Bsw30814/06 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Lautsi gg. Italien, Urteil vom 3.11.2009, Bsw. 30814/06.
Spruch
Art. 9 EMRK, Art. 2 1. Prot. EMRK - Kreuz in Klassenzimmern verstößt gegen die Konvention.
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK und von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine Notwendigkeit der Prüfung der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
2001 bis 2002 besuchten die beiden damals elf bzw. dreizehn Jahre alten Kinder der Bf. die öffentliche Schule „Istituto comprensivo statale Vittorino da Feltre" in Abano Terme. In jedem Klassenzimmer dieser Schule hing ein Kreuz an der Wand, was nach Ansicht der Bf. dem Prinzip des Laizismus entgegenstand, dem entsprechend sie ihre Kinder erziehen wollte. Dies brachte sie auch im Rahmen einer von der Schule im April 2002 organisierten Versammlung zur Sprache und wies dabei auf ein Urteil des Corte di cassazione vom 1.3.2000 hin, in dem festgestellt worden war, dass die Präsenz eines Kreuzes in Wahllokalen gegen das Prinzip des Laizismus verstoße.
Am 27.5.2002 entschied die Direktion der Schule, die Kreuze in den Klassenzimmern zu belassen. Die Bf. focht diese Entscheidung beim Verwaltungsgericht der Region Venetien wegen Verstoßes gegen die Prinzipien des Laizismus und der Unparteilichkeit der staatlichen Verwaltung an. Der Minister für öffentliche Bildung, der in der Folge eine Weisung erteilte, mit der er den Schuldirektoren empfahl, Kreuze in den Klassenzimmern anzubringen, schloss sich dem Verfahren an und verwies auf die Wurzeln der strittigen Situation, nämlich zwei königliche Dekrete aus den Jahren 1924 und 1928.
Am 14.1.2004 kam das Verwaltungsgericht einem Antrag der Bf. nach, die Angelegenheit zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dem Verfassungsgericht vorzulegen. Die Regierung brachte in diesem Verfahren vor, die Präsenz eines Kruzifixes in den Klassenzimmern sei natürlich, da es sich dabei nicht nur um ein religiöses Symbol, sondern auch um die „Flagge der katholischen Kirche" handle, die als einzige Kirche in der Verfassung genannt sei. Das Kreuz stelle deshalb ein Symbol des italienischen Staates dar.
Mit einer Anordnung vom 15.12.2004 erklärte sich das Verfassungsgericht für unzuständig, da es sich bei den strittigen Bestimmungen nicht um gesetzliche Normen handle. Daraufhin wurde das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht wieder aufgenommen. Mit Urteil vom 17.3.2005 wies dieses den Rekurs der Bf. ab. Begründend führte es aus, das Kreuz sei ein Symbol der italienischen Geschichte und Kultur und damit der italienischen Identität und das Symbol für Gleichheit, Freiheit und Toleranz sowie für die Laizität des Staates.
Ein von der Bf. angestrengter Rekurs an den Consiglio di stato wurde am 13.2.2006 abgewiesen. Das Kreuz sei zu einem der laizistischen Werte der italienischen Verfassung geworden und repräsentiere die Werte des bürgerlichen Lebens.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung), Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK und von Art. 9 EMRK:
In ihrem eigenen Namen und im Namen ihrer Kinder behauptet die Bf., die Anbringung des Kreuzes in der von diesen besuchten öffentlichen Schule würde einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht bedeuten, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Außerdem würde dies ihre Gedanken- und Religionsfreiheit verletzen.
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Einen Staat trifft nach Ansicht des GH die Pflicht, davon abzusehen, einen Glauben – auch nur indirekt – an Orten aufzuzwingen, an denen Personen von ihm abhängig oder an denen sie besonders verletzlich sind. Der Schulbesuch von Kindern stellt einen besonders sensiblen Sektor dar, da Kinder noch nicht über einen derart kritischen Geist verfügen, um sich von den religiösen Präferenzen des Staates zu distanzieren.
Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob der belangte Staat, indem er die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern vorschrieb, bei der Ausübung seiner Funktionen im Bereich von Bildung und Unterricht dafür Sorge getragen hat, Wissen auf objektive, kritische und pluralistische Weise zu vermitteln und die religiösen und philosophischen Überzeugungen der Eltern im Sinne von Art. 2 1. Prot. EMRK zu respektieren. Der GH hat dabei die Natur des religiösen Symbols und dessen Auswirkungen auf junge Schüler, insbesondere auf die Kinder der Bf., zu berücksichtigen. In einem Staat, in dem der Großteil der Bevölkerung einer bestimmten Religion angehört, kann die Manifestation von deren Riten und Symbolen Druck auf jene Schüler erzeugen, die diese Religion nicht ausüben oder einer anderen angehören.
Die Regierung rechtfertigt das Anbringen des Kreuzes, indem sie sich auf die positive moralische Botschaft des christlichen Glaubens, der die laizistischen Werte der Verfassung widerspiegle, auf die Rolle der Religion in der italienischen Geschichte sowie auf deren Verwurzelung in der Tradition des Landes beruft. Das Kreuz sei zwar ein religiöses Symbol, könne aber auch andere Werte verkörpern.
Nach Ansicht des GH kommt dem Symbol des Kreuzes eine Vielzahl an Bedeutungen zu, unter denen die religiöse vorherrschend ist. Die Präsenz des Kreuzes in Klassenzimmern geht über die Verwendung von Symbolen in einem spezifisch historischen Kontext hinaus. In einem früheren Fall hat der GH bereits befunden, dass der traditionelle Charakter eines Textes zur Vereidigung von Parlamentariern dem Eid nicht seine religiöse Natur entzieht.
Die Bf. gibt an, das Symbol würde ihre Überzeugungen und das Recht ihrer Kinder, sich nicht zur katholischen Religion zu bekennen, verletzen. In der Darstellung des Kreuzes sieht sie ein Zeichen dafür, dass sich der Staat auf die Seite der katholischen Religion stellt. Die katholische Kirche misst dem Kreuz eine fundamentale Botschaft bei. Die Befürchtungen der Bf. sind daher nicht willkürlich.
Durch die Art und Weise, auf die das Kreuz im Klassenzimmer angebracht ist, ist es unmöglich, dieses nicht zu bemerken. Im Rahmen des öffentlichen Unterrichts wird es notwendigerweise als integraler Bestandteil des schulischen Umfelds wahrgenommen und kann daher als ein „starkes äußerliches Zeichen" angesehen werden.
Die Präsenz des Kreuzes kann von Schülern jeden Alters leicht als ein religiöses Zeichen interpretiert werden und diese könnten den Eindruck erhalten, in einem von einer vorgegebenen Religion geprägten schulischen Rahmen unterrichtet zu werden. Was für manche religiöse Schüler ermutigend wirken kann, mag für Schüler anderer Religionen, insbesondere religiöser Minderheiten, oder für jene ohne Bekenntnis emotional störend sein. Die negative Freiheit, an keine Religion zu glauben, ist nicht auf das Fehlen von religiösen Diensten oder von Religionsunterricht beschränkt, sie erstreckt sich auch auf Praktiken und Symbole, die einen Glauben, eine Religion oder Atheismus ausdrücken. Sie verdient besonderen Schutz, wenn der Staat einen Glauben vertritt und der Betroffene sich in einer Situation befindet, aus der er nicht oder nur unter Aufwendung von unverhältnismäßigen Mühen und Opfern ausbrechen kann.
Der Staat ist an die konfessionelle Neutralität im Bereich des öffentlichen verpflichtenden Unterrichts gebunden, in dem ohne Rücksicht auf die Religion Anwesenheitspflicht herrscht und in dem Schülern kritisches Denken vermittelt werden soll.
Dem GH ist nicht klar, in welcher Weise die Anbringung eines Symbols, das vernünftigerweise mit dem Katholizismus – der in Italien vorherrschenden Religion – identifiziert wird, in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen dem erzieherischen Pluralismus dienen könnte, welcher für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der EMRK essentiell ist.
Das verpflichtende Anbringen des Symbols einer Konfession in spezifischen regierungsabhängigen Bereichen, insbesondere in Klassenzimmern, beschränkt das Recht der Eltern, ihre Kinder ihren Überzeugungen entsprechend zu erziehen, sowie das Recht der Schulkinder, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben. Diese Beschränkungen sind unvereinbar mit der dem Staat obliegenden Pflicht, bei der Ausübung öffentlicher Funktionen, vor allem im Bereich der Erziehung, Neutralität zu wahren. Es liegt folglich eine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 9 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK:
Die Bf. behauptet auch eine Verletzung des Diskriminierungsverbots. In Anbetracht der Umstände des Falls und weil der GH bereits eine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK iVm. Art. 9 EMRK festgestellt hat, ist es nicht nötig, die Beschwerde unter Art. 14 EMRK zu untersuchen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 5.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Karaduman/TR v. 3.5.1993 (ZE).
Buscarini u.a./RSM v. 18.2.1999 (GK), NL 1999, 51; EuGRZ 1999, 213; ÖJZ 1999, 852.
Dahlab/CH v. 15.2.2001 (ZE).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.11.2009, Bsw. 30814/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 326) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_6/Lautsi.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.