JudikaturAUSL EGMR

Bsw8227/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. September 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache E. S. gegen die Slowakei, Urteil vom 15.9.2009, Bsw. 8227/04.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 8 EMRK - Mangelnder Schutz vor häuslicher Gewalt.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Gemeinschaftlich € 8.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., eine Mutter und ihre drei Kinder, verließen am 7.3.2001 die Wohnung, in der sie bis dahin gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. Vater gelebt hatten. Die ErstBf. sah sich zu diesem Schritt gezwungen, um ihre Kinder vor physischem und sexuellem Missbrauch durch den Vater zu schützen.

Am 11.4.2001 reichte die ErstBf. die Scheidung ein. Für die Zeit des Scheidungsverfahrens wurde ihr die Obsorge für die Kinder übertragen. Rechtskräftig wurde die Scheidung mit 6.5.2002.

Am 21.5.2001 erstattete die ErstBf. Strafanzeige gegen ihren Ehemann, Herrn S., wegen Misshandlung der drei Kinder und der ErstBf. selbst sowie wegen sexuellem Missbrauch einer der Töchter. Am gleichen Tag beantragte die ErstBf. beim Bezirksgericht Kosice I auch, dem Ehemann mittels einstweiliger Verfügung das Verlassen der gemeinsamen Mietwohnung aufzutragen. Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, das Gericht habe keine Kompetenz, in das Mietrecht des Ehemannes einzugreifen. Aufgrund dessen musste die Mutter mit ihren Kindern weg von ihrem Heim, von Familie und Freunden ziehen. Zwei der Kinder mussten die Schule wechseln.

Die Berufung an das Regionalgericht Košice blieb erfolglos. Das Gericht erklärte, dass die ErstBf. ein Verfahren zur Auflösung des gemeinsamen Mietverhältnisses erst dann anstreben könne, wenn das Scheidungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen wäre. Es deutete an, dass eine Verfügung hätte erlassen werden können, wenn der Antrag dahingehend formuliert gewesen wäre, dem Ehemann aufzutragen, sein unangemessenes Verhalten gegenüber ihr und den Kindern einzustellen und die Bedrohungen zu unterlassen.

Daraufhin erhob die ErstBf. Verfassungsbeschwerde. Kurz bevor die Entscheidung des Verfassungsgerichts erging, wurde Herr S. wegen Misshandlung, Gewalt und sexuellem Missbrauch zu über vier Jahren Haft verurteilt. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 9.7.2003 stellte fest, dass die Unterinstanzen keine geeigneten Mittel ergriffen hätten, um die drei Kinder vor Übergriffen durch den Vater zu schützen. Dies hätte eine Verletzung der durch die Verfassung und die UN-Kinderrechtskonvention garantierten Rechte begründet. Die Gerichte hätten von Amts wegen eine einstweilige Verfügung erlassen müssen, um den Schutz der Kinder zu gewährleisten. Das Verfassungsgericht lehnte einen Antrag auf Ersatz des immateriellen Schadens ab, da es in der Feststellung der Verletzungen selbst bereits eine ausreichende Entschädigung sah. Bezüglich der ErstBf. stellte das Verfassungsgericht keine Verletzung ihrer verfassungsrechtlich geschützten Rechte fest, da sie eine einstweilige Verfügung erreichen hätte können, wenn sie ihren Antrag umformuliert hätte.

Durch eine Gesetzesänderung im Jänner 2003 entstand rechtlich erstmals die Möglichkeit, unter Umständen Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, das Betreten der Wohnung zu untersagen. Am 7.7.2003 erließ das Bezirksgericht auf Antrag der ErstBf. eine solche Verfügung gegen Herrn S.

Die ErstBf. brachte am 10.7.2003 Klage auf Ausschluss des Ex-Ehemannes von der Benutzung der Wohnung ein und am 18.3.2004 Klage auf Aufhebung des gemeinsamen Mietrechts an der Wohnung. Am 10.12.2004 erklärte das Bezirksgericht die ErstBf. zur Alleinmieterin der Wohnung. Ihrem Ex-Ehemann wurde der Auszug binnen 15 Tagen ab Erlassung des endgültigen Urteils befohlen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) und von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK:

Die Bf. behaupten, in ihren Rechten gemäß Art. 3 und Art. 8 EMRK verletzt zu sein, da ihnen der Staat keinen ausreichenden Schutz vor den Misshandlungen durch den Vater bzw. Ehemann gewährt habe.

1. Zur Zulässigkeit:

Die Regierung behauptet, die ErstBf. hätte den innerstaatlichen Instanzenzug nicht ausgeschöpft, da sie ihren Antrag auf einstweilige Verfügung nicht der Empfehlung des Gerichts gemäß umformuliert hatte. Die übrigen drei Bf. wären nicht länger Opfer, weil ihnen durch das Urteil des Verfassungsgerichts ausreichende Wiedergutmachung geleistet worden sei.

Es obliegt der Regierung zu beweisen, dass ein möglicher Rechtsbehelf auch effektiv gewesen wäre. Im vorliegenden Fall ist der GH nicht davon überzeugt, dass eine einstweilige Verfügung, die den früheren Ehemann der ErstBf. zur Unterlassung des „unangemessenen Verhaltens" aufforderte, ausreichend gewesen wäre, um die Bf. zu schützen. Eine solche Verfügung hätte Herrn S. nur abverlangt, keine Handlungen zu setzen, die ohnehin schon durch das Strafrecht verboten waren, welches zuvor keine ausreichend abschreckende Wirkung entfaltet hatte. Da ein Antrag auf eine solche Verfügung kein effektiver Rechtsbehelf gewesen wäre, hat die ErstBf. den innerstaatlichen Instanzenzug ausgeschöpft.

Bezüglich der Zweit-, Dritt- und des ViertBf. verweist der GH unter anderem auf seine Urteile in den Fällen Öneryildiz/TR und Paul und Audrey Edwards/GB, in denen er bereits judizierte, dass im Fall einer Verletzung von Art. 2 und Art. 3 EMRK im Verfahren prinzipiell sowohl Ersatz des materiellen als auch des immateriellen Schadens vorgesehen sein muss. Im vorliegenden Fall war der Ersatz von immateriellen Schäden zwar prinzipiell vorgesehen, das Verfassungsgericht befand jedoch, dass ein solcher Schadenersatz nicht notwendig sei, da die Anerkennung der Verletzung alleine bereits eine adäquate Entschädigung darstelle.

Der GH ist von den Argumenten der Regierung für die Entbehrlichkeit einer finanziellen Entschädigung nicht überzeugt. Aufgrund der festgestellten Ineffektivität eines weiteren Antrags auf eine einstweilige Verfügung kann die ErstBf. für weitere Misshandlungen der Bf. nicht verantwortlich gemacht werden. Weiters stellt weder die Verurteilung des Vaters mehr als zwei Jahre nach Einbringung der Strafanzeige, noch die Erlangung einer einstweiligen Verfügung aufgrund der Gesetzesänderung im Jänner 2003 eine ausreichende Entschädigung für drei Minderjährige dar, die gezwungen waren, ihr Familienheim zu verlassen, weil ihnen der Staat zwei Jahre lang keinen Schutz vor einem gewalttätigen Elternteil bot.

Der GH stellt daher fest, dass die Zweit-, die Dritt- und der ViertBf. aufgrund dessen, dass ihnen kein adäquater Schadenersatz für die Verletzung ihrer Rechte nach Art. 3 und Art. 8 EMRK zugesprochen wurde, immer noch als Opfer einer Verletzung iSv. Art. 34 EMRK gelten. Die Beschwerde ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst:

Der GH stellt in Bezug auf die Rechte der Zweit-, Dritt- und des ViertBf. eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK fest, da die Regierung eingesteht, dass keine ausreichenden Maßnahmen getroffen wurden, um die drei Kinder zu schützen.

Dass das vom Regionalgericht vorgeschlagene Rechtsmittel ineffektiv gewesen wäre, wurde bereits festgestellt. Weiters konnte erst im Juli 2003 ein Betretungsverbot für Herrn S. und erst im Dezember 2004 die Auflösung des gemeinsamen Mietverhältnisses erreicht werden, obwohl die Scheidung bereits im Mai 2002 rechtskräftig wurde. Selbst wenn die Verzögerung hinsichtlich der Auflösung des Mietverhältnisses im Fehlverhalten der ErstBf. gründen sollte, wäre eine solche Entscheidung trotzdem erst ein Jahr, nachdem die Anschuldigungen gegenüber Herrn S. erstmals aktenkundig wurden, erreichbar gewesen. Aufgrund der Schwere der Vorwürfe hätten die Bf. jedoch sofortige Maßnahmen zu ihrem Schutz benötigt. Während dieser Zeit stand der ErstBf. kein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung, um sich und ihre Kinder zu schützen.

Aufgrund alledem und da auch die Regierung nie bestritten hat, dass auch die ErstBf. einer Behandlung ausgesetzt war, die die Schwelle von Art. 3 und Art. 8 EMRK überschritten hat, stellt der GH fest, dass die Regierung gegen ihre positive Verpflichtung, die Rechte der Bf. gemäß Art. 3 und Art. 8 EMRK zu schützen, verstoßen und somit eine Verletzung von Art. 3 und Art. 8 EMRK stattgefunden hat (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK:

Da der GH in den vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte für eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK findet, wird die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückgewiesen (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

Gemeinschaftlich € 8.000,– für immateriellen Schaden, € 2.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Keenan/GB v. 3.4.2001; NL 2001, 65.

Paul und Audrey Edwards/GB v. 14.03.2002; NL 2002, 55.

Öneryildiz/TR v. 30.11.2004 (GK); NL 2004, 296.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.9.2009, Bsw. 8227/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 255) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_5/E.S..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise