Bsw21896/08 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Z. N. S. gegen die Türkei, Urteil vom 19.1.2010, Bsw. 21896/08.
Spruch
Art. 2, 3, 5 EMRK - Ausweisung einer Christin in den Iran.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 2 und 3 EMRK in Bezug auf das Abschiebungsverfahren (einstimmig).
Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Abschiebung (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).
Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK betreffend die behauptete Misshandlung und die medizinische Versorgung in Zusammenhang mit der Anhaltung der Bf. (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 3 EMRK betreffend die Bedingungen der Anhaltung der Bf. (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 3 EMRK in Hinblick auf die Haftbedingungen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 20.000,- für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die 1967 geborene Bf. ist Staatsbürgerin des Iran. Sie reiste im September 2002 mit Hilfe eines gefälschten Passes erstmals in die Türkei. Im Oktober des folgenden Jahres wandte sie sich an UNHCR und ersuchte um Anerkennung als Flüchtling. 2004 wurde sie von den türkischen Behörden festgenommen und in den Iran abgeschoben, wo sie nach ihren Angaben neun Monate lang festgehalten und misshandelt wurde. Nach ihrer Haftentlassung kehrte sie im Februar 2005 in die Türkei zurück. Hier erfuhr sie, dass UNHCR ihr Verfahren eingestellt hatte.
Im Juni 2006 wurde die Bf. an der Gebärmutter operiert. Im September 2007 ließ sie sich in einer protestantischen Kirche in Istanbul taufen. Ende 2007 beantragte sie bei UNHCR die Wiederaufnahme ihres Verfahrens.
Am 9.5.2008 wurde die Bf. wegen des Verdachts des Verstoßes gegen Visabestimmungen und der Fälschung amtlicher Urkunden festgenommen. Daraufhin beantragte sie Asyl, wobei sie angab, eine Gegnerin des iranischen Regimes zu sein und in die Türkei gekommen zu sein, um sich an UNHCR zu wenden. Sie wurde in der fremdenpolizeilichen Abteilung des Polizeihauptquartiers Istanbul in Schubhaft angehalten. Am 10.6.2008 wurde die Bf. auf Anordnung des stellvertretenden Leiters der Polizei von Istanbul in das Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Ausländer in Kirklareli überstellt. Sie sollte dort bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem EGMR angehalten werden. Ihr Verfahren vor den türkischen Behörden wurde solange ausgesetzt.
Am 29.12.2008 wurden die Bf. und ihr Sohn von UNHCR als Flüchtlinge aus religiösen Gründen anerkannt. Ein am 14.4.2009 von ihrem Vertreter erhobener Antrag auf Aufhebung der Entscheidung, mit der die fortgesetzte Anhaltung der Bf. angeordnet worden war, wurde vom Verwaltungsgericht Ankara abgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung blieb erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit).
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK hinsichtlich des Abschiebungsverfahrens
Die Bf. bringt vor, sie würde durch ihre Abschiebung in den Iran einer realen Gefahr der Tötung oder Misshandlung ausgesetzt. Der GH wird dieses Vorbringen ausschließlich unter Art. 3 EMRK prüfen.
1. Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, dass kein Ausweisungsbefehl gegen die Bf. ergangen sei. Außerdem hätte diese einen Asylantrag bei den zuständigen Behörden einbringen und dessen Abweisung bei den Verwaltungsgerichten anfechten können.
Wie aus den amtlichen Aufzeichnungen hervorgeht, wurde die Bf. im Polizeihauptquartier von Istanbul in Schubhaft genommen. Das Argument der Regierung, es sei keine Ausweisungsentscheidung ergangen, vermag daher nicht zu überzeugen. Was das behauptete Versäumnis betrifft, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe auszuschöpfen, stellt der GH fest, dass ein Antrag auf Aufhebung einer Ausweisungsentscheidung nach türkischem Recht keine automatische aufschiebende Wirkung hat. Die Bf. musste somit keinen derartigen Antrag bei den Verwaltungsgerichten einbringen, um die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erschöpfen. Daher sind die Einreden der Regierung zurückzuweisen.
Da dieser Teil der Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss er für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. In der Sache
Die Bf. gab zwei Wochen nach ihrer Festnahme gegenüber der Polizei an, dass sie nicht in den Iran zurück wolle und in die Türkei gekommen sei, um sich an UNHCR zu wenden. Dennoch planten die Behörden ihre Abschiebung, ohne ihre Stellungnahme zu prüfen. Des Weiteren wurde ihr Verfahren vor den türkischen Behörden bis zur Entscheidung des GH ausgesetzt. Der GH ist daher nicht der Ansicht, dass die Behörden eine ernsthafte Prüfung des Vorbringens der Bf. vornahmen. Es blieb UNCHR überlassen, die Bf. während ihrer Anhaltung in Kirklareli zum Hintergrund ihres Asylantrags zu befragen und die ihr aufgrund ihrer Religion drohende Gefahr einzuschätzen.
Der GH muss der Schlussfolgerung von UNHCR angemessenes Gewicht beimessen. UNHCR hatte Gelegenheit, im Zuge der Befragung der Bf. die Glaubwürdigkeit ihrer Befürchtungen und die Aufrichtigkeit ihrer Schilderung der Zustände in ihrem Heimatland zu überprüfen. UNHCR kam zu dem Ergebnis, dass ihr im Iran Verfolgung droht.
Angesichts der Einschätzung von UNHCR stellt der GH fest, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Bf. im Falle ihrer Rückkehr in den Iran aufgrund ihrer Religion die Gefahr einer Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK geschützten Rechte droht. Ihre Abschiebung in den Iran würde daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen (einstimmig).
II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK
Die Bf. bringt vor, unrechtmäßig in Haft gehalten worden zu sein und keine Möglichkeit gehabt zu haben, die Rechtmäßigkeit der Haft überprüfen zu lassen.
1. Zulässigkeit
Dieser Teil der Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
2. In der Sache
a. Befolgung von Art. 5 Abs. 1 EMRK
Die Regierung behauptet, dass die Bf. nicht inhaftiert, sondern im Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Ausländer in Kirklareli untergebracht wäre. Der Grund für die Unterbringung der Bf. in diesem Zentrum, die nicht als Haft oder Anhaltung angesehen werden könne, liege in der Notwendigkeit der behördlichen Überwachung von Fremden während des Ausweisungsverfahrens.
Der GH stellte bereits im Fall Abdolkhani und Karimnia fest, dass die Unterbringung der Bf. im Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Ausländer in Kirklareli eine Freiheitsentziehung darstellte. Angesichts des Fehlens eindeutiger Bestimmungen, die das Verfahren zur Anordnung und Verlängerung der Schubhaft regelten oder diese zeitlich befristeten, erklärte er die Haft für unrechtmäßig iSv. Art. 5 Abs. 1 EMRK.
Es gibt im vorliegenden Fall keine besonderen Umstände, die ein Abweichen von den Feststellungen im Urteil Abdolkhani und Karimnia verlangen würden. Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK fest (einstimmig).
b. Befolgung von Art. 5 Abs. 4 EMRK
Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährt inhaftierten Personen ein Recht auf eine rasche gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung. Ein entsprechender Rechtsbehelf muss praktisch verfügbar sein.
Der Vertreter der Bf. beantragte am 14.4.2009 beim Verwaltungsgericht Ankara die Aufhebung der Entscheidung, mit der die Entlassung seiner Klientin abgelehnt worden war. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Auch die folgende Berufung wurde am 24.6.2009 abgewiesen. Die Prüfung durch die Verwaltungsgerichte dauerte somit zwei Monate und zehn Tage.
Die gerichtliche Überprüfung kann daher im vorliegenden Fall nicht als rasche Reaktion auf den Antrag der Bf. angesehen werden. Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass das türkische Rechtssystem der Bf. keinen Rechtsbehelf zur Verfügung stellte, mit dem sie eine rasche gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung erlangen hätte können. Es hat daher eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK stattgefunden (einstimmig).
