JudikaturAUSL EGMR

Bsw61498/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Juni 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Al-Saadoon und Mufdhi gegen das Vereinigte Königreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 30.6.2009, Bsw. 61498/08.

Spruch

Art. 1 EMRK - Hoheitsgewalt der Besatzungstruppen im Irak.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK und Art. 6 EMRK sowie Art. 1 13. Prot. EMRK in Bezug auf das Verfahren vor dem Iraqi High Tribunal und auf die drohende Todesstrafe (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzungen von Art. 2 EMRK und Art. 3 EMRK in Zusammenhang mit den Haftbedingungen und drohenden Misshandlungen (einstimmig).

Verbindung der Frage der Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK und Art. 34 EMRK mit der Entscheidung in der Sache (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1. Zum politischen und rechtlichen Hintergrund:

Eine Koalitionsarmee unter der Führung der USA und mit Beteiligung des Vereinigten Königreichs begann am 20.3.2003 die Invasion des Irak. Nach Abschluss der Hauptkampfhandlungen im Mai 2003 wurde eine zivile Übergangsbehörde (Coalition Provisional Authority – CPA) unter der Leitung der USA gebildet, die vorläufig die Regierungsgewalt im Irak innehatte. Die vier südlichsten Provinzen des Irak wurden von britischen Truppen kontrolliert, die Letztentscheidungsgewalt lag jedoch beim US-amerikanischen Leiter der CPA.

Die am 8.6.2004 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete Resolution 1546 (2004) unterstützte die Bildung einer souveränen Interimsregierung des Irak, die spätestens am 30.6.2004 die volle Verantwortung und Autorität für die Regierung übernehmen sollte. Der Sicherheitsrat begrüßte es, dass ebenfalls spätestens am 30.6.2004 die Besetzung enden, die CPA zu bestehen aufhören und der Irak wieder seine uneingeschränkte Souveränität geltend machen werde und stellte fest, dass sich die Multinationalen Streitkräfte bis zur Übernahme der vollen Verantwortung für die Sicherheit durch irakische Sicherheitskräfte auf Ersuchen der designierten Interimsregierung im Irak befinden würden.

Die Besetzung wurde am 28.6.2004 beendet, als die gesamte Regierungsgewalt der CPA auf die neue irakische Interimsregierung überging und die CPA aufgelöst wurde.

Im August 2004 führte die Irakische Nationalversammlung die von den Besatzungstruppen ausgesetzte Todesstrafe wieder ein. Im Oktober 2005 wurde das Iraqi High Tribunal (IHT) eingerichtet, dem unter anderem die Zuständigkeit für die Aburteilung von zwischen 17.7.1968 und 1.5.2003 begangenen Kriegsverbrechen eingeräumt wurde.

Mit Resolution 1790 (2007) wurde das Mandat der Multinationalen Streitkräfte zum letzten Mal bis 31.12.2008 verlängert.

2. Zum Schicksal der beiden Bf.:

Die beiden Bf. wurden am 30.4. bzw. 21.11.2003 von britischen Truppen in Basra wegen des Verdachts festgenommen, Anschläge gegen die Besatzungstruppen organisiert zu haben. Außerdem wurde ihnen die Tötung zweier britischer Soldaten zur Last gelegt, die im April 2003 in einem Hinterhalt erschossen worden waren. Nachdem sie anfänglich durch die US-Armee angehalten worden waren, wurden sie am 15.12.2003 in eine Internierungsanstalt der britischen Truppen verlegt.

Im Dezember 2005 wurden die Verfahren gegen die beiden Bf. betreffend die Tötung der beiden Soldaten von den britischen Besatzungstruppen an die irakischen Strafgerichte abgetreten. (Anm.: Das CPA-Memorandum Nr. 3 (revidierte Fassung) vom 27.6.2004 ermächtigte die nationalen Truppenkontingente, Personen festzunehmen, die strafbarer Handlungen verdächtigt wurden. Diese waren den irakischen Behörden zu übergeben, sobald dies praktisch durchführbar war.) Am 18.5.2006 erließ das Strafgericht Basra einen Haftbefehl gegen beide Bf. und gestattete ihre fortgesetzte Anhaltung durch die britischen Truppen. (Anm.: Laut einer vom britischen Truppenkontingent und der irakischen Regierung am 8.11.2004 unterzeichneten Absichtserklärung konnten die irakischen Behörden aus Sicherheits- und Kapazitätsgründen die britischen Truppen ersuchen, Personen in deren Einrichtungen anzuhalten. Die rechtliche Autorität über diese Personen verblieb in diesem Fall bei der irakischen Regierung.) Da den Bf. Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, entschied das Strafgericht Basra, die Verfahren an das IHT abzutreten.

Das IHT verlangte zwischen Dezember 2007 und Mai 2008 wiederholt die Übergabe der beiden Bf. in seine Obhut. Das britische Truppenkontingent verweigerte dies aufgrund der ungeklärten Frage, ob es dazu völkerrechtlich verpflichtet wäre.

Im Juni 2008 strengten die Bf. in England ein Verfahren an, mit dem sie die Rechtmäßigkeit ihrer in Aussicht genommenen Übergabe an das IHT anfochten. Die Regierung gab daraufhin die Zusicherung ab, die Bf. bis zum Abschluss dieses Verfahrens nicht an die irakischen Behörden zu übergeben.

Der Divisional Court erklärte die geplante Übergabe der Bf. an das IHT in seinem Urteil vom 19.12.2008 für rechtmäßig. Das Gericht stellte fest, dass sich die Bf. im Sinne von Art. 1 EMRK unter der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs befänden, aber keine Menschenrechtsverletzungen drohen würden, welche die Regierung von ihrer völkerrechtlichen Pflicht befreien könnten, die beiden Bf. an die irakischen Behörden zu übergeben.

Der von den Bf. angerufene Court of Appeal wies die Berufung am 30.12.2008 mit der Begründung ab, das Vereinigte Königreich übe keine Hoheitsgewalt über die Bf. aus, die es nur als Organ der irakischen Gerichte anhalte. Es liege daher nicht in der Entscheidungsgewalt des Vereinigten Königreichs, die Bf. anzuhalten, freizulassen oder an die irakischen Behörden zu übergeben.

Ein weiteres Rechtsmittel an das House of Lords wurde von diesem am 16.2.2009 für unzulässig erklärt.

Kurz nachdem der EGMR am 30.12.2008 über das Urteil des Court of Appeal informiert worden war, forderte er die britische Regierung nach Art. 39 VerfO EGMR auf, die Bf. bis auf Weiteres in Gewahrsam zu behalten. Am folgenden Tag wurden sie in die Obhut der irakischen Behörden übergeben, die sie seither im Rusafa-Gefängnis in Bagdad anhalten. Ihr Strafverfahren vor dem IHT ist noch anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, ihre Übergabe in die Obhut des Irak habe eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 34 EMRK (Individualbeschwerderecht) und von Art. 1 13. Prot. EMRK (Abschaffung der Todesstrafe) begründet.

Zur Hoheitsgewalt (jurisdiction):

Die Bf. behaupten, sie seien während ihrer Anhaltung bis zur Übergabe an die irakischen Gerichte am 31.12.2008 im Sinne von Art. 1 EMRK unter die Hoheitsgewalt (jurisdiction) des Vereinigten Königreichs gefallen.

Art. 1 EMRK begrenzt vor allem die territoriale Reichweite der Konvention. Die von den Vertragsstaaten übernommene Verpflichtung beschränkt sich darauf, den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK genannten Rechte und Freiheiten zuzusichern. Die Konvention regelt weder die Handlungen von Staaten, die ihr nicht beigetreten sind, noch bezweckt sie, die Vertragsstaaten dazu zu verpflichten, anderen Staaten die Konventionsstandards aufzuerlegen.

Der grundsätzlich territorialen Auffassung von Hoheitsgewalt entsprechend hat der GH nur in außergewöhnlichen Fällen anerkannt, dass Handlungen der Vertragsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort Auswirkungen haben, eine Ausübung ihrer Hoheitsgewalt iSv. Art. 1 EMRK darstellen können. Ein Beispiel dafür war der Fall Drozd und Janousek/F und E, in dem der GH anerkannte, dass die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten im Prinzip durch Handlungen ihrer Behörden (bzw. Richter) begründet werden kann, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen wurden oder dort Wirkungen zeitigten. Weiters hat der GH festgestellt, dass eine Verpflichtung eines Konventionsstaates nach Art. 1 EMRK zur Gewährleistung der Konventionsrechte bestehen kann, wenn er infolge einer – rechtmäßigen oder rechtswidrigen – Militäraktion eine effektive Kontrolle über ein außerhalb seines nationalen Territoriums gelegenes Gebiet ausübt. Weitere anerkannte Fälle einer extraterritorialen Ausübung von Hoheitsgewalt durch einen Staat betreffen etwa die Handlungen seiner diplomatischen oder konsularischen Vertreter oder Handlungen an Bord von Flugzeugen und Schiffen, die in diesem Staat registriert sind. In diesen besonderen Fällen liegt es auf der Hand, dass das Völkergewohnheitsrecht sowie Vertragsklauseln die extraterritoriale Ausübung von Hoheitsgewalt seitens des jeweiligen Staates anerkannt haben.

Die Bf. wurden am 30.4. bzw. 21.11.2003 von britischen Streitkräften im Südirak festgenommen. Im Dezember 2003 wurden sie von einer Haftanstalt der US-Armee in eine Einrichtung der britischen Truppen überstellt. Bis zu ihrer Übergabe an die irakischen Behörden am 31.12.2008 blieben sie in verschiedenen Haftanstalten des Vereinigten Königreichs.

