JudikaturAUSL EGMR

Bsw39311/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. April 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Karakó gegen Ungarn, Urteil vom 28.4.2009, Bsw. 39311/05.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 10 EMRK - Guter Ruf kein Bestandteil des Privatlebens.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK, Art. 10 EMRK und Art. 13 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Mitglied des ungarischen Parlaments. Bei den Parlamentswahlen 2002 kandidierte er in einem der Wahlkreise des Komitats Szabolcs-Szatmár-Bereg. Im Zuge des Wahlkampfs wurde ein Flugblatt im Wahlbezirk des Bf. verteilt, das von L. H., dem Vorsitzenden der Komitatsversammlung, unterzeichnet war. Darin wurde dem Bf. vorgeworfen, als Mitglied der Komitatsversammlung „regelmäßig gegen die Interessen des Komitats und seines Wahlkreises gestimmt zu haben".

Am 15.5.2002 erstattete der Bf. beim Amtsgericht Nyíregyháza Anzeige gegen L. H. wegen übler Nachrede. Das Gericht leitete die Anzeige im April 2004 an die Staatsanwaltschaft weiter, die das Verfahren im Mai 2004 einstellte. Ihrer Ansicht nach lag kein Offizialdelikt vor, da die umstrittene Äußerung vor der Wahl gefallen war und der Bf. als Kandidat nicht als Amtsträger betrachtet werden hätte können. Das gegen die Einstellung erhobene Rechtsmittel wurde von der Generalprokuratur abgewiesen.

Die daraufhin vom Bf. erhobene Privatanklage gegen L. H. wurde am 2.5.2005 vom Amtsgericht Nyíregyháza abgewiesen. Das Gericht qualifizierte die umstrittene Äußerung als Werturteil, bei dem die Grenzen der von einem Politiker hinzunehmenden Kritik weiter seien. Gegen diese Entscheidung stand kein Rechtsmittel offen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens) durch die Weigerung der Behörden, die Äußerung seines politischen Kontrahenten strafrechtlich zu ahnden.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, der Bf. habe den innerstaatlichen Instanzenzug nicht erschöpft, da er keine zivilrechtliche Schadenersatzklage gegen L. H. eingebracht hätte.

Wie der GH feststellt, erhob der Bf. Privatanklage gegen L. H. wegen übler Nachrede. Stehen mehrere Rechtsbehelfe zur Verfügung, muss der Bf. nicht mehr als einen ergreifen. Es kann daher vom Bf. nicht verlangt werden, einen weiteren Rechtsweg in Form einer zivilrechtlichen Klage zu beschreiten. Da der Bf. daher den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat, ist die Einrede der Regierung zurückzuweisen und die Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK für zulässig zu erklären (einstimmig).

Was die behaupteten Verletzungen von Art. 6, Art. 10 und Art. 13 EMRK betrifft, ist die Beschwerde für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der vom Bf. behauptete Konflikt zwischen Art. 8 und Art. 10 EMRK in Angelegenheiten des Schutzes des guten Rufs besteht nur dem Anschein nach. Die Annahme eines solchen Konflikts würde zu einer Situation führen, in der – wenn sowohl der gute Ruf als auch die Meinungsäußerungsfreiheit berührt sind – das Ergebnis der Prüfung des GH davon abhängen würde, welche der angeblich widerstreitenden Bestimmungen vom Bf. geltend gemacht wurde.

Die Behauptung des Bf., die Behörden hätten es verabsäumt, sein Recht auf Achtung des Privatlebens zu schützen, beruht auf der Annahme, das Recht auf den guten Ruf sei ein eigenständiges, von Art. 8 EMRK geschütztes Recht und den Staat treffe eine positive Verpflichtung, dieses zu schützen.

Es ist wichtig, hinsichtlich der positiven Verpflichtung des Staates zum Schutz des Privatlebens einen zurückhaltenden Ansatz anzuwenden, und notwendig, die Vielfalt der möglichen Methoden zu seiner Achtung anzuerkennen. Die Art der Verpflichtung des Staates hängt davon ab, welcher Aspekt des Privatlebens betroffen ist. Die Wahl der auf die Einhaltung dieser Verpflichtung abzielenden Maßnahmen fällt in den Ermessensspielraum der Staaten. Als Mindestanforderung verlangt der GH das Bestehen eines wirksamen Rechtssystems zum Schutz der Rechte, die unter den Begriff „Privatleben" fallen. Im vorliegenden Fall stand dem Bf. ein solches System zur Verfügung.

In Fällen, in denen eine Verletzung der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte geltend gemacht und der behauptete Eingriff in diese Rechte durch eine Meinungsäußerung begründet wird, muss der vom Staat gewährte Schutz dessen Verpflichtungen unter Art. 10 EMRK berücksichtigen. Es ist diese Bestimmung, die von den Verfassern der Konvention dafür entworfen wurde, in Hinblick auf die Meinungsäußerungsfreiheit eine Anleitung zu bieten.

Der GH erinnert daran, dass „Privatleben" auch die persönliche Identität umfasst und sich der Schutz des Privatlebens, dem Urteil Von Hannover/D zufolge, auch auf den Schutz der persönlichen Integrität erstreckt.

Zur Frage, ob der Begriff „Privatleben" auch auf den guten Ruf erstreckt werden sollte, stellt der GH fest, dass die Verweise auf die persönliche Integrität im Urteil Von Hannover/D eine klare, im Privat- und Verfassungsrecht einiger Mitgliedstaaten allgegenwärtige Unterscheidung zwischen persönlicher Integrität und gutem Ruf widerspiegeln, die auf unterschiedliche rechtliche Weise geschützt werden. Der gute Ruf wird im Recht verschiedener Mitgliedstaaten traditionell durch das Ehrenbeleidigungsrecht als Angelegenheit geschützt, die in erster Linie finanzielle Interessen oder gesellschaftlichen Status betrifft.

In den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fallende Rechte der persönlichen Integrität stehen nach Ansicht des GH in keinem Zusammenhang zur äußeren Einschätzung der Person, während diese Einschätzung hinsichtlich des guten Rufs entscheidend ist; man kann sein gesellschaftliches Ansehen – vielleicht zu Recht – verlieren, aber nicht seine Integrität, die unveräußerlich bleibt. In der Rechtsprechung des GH wurde der gute Ruf nur vereinzelt als eigenständiges Recht behandelt (Petrina/RO; Armoniene/LT), meist wenn die Tatsachenbehauptungen so schwerwiegend anstößig waren, dass ihre Veröffentlichung unweigerlich direkte Auswirkungen auf das Privatleben des Bf. hatte. Im vorliegenden Fall begründete die umstrittene Veröffentlichung keinen Eingriff in das Privatleben, der derart schwerwiegend gewesen wäre, dass er die persönliche Integrität des Bf. untergraben hätte. Nur der gute Ruf des Bf. stand daher im Zusammenhang mit einer angeblich zu seinem Nachteil getätigten Meinungsäußerung auf dem Spiel.

Art. 10 Abs. 2 EMRK anerkennt, dass die Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz des guten Rufs eingeschränkt werden darf. Mit anderen Worten sieht die Konvention selbst vor, dass Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit im Rahmen von Art. 10 EMRK zu bestimmen sind.

Die Art. 10 EMRK innewohnende Logik, also die spezielle Regel in seinem Abs. 2, schließt daher nach Ansicht des GH die Möglichkeit eines Konflikts mit Art. 8 EMRK aus. Der Ausdruck „die Rechte anderer" in Art. 8 EMRK schließt das Recht auf persönliche Integrität mit ein und dient als Grund für die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit, sofern der dem Schutz des guten Rufs dienende Eingriff verhältnismäßig ist.

Daraus folgt, dass der GH ungeachtet der Behauptung einer Verletzung von Art. 8 EMRK prüfen muss, ob die Grundsätze des Art. 10 EMRK von den ungarischen Behörden angemessen angewendet wurden.

Die umstrittene Äußerung wurde als Werturteil qualifiziert. Die Gerichte berücksichtigten, dass der Bf. Politiker war und die Äußerung im Zuge des Wahlkampfs fiel. Daher erachteten sie diese als geschützte Meinungsäußerung. Der GH ist überzeugt, dass diese Entscheidung im Einklang mit den Standards der Konvention steht.

Die Behauptung des Bf., sein Ansehen als Politiker sei geschädigt worden, ist daher kein vertretbarer Anspruch hinsichtlich des Schutzes seines Rechts auf Achtung der persönlichen Integrität unter Art. 8 EMRK. Eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit um des Schutzes des Ansehens des Bf. willen wäre im vorliegenden Fall unverhältnismäßig unter Art. 10 EMRK gewesen. Der GH stellt daher fest, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richterin Jociene).

Vom GH zitierte Judikatur:

Von Hannover/D v. 24.6.2004, NL 2004, 144; EuGRZ 2004, 404; ÖJZ 2005, 588.

Pfeifer/A v. 15.11.2007, NL 2007, 307; ÖJZ 2008, 161.

Petrina/RO v. 14.10.2008, NL 2008, 287.

Armoniene/LT v. 25.11.2008, NL 2008, 345.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.4.2009, Bsw. 39311/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 107) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_2/Karako.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise