Bsw16064/90 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Varnava u.a. gegen die Türkei, Urteil vom 18.9.2009, Bsw. 16064/90, Bsw. 16065/90, Bsw. 16.066/90 u.a.
Spruch
Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK, Art. 5 EMRK - Pflicht zur Klärung des Verbleibs seit 1974 vermisster Personen.
Zurückweisung der Einrede der Regierung betreffend das behauptete Fehlen eines rechtlichen Interesses der Bf. (16:1 Stimmen).
Zurückweisung der Einrede der Regierung betreffend die Zuständigkeit des GH ratione personae (16:1 Stimmen).
Zurückweisung der Einrede der Regierung betreffend die Einhaltung der Beschwerdefrist (15:2 Stimmen).
Verletzung von Art. 2 EMRK wegen des Versäumnisses, eine effektive Untersuchung zur Klärung des Schicksals der vermissten Personen durchzuführen (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 3 EMRK (16:1 Stimmen).
Verletzung von Art. 5 EMRK hinsichtlich zwei der Bf. (16:1 Stimmen).
Keine Verletzung von Art. 5 EMRK in Hinblick auf die übrigen sieben vermissten Personen (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der übrigen behaupteten Verletzungen (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Je € 12.000,– pro Beschwerde für immateriellen Schaden und je € 8.000,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die vorliegenden neun Beschwerden wurden am 25.1.1990 von Staatsbürgern Zyperns jeweils im eigenen Namen und im Namen ihrer verschwundenen Angehörigen erhoben. Sie betreffen die Operationen der türkischen Armee in Nordzypern im Sommer 1974. (Anm.: Diese Ereignisse waren Gegenstand von vier Staatenbeschwerden der Republik Zypern gegen die Türkei. Eine dieser Beschwerden mündete in das Urteil Zypern/TR v. 10.5.2001 (GK).)
Acht der neun vermissten Personen dienten 1974 als Soldaten in der griechisch-zypriotischen Armee. Sie verschwanden im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen in Gebieten, die von der türkischen Armee erobert wurden. Einige von ihnen wurden später angeblich in türkischen Gefängnissen gesehen, doch verliert sich danach ihre Spur. Die neunte Person, Herr Hadjpanteli, war Bankangestellter und wurde von türkischen Soldaten am 18.8.1974 abgeführt. Seine sterblichen Überreste wurden 2007 im Zuge von Nachforschungen des Komitees für vermisste Personen der Vereinten Nationen (CMP) in einem Massengrab entdeckt.
Die belangte Regierung bestreitet, dass die Bf. von der türkischen Armee gefangen genommen wurden. Aus den vorliegenden Informationen könne nur geschlossen werden, dass es sich um Armeeangehörige gehandelt hätte, die während der Kämpfe 1974 ums Leben kamen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. machen im eigenen Namen und im Namen ihrer Angehörigen unter anderem Verletzungen von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) geltend.
Zur Beschwerdelegitimation der verschwundenen Personen:
Die belangte Regierung bringt vor, gemäß der Judikatur des EGMR gelte in Fällen verschwundener Personen nach einer bestimmten Zeit eine Vermutung für deren Tod.
Nach der Praxis des GH können Beschwerden nur von Personen bzw. im Namen von Personen erhoben werden, die am Leben sind. Wenn das behauptete Opfer einer Verletzung vor der Beschwerdeerhebung verstirbt, kann Angehörigen mit ausreichendem rechtlichem Interesse die Möglichkeit offenstehen, eine Beschwerde betreffend die Umstände des Todes zu erheben; diese wird jedoch im eigenen Namen des Angehörigen registriert.
Der GH erachtet es im vorliegenden Fall nicht für erforderlich zu entscheiden, ob den verschwundenen Männern der Status als Bf. zuzuerkennen ist oder nicht, da jedenfalls die nahen Angehörigen Beschwerden betreffend die Umstände ihres Verschwindens erheben können. Er wird daher mit der Prüfung der Beschwerden unter der Annahme fortfahren, dass die Angehörigen der vermissten Personen die Bf. iSv. Art. 34 EMRK sind.
Zu den Verfahrenseinreden der Regierung:
Die Regierung wendet ein, es bestünde kein rechtliches Interesse an der Behandlung dieser Beschwerden, da das Verschwinden griechischer Zyprioten bereits Gegenstand des Urteils Zypern/TR gewesen sei. Außerdem würden die Ereignisse von 1974 nicht in die zeitliche Zuständigkeit des GH fallen, da die Türkei das Individualbeschwerderecht erst am 28.1.1987 anerkannt habe. Zudem wären selbst unter der Annahme einer Zuständigkeit des GH die Beschwerden als verspätet zurückzuweisen.
1. Zum Bestehen eines rechtlichen Interesses:
In seiner ZE ließ der GH die Frage offen, ob er nach Art. 27 Abs. 1 lit. b EMRK (nunmehr Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK) an der Prüfung einer Angelegenheit im Rahmen einer Individualbeschwerde gehindert wäre, die bereits Gegenstand einer Staatenbeschwerde war.
In der Zwischenzeit ist ein Urteil im Staatenbeschwerdeverfahren ergangen, mit dem Verletzungen von Art. 2, Art. 3 und Art. 5 EMRK in Hinblick auf das Verschwinden griechischer Zyprioten festgestellt wurden. Damit eine Beschwerde iSv. Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK „im Wesentlichen mit einer schon vorher vom GH geprüften Beschwerde übereinstimmt", muss sie nicht nur die im Wesentlichen selben Tatsachen und Beschwerdebehauptungen betreffen, sondern auch von denselben Personen erhoben werden. Die Erhebung einer Staatenbeschwerde beraubt daher einzelne Beschwerdeführer nicht der Möglichkeit, ihre eigenen Beschwerden zu erheben bzw. weiterzuverfolgen.
Soweit die Regierung vorbringt, die Prüfung der Beschwerde sei aufgrund des Urteils im Staatenbeschwerdeverfahren iSv. Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK nicht länger gerechtfertigt, ist festzuhalten, dass aus diesem Urteil nicht hervorgeht, auf welche einzelnen vermissten Personen es sich bezieht. Die von den vorliegenden Beschwerden aufgeworfenen Fragen wurden daher durch das Urteil Zypern/TR nicht erledigt. Dazu ist zudem anzumerken, dass der GH im Individualbeschwerdeverfahren Entschädigungen zusprechen und nach Art. 46 EMRK individuelle und generelle Maßnahmen zur Urteilsumsetzung empfehlen kann.
Da die Bf. somit weiterhin ein rechtliches Interesse an der Prüfung ihrer Beschwerden haben, ist diese Einrede zurückzuweisen (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Ziemele).
2. Zur Jurisdiktion ratione temporis:
Die Konvention bindet die Vertragsparteien nicht in Hinblick auf Handlungen oder Tatsachen, die sich vor ihrem Inkrafttreten für diese Partei ereigneten oder auf Situationen, die vor diesem Datum endeten.
Die Türkei ratifizierte die EMRK am 18.5.1954. Sie anerkannte das Individualbeschwerderecht aber erst am 28.1.1987 und nur in Bezug auf Tatsachen, die sich nach diesem Datum ereigneten. Der GH ist daher nicht zuständig zur Prüfung von Beschwerden gegen die Türkei, wenn die behaupteten Verletzungen auf Tatsachen beruhen, die sich vor dem 28.1.1987 ereigneten. Sofern die Bf. eine Verantwortlichkeit des belangten Staates für faktische Ereignisse im Jahr 1974 behaupten, fallen die Beschwerden außerhalb der zeitlichen Zuständigkeit des GH. Die Bf. bringen jedoch vor, dass sich ihre Beschwerden nur auf die nach 1987 andauernde Situation beziehen, nämlich das fortgesetzte Versäumnis, eine effektive Untersuchung über das Verschwinden ihrer Angehörigen durchzuführen.
a) Zeitliche Zuständigkeit und Ermittlungspflichten nach Art. 2 EMRK:
Wie die Große Kammer in ihrem Urteil Šilih/SLO klarstellte, hat sich die aus Art. 2 EMRK resultierende prozessuale Verpflichtung, bei Todesfällen eine effektive Untersuchung durchzuführen, zu einer abtrennbaren Verpflichtung entwickelt, die den Staat selbst dann treffen kann, wenn sich der Todesfall vor dem Inkrafttreten der Konvention ereignet hat.
b) Vermutung des Todes:
Die belangte Regierung behauptet, es müsse angenommen werden, dass die verschwundenen Männer lange vor der Begründung der zeitlichen Zuständigkeit des GH verstorben seien. Daher liege kein nach diesem Zeitpunkt zu untersuchendes „Verschwinden" vor.
Der GH hat bei zahlreichen Gelegenheiten festgestellt, dass eine vermisste Person für tot gehalten werden kann. Im Allgemeinen hat er damit Behauptungen der belangten Regierungen zurückgewiesen, die Person sei noch am Leben. Diese Vermutung des Todes beruht stets auf einer Prüfung aller Umstände des Falles, wobei die seit dem letzten Lebenszeichen vergangene Zeit ein relevantes Element ist.
Der GH möchte hier unterscheiden zwischen einer Tatsachenvermutung und den sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen. Selbst wenn Hinweise vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, dass die neun vermissten Männer im Zuge der Ereignisse von 1974 oder kurz darauf verstarben, würde dies nichts an den Beschwerden hinsichtlich des Fehlens einer effektiven Untersuchung ändern. In Fällen des Verschwindens unter lebensbedrohenden Umständen kann die prozessuale Verpflichtung zu ermitteln nicht durch die Entdeckung der sterblichen Überreste oder durch die Vermutung des Todes beendet werden. Eine Verpflichtung zur Klärung des Verschwindens und des Todes und zur Identifizierung und Verfolgung etwaiger Täter, die in diesem Zusammenhang strafbare Handlungen begangen haben, wird im Allgemeinen bestehen bleiben.
Selbst wenn die 34 Jahre, die ohne Lebenszeichen der vermissten Personen vergangen sind, stark für die Tatsachenvermutung sprechen, dass sie inzwischen verstorben sind, beseitigt dies nicht die Ermittlungspflichten.
c) Charakter der Ermittlungspflicht in Fällen des Verschwindens:
Wie bereits in Šilih/SLO festgestellt, besteht die prozessuale Pflicht nach Art. 2 EMRK unabhängig von der substantiellen Verpflichtung.
In der Rechtsprechung des GH ist zu unterscheiden zwischen der Pflicht, einen Todesfall zu untersuchen, und jener zur Durchführung von Ermittlungen im Fall eines verdächtigen Verschwindens. Verschwinden ist ein anderes Phänomen, das durch eine Situation andauernder Unsicherheit gekennzeichnet ist, in der Informationen fehlen oder die Geschehnisse bewusst verschleiert werden. Diese Situation zieht sich häufig über lange Zeit hin, was das Leiden der Angehörigen des Opfers verlängert. Ein Verschwinden kann daher nicht einfach als „augenblicksbezogenes" (instantaneous) Ereignis betrachtet werden; das zusätzliche Element eines folgenden Versäumnisses, Verbleib und Schicksal der verschwundenen Person zu klären, begründet eine andauernde Situation. Die prozessuale Verpflichtung wird daher solange bestehen, wie das Schicksal der Person ungeklärt bleibt. Das fortdauernde Versäumnis, die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen, wird als andauernde Verletzung angesehen. Dies gilt selbst dann, wenn schließlich der Tod anzunehmen ist.
d) Schlussfolgerung:
Die Einrede der Regierung betreffend die Zuständigkeit des GH ratione temporis ist zurückzuweisen (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Ziemele).
3. Zur Beschwerdefrist:
a) Geltung der Frist in Fällen des Verschwindens:
Wenn sich ein Todesfall ereignet, ist von den Angehörigen zu erwarten, den Fortschritt der Ermittlungen zu verfolgen und ohne unnötige Verzögerung eine Beschwerde einzubringen, sobald ihnen das Fehlen einer wirksamen Untersuchung bewusst wird. Derselbe Grundsatz gilt in Fällen des Verschwindens. In solchen Fällen ist es unverzichtbar, dass die Bf. als Angehörige vermisster Personen die Erhebung ihrer Beschwerde über das Fehlen einer Untersuchung nicht unnötig verzögern, damit die Prüfung und das Urteil des GH nicht ihrer Wirksamkeit beraubt werden. Wenn es um das Verschwinden von Personen geht, können Bf. nicht ewig warten, bevor sie sich an den GH wenden.
Bei der Beurteilung, ob unnötige Verzögerungen vorliegen, muss zwischen Todesfällen und Fällen des Verschwindens unterschieden werden. Bei gewaltsamen oder rechtswidrigen Tötungen ist der genaue Todeszeitpunkt in der Regel bekannt und die Ineffektivität einer Untersuchung wird im Allgemeinen rasch offensichtlich. Daher wird ein Bf. einen solchen Fall binnen Monaten oder längstens binnen weniger Jahre nach Straßburg bringen müssen. In Fällen des Verschwindens, wo ein Zustand der Unwissenheit und Unsicherheit herrscht und es per definitionem an einer Aufklärung mangelt, ist die Situation weniger eindeutig.
Dennoch können Beschwerden in Fällen eines Verschwindens als verspätet zurückgewiesen werden, wenn eine unverhältnismäßige Verzögerung seitens der Bf. vorliegt, nachdem diesen bewusst wurde oder bewusst werden hätte müssen, dass keine Untersuchung eingeleitet wurde oder diese im Sand verlaufen ist oder ineffektiv wurde und keine realistische Aussicht besteht, dass in Zukunft eine effektive Untersuchung gewährt wird.
Wenn in komplexen Situationen wie der vorliegenden, die sich im Kontext eines internationalen Konflikts ergibt, das völlige Fehlen einer Untersuchung behauptet wird, kann von den Angehörigen erwartet werden, spätestens einige Jahre nach den Vorfällen die Beschwerde zu erheben. Findet eine Untersuchung statt, können die Angehörigen einige Jahre zuwarten, bis sich die Hoffnung auf Fortschritte endgültig zerschlägt. Wenn mehr als zehn Jahre vergangen sind, werden die Bf. im Allgemeinen überzeugend darlegen müssen, dass konkrete Fortschritte gemacht wurden, die eine weitere Verzögerung der Beschwerde rechtfertigen.
b) Anwendung im vorliegenden Fall:
Die Bf. erhoben ihre Beschwerden 15 Jahre nach dem Verschwinden ihrer Angehörigen. Die Regierung der Republik Zypern brachte eine Reihe von Beschwerden beim GH ein, die dieses Problem betrafen. Nach dem Zypern-Konflikt bemühten sich die Vereinten Nationen um Mechanismen für die Lösung des Problems der vermissten Personen. 1981 gründeten sie das CMP, das jedoch erst 1984 seine Tätigkeit aufnahm.
Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, wann die Bf. nach Straßburg hätten kommen sollen. Nach Ansicht des GH konnten sie in der außergewöhnlichen Situation eines internationalen Konflikts, in der keine normalen Ermittlungsverfahren zur Verfügung standen, das Ergebnis der Initiativen ihrer Regierung und der Vereinten Nationen abwarten. Ende 1990 musste jedoch offensichtlich werden, dass der problematische, unverbindliche und vertrauliche Charakter dieses Prozesses keine realistische Aussicht auf Fortschritte zur baldigen Auffindung der sterblichen Überreste oder zur Klärung des Schicksals ihrer Angehörigen bot. Indem sie den GH im Jänner 1990 anriefen, handelten die Bf. mit angemessener Zügigkeit.
Die Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen (15:2 Stimmen; Sondervoten von Richter Villiger und Richterin Erönen, im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richter Spielmann und Richterin Power sowie von Richterin Ziemele).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK:
Die Bf. bringen vor, die Regierung habe ihre Verpflichtung verletzt, eine effektive Untersuchung des Schicksals der vermissten Männer durchzuführen.
1. Zur Beweislast:
Die prozessuale Verpflichtung erwächst dann, wenn Personen, die zuletzt im Gewahrsam staatlicher Organe gesehen wurden, anschließend unter lebensbedrohenden Umständen verschwanden. Wenn Personen in einem Gebiet verschwunden sind, das unter ausschließlicher Kontrolle der Behörden des Staates steht und prima facie-Beweise für eine Beteiligung des Staates bestehen, kann sich die Beweislast zur Regierung verlagern.
Es ist nicht Sache des GH festzustellen, was sich 1974 ereignet hat, da dies außerhalb seiner Zuständigkeit liegt. Es sprechen aber starke Argumente dafür, dass zwei der Männer zuletzt unter Umständen gesehen wurden, die in die Verantwortlichkeit der türkischen Armee fallen. Ihre Namen finden sich nämlich auf einer vom IKRK erstellten Liste von Gefangenen in Einrichtungen der türkischen Armee. Auch bei den übrigen sieben Männern sprechen starke Hinweise dafür, dass sie zuletzt in Gebieten gesehen wurden, die unter der Kontrolle der türkischen Truppen standen. Im Gebiet eines internationalen Konflikts sind die Vertragsstaaten verpflichtet, das Leben jener zu schützen, die nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen beteiligt sind. Wenn Kombattanten gestorben sind, müssen die Behörden Informationen über ihre Identität und ihr Schicksal sammeln und zur Verfügung stellen oder es Einrichtungen wie dem IKRK erlauben, dies zu tun.
Im vorliegenden Fall legte die belangte Regierung keine konkreten Informationen vor, wonach einer der vermissten Männer in der von ihr kontrollierten Konfliktzone tot aufgefunden oder getötet worden wäre. Es gibt auch keine andere überzeugende Erklärung darüber, was ihnen zugestoßen sein könnte, welche die Behauptung der Bf. widerlegen könnte, die Männer seien in Gebieten verschwunden, die unter ausschließlicher Kontrolle der Regierung standen. Ihr Verschwinden ereignete sich unter lebensbedrohenden Umständen. Durch Art. 2 EMRK wird der belangten Regierung daher eine andauernde Verpflichtung auferlegt, den Verbleib und das Schicksal der Vermissten aufzuklären. Wäre dies gewährleistet, könnten Maßnahmen zur Wiedergutmachung wirksam ergriffen werden.
2. Zur Erfüllung der prozessualen Verpflichtung:
Die belangte Regierung bringt vor, die prozessualen Verpflichtungen durch die Zusammenarbeit mit dem CMP erfüllt zu haben.
Der GH stellt fest, dass die Verpflichtungen nach Art. 2 EMRK durch die Maßnahmen des CMP nicht erfüllt werden können. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das CMP über seinen begrenzten Aufgabenbereich hinausgeht, um die Umstände des Todes der vermissten Personen, deren sterbliche Überreste identifiziert wurden, festzustellen oder um Beweise zu sammeln, um mögliche Verantwortliche für unrechtmäßige Gewalt strafrechtlich zu verfolgen. Es gibt auch kein anderes Organ, das diese Rolle übernehmen würde. Es kann sein, dass sich Ermittlungen als ergebnislos erweisen oder dass keine ausreichenden Beweise verfügbar wären. Ein solcher Ausgang ist jedoch selbst in einem so späten Stadium nicht unvermeidbar und die belangte Regierung kann nicht davon entbunden werden, die erforderlichen Bemühungen zu unternehmen.
Vielleicht ziehen es beide Seiten in diesem Konflikt vor nicht zu versuchen, die stattgefundenen Repressalien, unrechtmäßigen Tötungen und Massaker ans Licht zu bringen oder jene in ihren eigenen Truppen und ihrer Zivilbevölkerung zu identifizieren, die darin verwickelt waren. Vielleicht bevorzugen sie einen „politiksensiblen" Zugang zum Problem der vermissten Personen und vielleicht war das CMP mit seinem begrenzten Auftrag die einzige Lösung, auf die man sich unter Vermittlung der Vereinten Nationen einigen konnte. Dies kann jedoch keinen Einfluss auf die Anwendung der Bestimmungen der EMRK haben.
Daher liegt eine andauernde Verletzung von Art. 2 EMRK wegen des Versäumnisses vor, eine effektive Untersuchung zur Klärung des Schicksals der neun Männer durchzuführen, die seit 1974 vermisst werden (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Spielmann, gefolgt von den Richterinnen Ziemele und Kalaydjieva).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:
Die Angehörigen der Vermissten bringen vor, sie seien seit 34 Jahren ohne Nachricht von diesen, was ihnen täglich Qualen und Kummer bereite.
Das Phänomen des Verschwindens bedeutet eine besondere Last für die Angehörigen vermisster Personen, die in Unwissenheit über das Schicksal ihrer Geliebten gelassen werden und die Qual der Ungewissheit erleiden. Der GH hat daher in seiner Rechtsprechung anerkannt, dass die Situation der Angehörigen eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen kann. Die Verletzung liegt dabei in der Reaktion der Behörden.
In Zypern/TR stellte die Große Kammer im Zusammenhang mit dem 1974 erfolgten Verschwinden von Personen fest, dass das Schweigen der Behörden angesichts der Sorgen der Angehörigen vermisster Personen nur als unmenschliche Behandlung angesehen werden könne.
Der GH sieht keine Grundlage, auf der er im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis gelangen könnte. Die Dauer, über die sich das Martyrium der Angehörigen erstreckt und die Gleichgültigkeit der Behörden gegenüber ihrem akuten Verlangen, Kenntnis über das Schicksal ihrer engen Familienmitglieder zu erlangen, begründen eine Situation, die das erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht. Daher liegt eine Verletzung von Art. 3 EMRK vor (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK:
Wie der GH bereits festgestellt hat, sprechen starke Argumente dafür, dass die beiden Männer, die sich auf der Liste des IKRK fanden, zuletzt unter Umständen gesehen wurden, die in die Verantwortlichkeit der belangten Regierung fallen. Sie wurden seither nicht mehr gesehen. Die türkischen Behörden haben ihre Anhaltung nicht anerkannt, jedoch keine Dokumente über ihren Verbleib vorgelegt. Der GH stellt die offensichtliche Missachtung der verfahrensrechtlichen Sicherheiten fest, die bei der Anhaltung von Personen anwendbar sind. Auch wenn keine Beweise dafür vorliegen, dass eine der vermissten Personen sich während der in die Zuständigkeit des GH fallenden Periode noch in Haft befand, bleibt die türkische Regierung verpflichtet nachzuweisen, dass sie seither eine effektive Untersuchung über die Behauptung durchgeführt hat, die beiden Männer wären festgenommen worden und seien seither verschwunden. Die Feststellungen des GH zu Art. 2 EMRK lassen keinen Zweifel darüber offen, dass die Behörden es verabsäumt haben, auch in dieser Hinsicht eine effektive Untersuchung durchzuführen. Darin liegt eine andauernde Verletzung von Art. 5 EMRK hinsichtlich zwei der Bf. (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen).
In Hinblick auf die übrigen sieben Vermissten ist keine Verletzung von Art. 5 EMRK festzustellen (einstimmig).
Zu den weiteren behaupteten Verletzungen:
Eine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzungen weiterer Bestimmungen der EMRK ist nicht erforderlich (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
Je € 12.000,– pro Beschwerde für immateriellen Schaden und je € 8.000,– für Kosten und Auslagen (16:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Erönen).
Vom GH zitierte Judikatur:
Ogur/TR v. 20.5.1999 (GK); NL 1999, 98.
Moldovan u.a./RO und Rostas u.a./RO v. 13.3.2001 (ZE).
Zypern/TR v. 10.5.2001 (GK).
Blecic/HR v. 8.3.2006 (GK); NL 2006, 75.
Kholodov und Kholodova/RUS v. 14.9.2006 (ZE).
Silih/SLO v. 9.4.2009 (GK); NL 2009, 100.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.9.2009, Bsw. 16064/90, Bsw. 16065/90, Bsw. 16.066/90 u.a., entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 271) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_5/Varnava.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.