Bsw12157/05 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Liivik gegen Estland, Urteil vom 25.6.2009, Bsw. 3545/04.
Spruch
Art. 7 EMRK - Verurteilung aufgrund unklaren Tatbestands.
Verletzung von Art. 7 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzungen von Art. 6 EMRK, Art. 13 EMRK und Art. 17 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,- für immateriellen Schaden, € 9.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. war Generaldirektor der estnischen Privatisierungsagentur, die für die Durchführung der Privatisierung der estnischen Eisenbahngesellschaft ER verantwortlich war. Am 30.4.2001 unterzeichnete er im Namen der Republik Estland einen Vertrag mit dem Unternehmen Baltic Rail Services (BRS) über die Privatisierung.
Da mögliche Ansprüche der Firma AS Valga Külmvagunite Depoo gegen ER im Raum standen, aber bis zur Unterzeichnung des Privatisierungsvertrags nicht geklärt werden konnten, enthielt dieser eine Klausel, wonach der Staat unter bestimmten Voraussetzungen die Haftung für diese Ansprüche übernehmen würde. Für den Fall, dass bei Streitigkeiten über etwaige geltend gemachte Forderungen keine Einigung erzielt würde, sah der Vertrag ein beiderseitiges Rücktrittsrecht vor. Im August 2001 unterzeichnete der Bf. ein Zusatzübereinkommen, mit dem eine weitere staatliche Haftung für mögliche Ansprüche von AS Valga Külmvagunite Depoo garantiert wurde.
Das Privatisierungsabkommen enthielt auch eine Haftungserklärung, wonach die Republik Estland BRS für etwaige Ansprüche aus einem durch ER vor der Privatisierung abgeschlossenen Vertrag über den Erwerb fünf russischer Lokomotiven entschädigen würde.
Im Juli 2001 forderte der staatliche Rechnungshof die Staatsanwaltschaft auf, ein Strafverfahren gegen den Bf. einzuleiten, weil dieser bei der Übernahme finanzieller Verpflichtungen des Staates seine Befugnisse in rechtswidriger Weise überschritten hätte. Nachdem die Staatsanwaltschaft zunächst keinen Grund für eine strafrechtliche Verfolgung des Bf. gesehen hatte, leitete sie im September 2001 doch Ermittlungen gegen ihn ein. Im März 2003 wurde Anklage nach § 161 des Strafgesetzbuchs erhoben (Anm.: Gemäß § 161 des Strafgesetzbuchs wird absichtlicher Missbrauch eines Amtes mit Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet, wenn dadurch den nationalen Interessen „erheblicher Schaden" zugefügt wurde. Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 6.6.2000 ist darunter sowohl materieller als auch immaterieller Schaden zu verstehen.).
Am 30.1.2004 wurde der Bf. vom Stadtgericht Tallinn zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nach Ansicht des Gerichts hatte der Bf. durch die ohne rechtliche Grundlage eingegangenen staatlichen Haftungsgarantien die finanziellen Interessen der Republik Estland sowie die Autorität der Privatisierungsagentur geschädigt. Dass die Haftung nie schlagend geworden war (und aufgrund der Vertragsbedingungen auch nicht mehr eintreten konnte), änderte daran nichts.
Das Berufungsgericht Tallinn bestätigte am 13.4.2004 die erstinstanzliche Verurteilung. Begründend stellte es fest, die Handlungen des Bf. hätten dem „allgemeinen Rechtsempfinden" widersprochen. Durch seine rechtswidrigen Handlungen hätte er Zweifel an der Rechtmäßigkeit und Zuverlässigkeit der Aktivitäten der Privatisierungsagentur hervorgerufen und damit die staatliche Autorität in der Gesellschaft sowie das Ansehen Estlands als Vertragspartner auf internationaler Ebene geschmälert. Diese Handlungen hätten daher den staatlichen Interessen erheblichen moralischen Schaden zugefügt.
Ein weiteres Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof wurde nicht zugelassen.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:
Der Bf. bringt vor, er sei auf der Grundlage unklarer und unverständlicher Bestimmungen verurteilt worden.
Art. 7 EMRK enthält den Grundsatz, dass nur das Gesetz eine Straftat definieren und eine Strafe vorschreiben kann. Daraus folgt auch, dass das Strafrecht nicht zum Nachteil des Angeklagten extensiv, etwa im Wege der Analogie, ausgelegt werden darf. Der Einzelne muss aus dem Wortlaut der relevanten Bestimmung und, falls nötig, unter Zuhilfenahme der gerichtlichen Auslegung derselben vorhersehen können, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.
Der GH hat anerkannt, dass auch das Strafrecht ein unvermeidbares Element der gerichtlichen Interpretation enthält. Art. 7 EMRK kann nicht dahingehend interpretiert werden, dass er die schrittweise Klärung strafrechtlicher Bestimmungen durch gerichtliche Auslegung von Fall zu Fall ausschließt, solange das Ergebnis dieser Entwicklung vorhersehbar und mit dem Wesen der Straftat vereinbar ist.
Im vorliegenden Fall beruhte die Verurteilung auf § 161 Strafgesetzbuch und damit auf dem zur damaligen Zeit anwendbaren Strafrecht. Der Bf. wurde wegen des Herbeiführens einer Situation verurteilt, in der das staatliche Vermögen gefährdet war, weil dies als erheblicher Schaden angesehen wurde, obwohl sich die Gefahr nie materialisiert hatte. Außerdem wurde festgestellt, dass er den Interessen des Staates erheblichen moralischen Schaden zugefügt habe, da seine Handlungen dem „allgemeinen Rechtsempfinden" widersprochen hätten.
Nach dem Wortlaut von § 161 war die Verursachung „erheblichen Schadens" ein notwendiges Element des Tatbestands des Amtsmissbrauchs. Das bloße Herbeiführen einer Gefahr wird im Text der Bestimmung nicht als ein solcher Schaden definiert. Zwar qualifizierte der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil vom 6.6.2000 das Herbeiführen einer Gefahr als Schaden, doch wurden keine Kriterien für die Einschätzung einer solchen Gefahr entwickelt. Überdies war der Bf. dazu verpflichtet, die Privatisierung der Eisenbahngesellschaft durchzuführen, wobei er die damit verbundenen wirtschaftlichen Risiken abwägen musste. Der Bf. konnte nicht vorhersehen, dass seine Handlungen als Herbeiführung eines erheblichen Schadens iSv. § 161 (wegen der behaupteten Schaffung der Gefahr eines Schadens) erachtet würden.
Was die behauptete Verursachung erheblichen moralischen Schadens betrifft, stellt der GH fest, dass diese Einschätzung von den Gerichten rückwirkend anhand ihres eigenen Ermessens getroffen wurde und keinem Beweis zugänglich war. Die Versuche des Bf., das Gegenteil zu beweisen, wurden von den Gerichten abgelehnt. Offensichtlich diente die Tatsache einer behaupteten Rechtsverletzung durch den Bf. für sich alleine als unwiderlegbare Vermutung für die Verursachung einer moralischen Schädigung der Interessen des Staates. Bei einer so weiten Auslegung kann im Grunde jede Rechtsverletzung als strafbare Handlung nach § 161 angesehen werden. Überdies müsste jeder solche Schaden als „erheblich" eingestuft werden. Die Kriterien, die von den Gerichten zur Feststellung herangezogen wurden, dass der Bf. „erheblichen" immateriellen Schaden verursacht hatte, waren zu vage. Er konnte daher nicht vorhersehen, dass ihm eine Anklage und Verurteilung wegen der Verursachung erheblichen moralischen Schadens für die Interessen des Staates drohte.
Die Auslegung und Anwendung von § 161 brachte die Verwendung derart weiter Begriffe und so vager Kriterien mit sich, dass diese Bestimmung nicht der von der Konvention geforderten Klarheit und Vorhersehbarkeit ihrer Konsequenzen entsprach.
Wie der GH überdies feststellt, änderte die Staatsanwaltschaft ihren Standpunkt binnen weniger Tage völlig, ohne dass sich die Umstände wesentlich geändert hätten. Auch wenn die Staatsanwaltschaft nicht an ihre ursprüngliche Entscheidung, keine Strafverfolgung einzuleiten, gebunden war, deutet doch auch diese radikale Änderung der Auslegung des innerstaatlichen Rechts auf dessen mangelnde Klarheit und Vorhersehbarkeit hin.
Der GH nimmt außerdem zur Kenntnis, dass sowohl das Parlament als auch der Oberste Gerichtshof – wenn auch erst nach der Verurteilung des Bf. – die Vereinbarkeit von § 161 mit der Verfassung und der EMRK in Frage stellten.
Da somit nicht vorhersehbar war, dass die Handlungen des Bf. eine strafbare Handlung nach dem damals anwendbaren Strafrecht begründen würden, liegt eine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6, Art. 13 und Art. 17 EMRK:
Angesichts der Feststellungen unter Art. 7 EMRK erübrigt sich eine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6, Art. 13 und Art. 17 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 5.000,– für immateriellen Schaden, € 9.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Kokkinakis/GR v. 25.5.1993, A/260-A, NL 1993/4, 19; ÖJZ 1994, 59.
S. W./GB v. 22.11.1995, A/335-B, NL 1995, 223; ÖJZ 1996, 356.
Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.
Achour/F v. 29.3.2006 (GK), NL 2006, 81.
Kafkaris/CYP v. 12.2.2008 (GK), NL 2008, 24.
Korbely/H v. 19.9.2008 (GK), NL 2008, 262.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.6.2009, Bsw. 12157/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 167) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Liivik.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.