Bsw10249/03 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Scoppola gegen Italien (Nr. 2), Urteil vom 17.9.2009, Bsw. 10249/03.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 7 EMRK - Rückwirkende Anwendung milderer Strafgesetze.
Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK (11:6 Stimmen).
Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Feststellung der Verpflichtung des belangten Staates nach Art. 46 EMRK sicherzustellen, dass die Verurteilung zu lebenslanger Haft durch eine den Grundsätzen dieses Urteils entsprechende Strafe ersetzt wird (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. tötete am 2.9.1999 seine Ehefrau und verletzte einen seiner Söhne. Die Staatsanwaltschaft Rom beantragte am Schluss des Vorverfahrens die Anklage wegen vollendeten bzw. versuchten Mordes, Misshandlung seiner Familie und illegalen Waffenbesitzes.
In einer Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter beantragte der Bf. am 18.2.2000 die Durchführung eines summarischen Verfahrens. (Anm: Ein summarisches Verfahren kann durchgeführt werden, wenn aufgrund der vorliegenden Akten im Vorverfahren entschieden werden kann. Die Verhandlung findet dann nicht öffentlich statt und die Parteien können sich nur auf die Aktenlage stützen. Im Falle eines Schuldspruchs ist die verhängte Strafe um ein Drittel herabzusetzen.)
Art. 442 Abs. 2 der italienischen Strafprozessordnung (Codice Procedurale Penale – CPP) sah in der damals geltenden Fassung vor, dass bei der Anwendung dieses vereinfachten Verfahrens anstelle einer dem Angeklagten drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe eine Höchststrafe von 30 Jahren Haft zu verhängen war. Der Untersuchungsrichter gab dem Antrag statt. Die zweite Verhandlung vor dem Untersuchungsrichter fand am 24.11.2000 statt und endete mit einer Verurteilung des Bf. Der Richter stellte fest, dass der Bf. einer lebenslangen Freiheitsstrafe unterliegen würde und verurteilte ihn wegen der Anwendung des summarischen Verfahrens zu 30 Jahren Haft.
Die Staatsanwaltschaft Rom erhob am 12.1.2001 eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen dieses Urteil. Sie brachte vor, der Untersuchungsrichter hätte Art. 7 des Dekrets Nr. 341 vom 24.11.2000 anwenden müssen, das am Tag der Verurteilung des Bf. kundgemacht worden und in Kraft getreten war. Dieses Dekret hatte Art. 442 CPP dahingehend geändert, dass bei Anwendung des summarischen Verfahrens anstelle der bei Zusammentreffen mehrerer Delikte drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe mit Isolationshaft lebenslange Freiheitsstrafe ohne Strafverschärfung zu verhängen ist.
Auch der Bf. erhob ein Rechtsmittel gegen seine Verurteilung. Er brachte vor, nicht vorsätzlich gehandelt zu haben und bei der Tatbegehung unzurechnungsfähig gewesen zu sein.
Das für die Entscheidung über die beiden Rechtsmittel zuständige Geschworenengericht Rom führte am 10.1.2002 eine Verhandlung durch und verurteilte den Bf. in Abwesenheit zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Begründend führte das Gericht aus, Dekret Nr. 341 sei am Tag des Urteils des Untersuchungsrichters in Kraft getreten und hätte daher als verfahrensrechtliche Regelung berücksichtigt werden müssen. Es wäre dem Bf. freigestanden, seinen Antrag auf ein summarisches Verfahren zurückzuziehen. Da er dies unterlassen habe, hätte die erstinstanzliche Entscheidung die inzwischen erfolgte Änderung hinsichtlich der zu verhängenden Strafe berücksichtigen müssen.
Am 18.2.2002 erhob der Bf. Nichtigkeitsbeschwerde gegen das zweitinstanzliche Urteil. Der Kassationsgerichtshof wies dieses Rechtsmittel am 20.1.2003 ab.
Der Bf. beantragte am 18.7.2003 mit einem außerordentlichen Rechtsmittel die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen eines Tatsachenirrtums. Er machte unter anderem eine Verletzung von Art. 6 und Art. 7 EMRK geltend. Der Kassationsgerichtshof erklärte den Antrag am 14.5.2004 für unzulässig.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).
Zur Verfahrenseinrede der Regierung:
Die Regierung bestreitet die Zuständigkeit der Großen Kammer zur Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK. Sie bringt vor, die III. Kammer hätte in ihrer teilweisen Entscheidung über die Zulässigkeit vom 8.9.2005 diesen Teil der Beschwerde für unzulässig erklärt. Die endgültige Zulässigkeitsentscheidung der II. Kammer vom 13.5.2008, mit der die Beschwerde auch hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK für zulässig erklärt wurde, stehe in einem Widerspruch zur Entscheidung der III. Kammer.
Wie die Große Kammer feststellt, wird der Umfang ihrer Jurisdiktion nur durch die Zulässigkeitsentscheidung der Kammer begrenzt.
Die III. Kammer erklärte in ihrer Entscheidung vom 8.9.2005 drei Beschwerdepunkte unter Art. 6 EMRK für unzulässig. Diese Teile der Beschwerde sind somit nicht Teil des der Großen Kammer vorliegenden Falles. Die Entscheidung nannte auch einen vierten Beschwerdepunkt unter Art. 6 EMRK, betreffend die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Die III. Kammer war der Ansicht, dass dieser die gleiche Angelegenheit wie die Beschwerde unter Art. 7 EMRK betraf und daher nach dieser Bestimmung zu prüfen wäre.
Da der GH Herr über die rechtliche Beurteilung eines Beschwerdesachverhalts ist, erachtet er sich nicht an die Beurteilung durch den Bf. oder die Regierung gebunden. Eine Beschwerde wird durch die behaupteten Tatsachen bestimmt und nicht nur durch die vorgebrachten rechtlichen Argumente. Indem es die II. Kammer für angemessen hielt zu prüfen, ob die Anwendung von Dekret Nr. 341 auch die Grundsätze des fairen Verfahrens verletzte, machte sie lediglich von ihrem Recht Gebrauch, das Beschwerdevorbringen rechtlich zu beurteilen. Eine solche Neuklassifizierung kann nicht als willkürlich angesehen werden.
Es spricht daher nichts dagegen, dass die Große Kammer die Beschwerde auch unter Art. 6 EMRK prüft. Die Verfahrenseinrede der Regierung ist zurückzuweisen (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:
Der Bf. bringt vor, seine Verurteilung zu lebenslanger Haft habe Art. 7 EMRK verletzt.
1. Zur Erschöpfung des Instanzenzugs:
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe sich vor dem Kassationsgerichtshof nicht auf das Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen berufen und damit die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht erschöpft.
Der Bf. wandte sich weder in seiner Berufung noch in der Nichtigkeitsbeschwerde gegen die behauptete rückwirkende Anwendung des Dekrets Nr. 341. Dies machte er erst in seinem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens geltend, der jedoch nicht geeignet war, Abhilfe gegen die behauptete Konventionsverletzung zu schaffen.
Es ist daher zu prüfen, ob die Geltendmachung anderer Berufungs- oder Nichtigkeitsgründe durch den Bf. Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Da das Dekret Nr. 341 im Rang eines Gesetzes stand, musste es von den Richtern angewendet werden. Im italienischen Rechtssystem hat der Einzelne auch keine Möglichkeit, den Verfassungsgerichtshof direkt anzurufen. Die Partei eines Verfahrens kann lediglich anregen, dass das Gericht den Verfassungsgerichtshof anruft. Ein solcher Antrag ist daher kein wirksamer Rechtsbehelf, der erschöpft werden müsste.
Da die Regierung somit nicht gezeigt hat, dass die dem Bf. zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe zur Bekämpfung der Anwendung des Dekrets Nr. 341 Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, ist ihre Einrede zurückzuweisen (einstimmig).
2. Zur Begründetheit der Beschwerde:
Der Bf. bringt vor, ein Strafgesetz sei insofern rückwirkend angewendet worden, als er zunächst zu 30 Jahren Haft und dann aufgrund des – erst nach der Urteilsverkündung im Amtsblatt kundgemachten – Dekrets Nr. 341 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Zudem sei der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung milderer Strafgesetze verletzt worden. Beides verstoße gegen Art. 7 EMRK.
a) Zur bisherigen Auslegung von Art. 7 EMRK:
Art. 7 EMRK verbietet nicht nur die rückwirkende Anwendung von Strafgesetzen zum Nachteil des Angeklagten, sondern enthält auch den Grundsatz, dass nur ein Gesetz Straftaten definieren und Strafen vorsehen kann.
Die EKMR vertrat 1978 in der Entscheidung X/D die Ansicht, dass Art. 7 EMRK im Gegensatz zu Art. 15 Abs. 1 IPBPR kein Recht garantiert, zu einer milderen Strafe verurteilt zu werden, die in einem nach Begehung der Tat erlassenen Gesetz vorgesehen ist. Diese Ansicht wurde vom GH bestätigt, der wiederholte, dass Art. 7 EMRK einem Straftäter kein Recht auf Anwendung eines günstigeren Strafgesetzes einräumt.
Seit der genannten Entscheidung der EKMR ist viel Zeit vergangen, während der sich wichtige internationale Entwicklungen ereigneten. Neben dem Inkrafttreten der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention, deren Art. 9 die rückwirkende Anwendung milderer Strafgesetze garantiert, ist vor allem die Europäische Grundrechtecharta zu nennen. Der Wortlaut ihres Art. 49 Abs. 1 weicht von jenem des Art. 7 EMRK ab: „Wird nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so ist diese zu verhängen." Der EuGH stellte fest, dass dieser Grundsatz Bestandteil der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten der EU sei. Die Anwendbarkeit des milderen Strafgesetzes wurde auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vorgesehen.
Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass sich seit der Entscheidung X/D in Europa und international ein Konsens entwickelt hat, wonach die Anwendung eines eine mildere Strafe vorsehenden strafrechtlichen Gesetzes – selbst wenn es erst nach der Begehung der Tat erlassen wurde – zu einem fundamentalen Grundsatz des Strafrechts geworden ist.
Freilich erwähnt Art. 7 EMRK nicht ausdrücklich eine Verpflichtung der Konventionsstaaten, einem Angeklagten den Vorteil einer nach der Tatbegehung erfolgten Gesetzesänderung zu gewähren. Die EKMR wies im Fall X/D genau mit diesem auf den Wortlaut gestützten Argument die Beschwerde zurück. Angesichts der geschilderten Entwicklungen kann dieses Argument jedoch nicht mehr entscheidend sein. Indem er die Verhängung einer schwereren als der zur Zeit der Tatbegehung angedrohten Strafe verbietet, schließt Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht aus, dem Angeklagten den Vorteil einer inzwischen gesetzlich vorgesehenen milderen Strafe einzuräumen. Es entspricht dem Rechtsstaatsprinzip, zu dem Art. 7 EMRK einen wesentlichen Beitrag leistet, von einem Gericht zu erwarten, auf jede strafbare Handlung jene Strafe anzuwenden, die der Gesetzgeber für angemessen hält. Eine schwerere Strafe bloß aus dem Grund zu verhängen, dass sie zur Zeit der Tatbegehung vorgesehen war, würde bedeuten, die Regeln über die zeitliche Abfolge von Strafgesetzen zum Nachteil des Angeklagten anzuwenden. Es würde zudem darauf hinauslaufen, den Angeklagten begünstigende Gesetzesänderungen, die vor seiner Verurteilung erfolgen, zu missachten und weiterhin Strafen zu verhängen, die der Staat – und die Gemeinschaft, die er repräsentiert – nun für exzessiv erachtet. Die Verpflichtung, von verschiedenen Strafgesetzen jenes anzuwenden, dessen Bestimmungen für den Angeklagten am günstigsten sind, ist eine Klarstellung der Regeln über die zeitliche Abfolge von Strafgesetzen, die mit einem weiteren wesentlichen Element von Art. 7 EMRK, nämlich der Vorhersehbarkeit von Strafen, im Einklang steht.
Angesichts dieser Überlegungen erachtet es der GH für notwendig, von der in X/D begründeten Rechtsprechung abzugehen und zu bekräftigen, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK nicht nur das Verbot der rückwirkenden Anwendung strengerer Strafgesetze enthält, sondern auch implizit das Prinzip der Rückwirkung milderer Strafgesetze. Bestehen Unterschiede zwischen dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Recht und späteren Strafgesetzen, die vor dem rechtskräftigen Urteil erlassen werden, müssen die Gerichte jenes Gesetz anwenden, dessen Bestimmungen am günstigsten für den Angeklagten sind.
b) Enthält Art. 442 CPP materielle strafrechtliche Bestimmungen?
Die Regeln des Art. 7 EMRK über die Rückwirkung sind nur auf Bestimmungen anwendbar, die Straftaten und die jeweils drohenden Strafen definieren. Der GH erklärte es hingegen in mehreren Fällen für angemessen, wenn die innerstaatlichen Gerichte in Hinblick auf Verfahrensgesetze den Grundsatz tempus regit actum anwenden. Der GH muss daher entscheiden, ob Art. 442 Abs. 2 CPP Bestimmungen des materiellen Strafrechts und insbesondere solche über die Dauer der zu verhängenden Strafe enthielt.
Art. 442 ist Teil der das Verfahren regelnden Strafprozessordnung. Die Einordnung der Norm im innerstaatlichen Recht kann jedoch nicht entscheidend sein. Art. 442 Abs. 2 CPP ist zur Gänze der Dauer der Strafe gewidmet, die im Falle der Anwendung des summarischen Verfahrens zu verhängen ist.
Es besteht kein Zweifel, dass die in Art. 442 Abs. 2 CPP genannten Strafen jene sind, die in Folge einer Verurteilung wegen einer strafbaren Handlung zu verhängen waren, dass sie im innerstaatlichen Recht als „strafrechtlich" qualifiziert wurden und dass ihr Zweck sowohl abschreckend als auch bestrafend war. Zudem stellten sie die wegen der dem Angeklagten vorgeworfenen Handlungen verhängte Strafe dar und nicht etwa Maßnahmen betreffend die Vollstreckung oder Umsetzung einer Strafe.
Art. 442 Abs. 2 CPP ist daher eine Bestimmung des materiellen Strafrechts, welche die Dauer der bei Anwendung des summarischen Verfahrens zu verhängenden Strafe betrifft. Sie fällt daher in den Anwendungsbereich des letzten Satzes von Art. 7 Abs. 1 EMRK.
c) Wurde dem Bf. der Vorteil des milderen Strafgesetzes gewährt?
Als der Bf. am 2.9.1999 die Straftaten beging, waren diese mit lebenslanger Freiheitsstrafe, verschärft mit Isolationshaft, bedroht. Laut einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1991 stand dies der Anwendung des summarischen Verfahrens entgegen. Dieses Hindernis wurde jedoch vier Monate später durch Gesetz Nr. 479 beseitigt. Dessen Art. 30 änderte Art. 442 Abs. 2 CPP dahingehend, dass im summarischen Verfahren lebenslange Freiheitsstrafe durch 30 Jahre Haft zu ersetzen war. Da der Untersuchungsrichter der Anwendung des summarischen Verfahrens danach zustimmte, ist Art. 30 des Gesetzes Nr. 479 eine nachfolgende strafrechtliche Bestimmung, die eine mildere Strafe vorsah. Art. 7 EMRK verlangte daher, dass dem Bf. der Vorteil dieser Bestimmung gewährt wird.
Dies geschah auch im Verfahren erster Instanz. Die Rechtsmittelgerichte wandten jedoch das Dekret Nr. 341 an, wonach im Fall der Begehung mehrerer Straftaten im summarischen Verfahren anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe mit Isolationshaft nicht 30 Jahre Haft zu verhängen waren, sondern lebenslange Freiheitsstrafe ohne Verschärfung.
Dem Bf. wurde damit eine schwerere Strafe auferlegt als in jenem Gesetz vorgesehen war, das von allen zwischen der Begehung der Straftat und dem endgültigen Urteil geltenden Gesetzen am günstigsten für ihn war.
d) Schlussfolgerung:
Da der belangte Staat seine Verpflichtung nicht erfüllt hat, den Bf. in den Genuss der nach der Tatbegehung erlassenen, eine mildere Strafe vorsehenden Bestimmung kommen zu lassen, hat eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK stattgefunden (11:6 Stimmen; Sondervotum von Richter Nicolaou, gefolgt von Richterin Jociené und den Richtern Bratza, Lorenzen, Villiger und Sajó, im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Malinverni, gefolgt von den Richtern Cabral Barreto und Šikuta).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Der Bf. bringt vor, er hätte durch die Entscheidung für das summarische Verfahren auf eine Reihe prozessualer Rechte verzichtet, weil eine mildere Strafe in Aussicht gestellt wurde. Dass er nicht in den Genuss dieser Strafmilderung gekommen sei, verletze Art. 6 EMRK.
Die Regierung wendet ein, der Bf. habe nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft, da er seinen Antrag auf ein summarisches Verfahren zurückziehen hätte können.
Durch die Entscheidung für das summarische Verfahren verzichtete der Bf., der von einem Anwalt seiner Wahl unterstützt wurde, unmissverständlich auf sein Recht auf eine öffentliche Verhandlung, auf Befragung von Zeugen und auf Vorlage neuer Beweise.
Allerdings erfolgte der Verzicht im Austausch gegen bestimmte Vorteile, die auch den Ausschluss der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe umfassten. Aufgrund der zur Zeit seines Antrags auf Durchführung eines summarischen Verfahrens geltenden Rechtslage konnte der Bf. erwarten, dass ihm maximal 30 Jahre Haft drohten. Diese legitime Erwartung wurde jedoch durch Dekret Nr. 341 zunichte gemacht. Die darin vorgesehene Änderung wurde auch auf Personen angewendet, die wie der Bf. vor Kundmachung des Dekrets Nr. 341 das summarische Verfahren beantragt hatten.
Eine angeklagte Person muss vom Staat erwarten können, in gutem Glauben zu handeln und die von der Verteidigung gewählten Verfahrensschritte zu berücksichtigen. Es widerspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Schutz des legitimen Vertrauens, wenn der Staat die mit dem Verzicht auf bestimmte dem Konzept des fairen Verfahrens innewohnende Rechte verbundenen Vorteile einseitig mindern kann. Da ein solcher Verzicht im Austausch gegen die erwähnten Vorteile erfolgt, kann es nicht als fair angesehen werden, wenn ein wesentliches Element der Vereinbarung zwischen dem Staat und dem Angeklagten ohne dessen Zustimmung zu seinem Nachteil geändert wird.
Die Anwendung der Bestimmungen des Dekrets Nr. 341 beraubte den Bf. eines wesentlichen Vorteils, der gesetzlich garantiert war und ihn zur Entscheidung für das summarische Verfahren veranlasst hatte. Dies ist unvereinbar mit den Grundsätzen des Art. 6 EMRK.
Zu prüfen bleibt, ob die im Dekret Nr. 341 vorgesehene Möglichkeit, den Antrag auf Durchführung eines summarischen Verfahrens zurückzuziehen, geeignet war, Abhilfe für den vom Bf. erlittenen Nachteil zu schaffen.
Nach Ansicht des GH wäre es übertrieben, von einem Angeklagten zu verlangen, auf die Möglichkeit eines vereinfachten Verfahrens zu verzichten, in dem er in erster Instanz die erhofften Vorteile erlangt hat. Der Bf. glaubte mehr als neun Monate lang, dass ihm wegen der Entscheidung für das summarische Verfahren höchstens 30 Jahre Haft drohten. Diese berechtigte Erwartung wurde durch Faktoren zunichte gemacht, die außerhalb seiner Kontrolle lagen, wie die Dauer des Verfahrens und der Erlass des Dekrets Nr. 341.
Daher ist die Einrede der Regierung zurückzuweisen und eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen (einstimmig).
Zur Anwendung von Art. 46 EMRK:
Der belangte Staat ist dafür verantwortlich sicherzustellen, dass die Verurteilung des Bf. zu lebenslanger Haft durch eine Strafe ersetzt wird, die den in diesem Urteil dargelegten Grundsätzen entspricht, also 30 Jahre Haft nicht überschreitet (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 10.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
X/D v. 6.3.1978 (EKMR).
Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A; NL 1993/4, 19; ÖJZ 1994, 59.
Welch/GB v. 9.2.1995, A/307-A; NL 1995, 82; ÖJZ 1995, 511.
Achour/F v. 29.3.2006 (GK); NL 2006, 81.
Hermi/I v. 18.10.2006 (GK); NL 2006, 248.
Kafkaris/CYP v. 12.2.2008 (GK); NL 2008, 24.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 17.9.2009, Bsw. 10249/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 260) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_5/Scoppola.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.