III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK in Zusammenhang mit der Anhaltung der Bf.
Die Bf. beschwert sich über die Haftbedingungen im Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Ausländer in Kirklareli und behauptet, dass sie keine medizinische Versorgung erhalten hätte. Außerdem brachte sie vor, von einem Polizisten beleidigt und bedroht worden zu sein.
1. Zur behaupteten Misshandlung
Der GH stellt fest, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen den von der Bf. beschuldigten Polizisten eingeleitet wurden. Da diese noch anhängig sind, muss dieser Teil der Beschwerde wegen fehlender Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen werden (einstimmig).
2. Zur medizinischen Versorgung
Nachdem der Vertreter der Bf. die Behörden um eine ärztliche Untersuchung seiner Mandantin gebeten hatte, wurde im Juni und Juli 2008 eine Reihe von Untersuchungen hinsichtlich ihrer früheren Operation durchgeführt. Die Ärzte stellten dabei fest, dass die Bf. an keiner Krankheit litt. Da die Bf. somit Zugang zu angemessener medizinischer Hilfe hatte, ist dieser Teil der Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).
3. Zu den Haftbedingungen
a. Zulässigkeit
Die Regierung wendet ein, dass dieser Teil der Beschwerde wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen sei, weil sich die Bf. nicht an die innerstaatlichen Behörden gewandt hätte.
Der GH stellt fest, dass die Bf. mehrmals ihre Haftentlassung beantragt hat. Außerdem trat sie in Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Die Behörden waren zudem durch einen Bericht einer türkischen Menschenrechtsorganisation, in dem auch die Bf. zu Wort kam, über die Zustände im Anhaltezentrum Kirklareli informiert. Sie hatten daher die Möglichkeit, die Haftbedingungen zu überprüfen und, falls nötig, Wiedergutmachung zu leisten.
Überdies hat es die Regierung verabsäumt darzulegen, welche Rechtsbehelfe zur Verfügung gestanden wären. Daher steht nicht mit ausreichender Klarheit fest, dass innerstaatliche Rechtsbehelfe existierten, die geeignet gewesen wären, der Bf. in Hinblick auf ihre Beschwerde über die Haftbedingungen Wiedergutmachung zu leisten. Die Einrede der Regierung wird daher zurückgewiesen.
b. In der Sache
Soweit sich die Bf. über die Qualität der Mahlzeiten und des Trinkwassers beschwert, hat sie es verabsäumt, dies mit entsprechenden Beweisen oder Argumenten zu untermauern.
Zu ihrer Behauptung, sie hätte nicht mehr als vier Stunden täglich im Freien verbringen dürfen, stellt der GH fest, dass dies kein Problem unter Art. 3 EMRK aufwirft.
Anhand der von der Bf. vorgelegten Fotos stellt der GH fest, dass hinsichtlich der Hygiene zwei Mängel anzumerken sind: erstens der Zustand der Toiletten, die ersetzt werden sollten, und zweitens die Hygieneartikel, deren Haltbarkeitsdatum vor Jahren abgelaufen ist.
Nach Ansicht des GH wurde nicht nachgewiesen, dass die Haftbedingungen im Anhaltezentrum Kirklareli so hart wären, dass sie in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK fallen würden.
Hinsichtlich der Haftbedingungen im Aufnahme- und Unterbringungszentrum für Ausländer in Kirklareli hat daher keine Verletzung von Art. 3 EMRK stattgefunden (einstimmig).
IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK
€ 20.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Said/NL v. 5.7.2005
= NL 2005, 183.
NA./GB v. 17.7.2008
= NL 2008, 221.
S. D./GR v. 11.6.2009
= NL 2009, 162.
Abdolkhani und Karimnia/TR v. 22.9.2009
= NL 2009, 276.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.1.2010, Bsw. 21896/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 38) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/10_01/Z.N.S..pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.