solche zuzusprechen.
Was Art. 46 EMRK angeht, könnte die Streichung der für die Angabe der Religion vorgesehenen Rubrik in Ausweisen eine adäquate Form der Wiedergutmachung darstellen, um die festgestellte Verletzung von Art. 9 EMRK zu beseitigen.
Vom GH zitierte Judikatur:
Buscarini u.a./RSM v. 18.2.1999 (GK)
= NL 1999, 51 = EuGRZ 1999, 213 = ÖJZ 1999, 852.
Serif/GR v. 14.12.1999
= NL 2000, 15.
Sofianopoulos u.a./GR v. 12.12.2002 (ZE).
Alexandridis/GR v. 21.2.2008.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 2.2.2010, Bsw. 21924/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 43) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_01/Isik.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.