Während der ersten Monate der Anhaltung der Bf. war das Vereinigte Königreich im Irak eine Besatzungsmacht. Die beiden von den Briten betriebenen Haftanstalten, in denen die Bf. festgehalten wurden, wurden in Ausübung militärischer Gewalt auf irakischem Hoheitsgebiet errichtet. Die vom Vereinigten Königreich über die angehaltenen Personen ausgeübte Kontrolle und Befehlsgewalt resultierte anfänglich nur aus der Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt. Später fand diese de facto-Kontrolle des Vereinigten Königreichs über diese Einrichtungen rechtlichen Niederschlag. Insbesondere sah eine Anordnung der CPA vor, dass alle Einrichtungen der Multinationalen Streitkräfte unverletzlich waren und deren ausschließlicher Kontrolle und Befehlsgewalt unterstanden. Diese Bestimmung blieb bis 31.12.2008, 24:00 Uhr, in Kraft.

Angesichts der vom Vereinigten Königreich de facto und später auch de jure ausgeübten völligen und ausschließlichen Kontrolle über die fraglichen Einrichtungen befanden sich die darin angehaltenen Personen, einschließlich der Bf., nach Ansicht des GH in der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs.

Die Bf. blieben bis zu ihrer physischen Übergabe an die irakischen Behörden am 31.12.2008 in der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs. Die Frage, ob das Vereinigte Königreich rechtlich verpflichtet war, die Bf. in die Obhut des Irak zu übergeben und ob diese Verpflichtung gegebenenfalls eine den Bf. nach der EMRK geschuldete Verpflichtung änderte oder verdrängte, ist für die Frage der Jurisdiktion unerheblich. Dieser Punkt ist vielmehr in Zusammenhang mit der Prüfung der Beschwerde in der Sache zu berücksichtigen.

Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 2 und Art. 3 EMRK hinsichtlich der Haftbedingungen im Rusafa-Gefängnis:

Die Bf. bringen vor, sie würden im Rusafa-Gefängnis misshandelt oder getötet werden.

Wie der GH feststellt, erhoben die Bf. keine Berufung gegen die Feststellung des Divisional Court betreffend die Haftbedingungen im Rusafa-Gefängnis und die dort drohende Gefahr einer Misshandlung. Die Gefahr einer außergerichtlichen Tötung wurde weder vor dem Divisional Court noch vor dem Court of Appeal geltend gemacht. Diese Teile der Beschwerde sind daher wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig (einstimmig).

Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 2, Art. 3 und Art. 6 EMRK sowie Art. 1 13. Prot. EMRK hinsichtlich des Verfahrens vor dem IHT und der drohenden Todesstrafe:

Die Bf. behaupten, es hätten zum Zeitpunkt ihrer Übergabe an die irakischen Behörden stichhaltige Gründe für die Annahme einer für sie bestehenden realen Gefahr vorgelegen, vom IHT nach einem unfairen Verfahren zum Tod verurteilt und mittels Hängens exekutiert zu werden.

Dieser Teil der Beschwerde wirft schwerwiegende Rechts- und Tatsachenfragen auf, die so komplex sind, dass sie eine Prüfung in der Sache erfordern. Da sie daher nicht offensichtlich unbegründet ist und auch kein anderer Unzulässigkeitsgrund vorliegt, ist die Beschwerde in dieser Hinsicht für zulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 und Art. 34 EMRK:

Die Bf. behaupten, ihre entgegen einer vom GH nach Art. 39 VerfO EGMR empfohlenen einstweiligen Maßnahme erfolgte physische Übergabe an die irakischen Behörden habe Art. 34 EMRK verletzt. Da das House of Lords zu diesem Zeitpunkt noch nicht über ihr Rechtsmittel entschieden hatte, läge außerdem eine Verletzung von Art. 13 EMRK vor.

Die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 13 und Art. 34 EMRK steht in engem Zusammenhang mit der Begründetheit der Beschwerde. Sie wird daher mit der Entscheidung in der Sache verbunden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Drozd und Janousek/F und E v. 26.6.1992, A/240, NL 1992/4, 14.

Loizidou/TR (Verfahrensfragen) v. 23.3.1995 (GK), A/310, NL 1995, 83; ÖJZ 1995, 629.

Vladimir und Borka Bankovic u.a./B und 16 andere NATO-Staaten v. 12.12.2001 (ZE), NL 2002, 48; EuGRZ 2002, 133.

Ilascu u.a./MD und RUS v. 8.7.2004 (GK), NL 2004, 174.

Issa u.a./TR v. 16.11.2004, NL 2004, 286.

Mamatkulov und Askarov/TR v. 4.2.2005 (GK), NL 2005, 23; EuGRZ 2005, 357.

Öcalan/TR v. 12.5.2005 (GK), NL 2005, 117; EuGRZ 2005, 463.

Bosphorus Airways/IRL v. 30.6.2005 (GK), NL 2005, 172; EuGRZ 2007, 662.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 30.6.2009, Bsw. 61498/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 196) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Al-Saadoon.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise