JudikaturAUSL EGMR

Bsw34383/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. November 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Gochev gg. Bulgarien, Urteil vom 26.11.2009, Bsw. 34383/03.

Spruch

Art. 2 4. Prot. EMRK - Ausreiseverbot wegen anhängigem Exekutionsverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 1.500,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das Bezirksgericht Sofia erließ am 3.4.2001 auf Antrag der Firma V. aufgrund einer Wechselverbindlichkeit des Bf. einen Vollstreckungsbefehl gegen ihn. Am 2.10.2001 beantragte das betreibende Unternehmen bei der Exekutionsabteilung die Verhängung eines Ausreiseverbots über den Bf. Daraufhin ordnete der Leiter der für die Ausstellung von Identitätsdokumenten zuständigen Behörde auf Antrag der Exekutionsabteilung die Einziehung des Reisepasses des Bf. an und erteilte die Anweisung, auf unbestimmte Zeit keinen neuen Pass auszustellen. (Anm.: § 76 Abs. 3 des bulgarischen Gesetzes über Identitätsdokumente sieht die Verhängung eines Ausreiseverbots über natürliche Personen vor, die „mit gerichtlichen Mitteln festgestellte" Verbindlichkeiten in der Höhe von mehr als BGN 5.000,– (ca. € 2.660,–) haben.)

Der Bf. beantragte eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung. Seiner Ansicht nach wäre die Verhängung derartiger Maßnahmen nur dann rechtmäßig, wenn das Bestehen der Verbindlichkeit zuvor durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt worden sei. In seinem Fall wäre diese Voraussetzung nicht erfüllt, da seine Verbindlichkeit auf einem Wechsel beruhe. Der Antrag wurde am 11.2.2003 vom Obersten Verwaltungsgericht abgewiesen. Seiner ständigen Rechtsprechung folgend begründete das Gericht diese Entscheidung damit, dass ein Vollstreckungsbefehl eine ausreichende gerichtliche Anerkennung der Verbindlichkeit sei. Die dagegen erhobene Berufung wurde vom Rechtsmittelsenat des Obersten Verwaltungsgerichts am 21.7.2003 abgewiesen.

Am 25.10.1999 war vom Bezirksgericht Karlovo ein weiterer Vollstreckungsbefehl gegen den Bf. aufgrund einer Wechselverbindlichkeit erlassen worden. Auf Anregung der betreibenden Gläubigerin bzw. auf Antrag der Exekutionsabteilung ordnete der Leiter der für die Ausstellung von Identitätsdokumenten zuständigen Behörde am 27.5.2002 neuerlich die Einziehung des Reisepasses des Bf. an. Auch diese Entscheidung wurde vom Obersten Verwaltungsgericht bestätigt.

Auf Anregung der Exekutionsabteilung wurde die Einziehung des Reisepasses am 17.5.2008 widerrufen, nachdem das Exekutionsverfahren wegen Untätigkeit der betreibenden Gläubigerin eingestellt worden war. Seit diesem Zeitpunkt ist es dem Bf. wieder möglich, das Land zu verlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK (Recht auf Freizügigkeit).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, die einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts seien unrichtig angewendet worden, da seine Schulden nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung festgestellt worden wären.

1. Zur Zulässigkeit:

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist und auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Jede Maßnahme, die das Recht einschränkt, sich frei zu bewegen und jedes Land zu verlassen, muss rechtmäßig sein, eines der in Art. 2 Abs. 3 4. Prot. EMRK genannten Ziele verfolgen und einen gerechten Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse und den Rechten des Einzelnen treffen.

Es ist unbestritten, dass ein Eingriff in die durch Art. 2 4. Prot. EMRK gewährten Rechte des Bf. vorliegt.

Der Ausdruck „gesetzlich vorgesehen" verlangt nicht nur eine Grundlage für die umstrittene Maßnahme im innerstaatlichen Recht, sondern bezieht sich auch auf die Qualität des einschlägigen Rechts. Dieses muss für die betroffene Person zugänglich und in seinen Auswirkungen vorhersehbar sein. Dazu muss es mit ausreichender Bestimmtheit die Voraussetzungen für eine Maßnahme darlegen, damit die betroffenen Personen ihr Verhalten entsprechend anpassen können.

Soweit der Bf. behauptet, die Formulierung „mit gerichtlichen Mitteln festgestellt" in § 76 Abs. 3 des Gesetzes über die Ausstellung von Identitätsdokumenten sei nicht ausreichend bestimmt und vorhersehbar, verweist der GH auf die gefestigte Judikatur des Obersten Verwaltungsgerichts zu dieser Bestimmung. Die Mehrdeutigkeit der Formulierung lässt daher für sich alleine nicht den Schluss zu, dass der Eingriff unvorhersehbar gewesen wäre. Außerdem konnte das Bestehen der in einem Wechsel festgehaltenen Verbindlichkeit gerichtlich angefochten werden.

Die Verhängung der Maßnahme zielte darauf ab, die Interessen von Gläubigern zu schützen, und verfolgte damit grundsätzlich ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Rechte anderer.

Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit einer wegen unbezahlter Schulden verhängten Einschränkung erinnert der GH daran, dass sie nur solange gerechtfertigt ist, als sie deren Eintreibung fördert. Selbst wenn eine die Freizügigkeit einschränkende Maßnahme zunächst gerechtfertigt ist, kann sie unverhältnismäßig werden, wenn sie automatisch über einen langen Zeitraum verlängert wird.

Die innerstaatlichen Behörden dürfen Maßnahmen, die die Freizügigkeit einschränken, nicht über lange Zeitspannen erstrecken, ohne regelmäßig ihre Rechtfertigung zu überprüfen. Diese Prüfung sollte in der Regel durch die Gerichte vorgenommen werden, da diese die besten Garantien hinsichtlich Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Rechtmäßigkeit des Verfahrens bieten. Die Gerichte sollten alle Faktoren berücksichtigen können, einschließlich jener, die sich auf die Verhältnismäßigkeit der einschränkenden Maßnahme beziehen.

Im vorliegenden Fall blieb die am 21.12.2001 verhängte Maßnahme bis 17.5.2008 und damit mehr als sechs Jahre lang in Kraft.

Die Parteien haben keine detaillierten Informationen über den Fortgang der Exekutionsverfahren vorgelegt, die zur Rechtfertigung der Einschränkung der Freizügigkeit des Bf. herangezogen wurden. Es ist daher unmöglich zu beurteilen, ob die von den Gerichten und den Gläubigern zur Eintreibung der Verbindlichkeiten gesetzten Schritte ausreichend waren, zumal diese Umstände in den Entscheidungen und Urteilen der innerstaatlichen Behörden und Gerichte nicht erörtert wurden. Der GH kann daher nicht entscheiden, ob die Verhängung und Verlängerung dieser Einschränkung über einen beträchtlichen Zeitraum durch das Ziel der Sicherstellung einer Eintreibung der Außenstände objektiv gerechtfertigt war.

Die Umstände des Falls lassen vermuten, dass der Bf. von Anfang an einer Maßnahme automatischer Natur unterworfen wurde. Sie wurde vom Leiter der Passbehörde erlassen, ohne den Bf. zur Stellungnahme über seine persönliche Situation oder die Umstände rund um die Nichtzahlung seiner Schulden aufzufordern und ohne diese Fragen in der Entscheidung zu erörtern. Auch wenn die Effektivität einer präventiven Maßnahme regelmäßig von ihrer raschen Umsetzung abhängt, befreit dies die Behörden nicht von der Verpflichtung, die relevanten Informationen einzuholen, nachdem die Maßnahme verhängt wurde. Die Behörde hat somit nicht alle relevanten Informationen berücksichtigt, um sicherzustellen, dass die Maßnahme unter den Umständen des Falls gerechtfertigt und verhältnismäßig war.

Soweit sich das Oberste Verwaltungsgericht für unzuständig erklärte, die Angemessenheit derartiger Maßnahmen zu überprüfen, entsprach der Umfang der gerichtlichen Überprüfung nicht den Anforderungen des Art. 2 4. Prot. EMRK. Der GH stellt weiters fest, dass keine Überprüfung der umstrittenen Maßnahmen mehr erfolgte, nachdem sie vom Obersten Verwaltungsgericht bestätigt worden waren.

Der Bf. wurde somit Maßnahmen automatischer Natur, ohne Beschränkung ihrer Reichweite oder ihrer Dauer, unterworfen. Da die Behörden damit ihre Pflicht verletzt haben sicherzustellen, dass jeder Eingriff in das Recht, das eigene Land zu verlassen, unter den Umständen des Einzelfalls gerechtfertigt und verhältnismäßig ist, liegt eine Verletzung von Art. 2 4. Prot. EMRK vor (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 1.500,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Rotaru/RO v. 4.5.2000 (GK), NL 2000, 96; ÖJZ 2001, 74.

Luordo/I v. 17.7.2003.

Napijalo/HR v. 13.11.2003.

Riener/BG v. 23.5.2006, NL 2006, 123.

Földes und Földesné Hajlik/H v. 31.10.2006.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.11.2009, Bsw. 34383/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 337) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_6/Gochev.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise