Bsw42967/98 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Löffelmann gegen Österreich, Urteil vom 12.3.2009, Bsw. 42967/98.
Spruch
Art. 4 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 14 EMRK - Keine Befreiung von Militär- und Zivildienst für Zeugen Jehovas.
Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 4 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 10.698,53 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist aktives Mitglied der Zeugen Jehovas. Er war zunächst als Prediger tätig, später wurde er Diakon.
Er trat seinen Militärdienst am 3.7.1995 zunächst an, brach diesen aber aus gesundheitlichen Gründen ab, nachdem er vom Militärarzt für untauglich befunden worden war. Am 28.9.1995 erhielt der Bf. einen Stellungsbescheid des Militärkommandos Niederösterreich, in dem er zu einer neuerlichen Bewertung seiner Tauglichkeit aufgefordert wurde. Der Bf. erhob Berufung gegen diese Anordnung. Er forderte, vom Militärdienst befreit zu werden, da er innerhalb der Zeugen Jehovas eine Stellung bekleide, die jener von Mitgliedern anerkannter Religionsgesellschaften entspreche, welche nach § 24 Abs. 3 Wehrgesetz keinen Militärdienst abzuleisten hätten. (Anm.: Nach § 13a Abs. 1 Zivildienstgesetz 1986 und § 24 Abs. 3 Wehrgesetz 1990 sind ausgeweihte Priester, Personen, die aufgrund absolvierter theologischer Studien im Seelsorgedienst oder in einem geistlichen Lehramt tätig sind, Ordenspersonen, die die ewigen Gelübde abgelegt haben, und Studierende der Theologie, die sich auf ein geistliches Amt vorbereiten, vom Zivil- bzw. Militärdienst befreit, soweit sie einer gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft angehören.) Die Privilegierung von Anhängern anerkannter Religionsgesellschaften sei seiner Ansicht nach verfassungswidrig. Der Bundesminister für Landesverteidigung wies die Berufung jedoch ab. Eine Beschwerde an den VfGH, die Wortfolge „gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaft" aus § 24 Abs. 3 Wehrgesetz zu streichen, sowie eine Beschwerde an den VwGH blieben ebenfalls ohne Erfolg.
Am 14.5.1998 erhielt der Bf. einen neuerlichen Stellungsbescheid. Seine in der Folge erhobene Beschwerde an den VfGH wurde wiederum abgewiesen. Der Bf. gab daraufhin eine Zivildiensterklärung ab und leistete seinen Zivildienst von 1.2.1999 bis 31.1.2000 in einer Sozialeinrichtung.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen Rechtsausführungen:
Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) allein und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und von Art. 4 EMRK (Verbot der Zwangsarbeit) in Verbindung mit Art. 14 EMRK.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 iVm. Art. 14 EMRK:
Der Bf. behauptet, die Tatsache, dass er nicht vom Zivil- bzw. Militärdienst befreit wurde, obwohl er innerhalb der Zeugen Jehovas Funktionen bekleidete, die bei Mitgliedern anerkannter Religionsgesellschaften eine Befreiung rechtfertigen, stelle eine Diskriminierung aufgrund seiner Religion dar.
Art. 14 EMRK kann für sich allein nicht angewendet werden, sondern setzt voraus, dass die Tatsachen des jeweiligen Einzelfalls in den Anwendungsbereich eines oder mehrerer der in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten fallen.
Art. 9 EMRK schützt unter anderem das Recht, sich zu einem religiösen Glauben zu bekennen und diesen privat oder öffentlich auf verschiedene Weise auszuüben. Nach Ansicht des GH zeigt das den Geistlichen einer Religionsgesellschaft gewährte Privileg, vom Militär- bzw. Zivildienst befreit zu sein, die Bedeutung, die die Gesetzgebung der Funktion dieser Repräsentanten religiöser Gruppen innerhalb ihrer Gemeinschaft beimisst. Religiöse Gemeinschaften weisen traditionellerweise organisierte Strukturen auf. Der GH hat bereits wiederholt befunden, dass deren selbständiges Bestehen für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar ist und deshalb in den Kernbereich von Art. 9 EMRK fällt.
Da die Befreiung vom Militär- bzw. Zivildienst dazu gedacht war, das ordentliche Funktionieren religiöser Gruppen als Gemeinschaft zu sichern, und damit ein Ziel des Art. 9 EMRK verfolgte, fällt dieses Privileg in den Anwendungsbereich besagter Konventionsnorm. Damit ist auch Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK im konkreten Fall anwendbar.
Eine unterschiedliche Behandlung ist dann diskriminierend iSv. Art. 14 EMRK, wenn es dafür keine objektive und begründete Rechtfertigung gibt, wenn damit also kein legitimes Ziel verfolgt wird oder keine Verhältnismäßigkeit zwischen den ergriffenen Maßnahmen und den verfolgten Zielen besteht. Bei der Beurteilung, ob und in welchem Ausmaß Unterschiede in ansonsten gleichen Situationen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, kommt den Vertragsstaaten aber ein gewisser Ermessensspielraum zu.
Wie im vorliegenden Fall festzustellen ist, gilt die Befreiung vom Militär- bzw. Zivildienst nach § 24 Abs. 3 Wehrgesetz und § 13a Abs. 1 Zivildienstgesetz ausschließlich für Mitglieder anerkannter Religionsgesellschaften, die spezielle Aufgaben wie Gottesdienste oder religiöse Erziehung erfüllen. Der Bf. gab an, als Mitglied der Zeugen Jehovas gleichartige Dienste zu verrichten. Die Zeugen Jehovas waren zur relevanten Zeit aber lediglich eine eingetragene Religionsgemeinschaft und keine Religionsgesellschaft und deshalb auch nicht von den gesetzlichen Privilegien erfasst.
Die Regierung bestreitet eine Diskriminierung des Bf., da die Mitgliedschaft in einer Religionsgesellschaft lediglich eine von mehreren Voraussetzungen für die Befreiung vom Militär- bzw. Zivildienst darstelle. Den GH überzeugt das Argument jedoch nicht, waren doch die Entscheidungen im nationalen Verfahren gerade auf das Fehlen dieses Kriteriums gestützt. Es bleibt zu untersuchen, ob die Unterschiede in der Behandlung zwischen dem Bf. und einer Person, die einer Religionsgesellschaft iSd. Gesetzes betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften 1874 (in der Folge: Anerkennungsgesetz 1874) angehört, auf einer objektiven und begründeten Rechtfertigung beruhen.
Der GH verweist an dieser Stelle auf den Fall Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A, der auf einer Beschwerde der Zeugen Jehovas in Österreich beruhte, welchen zwar die Stellung als eingetragene Religionsgemeinschaft zukam, die aber beabsichtigten, eine Religionsgesellschaft nach dem Anerkennungsgesetz 1874 und damit eine juristische Person öffentlichen Rechts zu werden. Der GH stellte in diesem Fall fest, dass Religionsgesellschaften in Österreich diverse Privilegien, darunter die Befreiung vom Militär- und Zivildienst, und somit erhebliche Vorteile genießen. Wenn ein Staat aber Regelungen zur rechtlichen Anerkennung von religiösen Gruppen erlässt und mit der Anerkennung derartige Vorteile gewährt, gebietet die dem Staat aus Art. 9 EMRK erwachsende Pflicht zur neutralen Ausübung behördlicher Befugnisse, dass alle religiösen Gruppen eine faire Möglichkeit zur Erlangung der Anerkennung haben und die dafür notwendigen Kriterien in nicht diskriminierender Weise angewendet werden. Im Fall der Zeugen Jehovas war jedoch ein Kriterium in willkürlicher Weise angewendet worden, weshalb der GH eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK feststellte.
Auch im vorliegenden Fall basierte die Weigerung, den Bf. vom Militär- bzw. Zivildienst zu befreien, auf dem Grund, dass dieser nicht Mitglied einer Religionsgesellschaft iSd. Anerkennungsgesetzes 1874 war. In Anbetracht der Erkenntnisse aus dem Urteil Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A ist der GH der Meinung, dass die Heranziehung dieser Voraussetzung unweigerlich zu einer von der Konvention verbotenen Diskriminierung führen muss.
Da § 24 Abs. 3 Wehrgesetz bzw. § 13a Abs. 1 Zivildienstgesetz eine Befreiung lediglich für Mitglieder anerkannter Religionsgesellschaften zulassen, sind sie diskriminierend. Durch ihre Anwendung hat eine Diskriminierung des Bf. aufgrund seiner Religion stattgefunden. Der GH stellt somit eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK fest (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:
Der Bf. rügt auch eine Verletzung von Art. 9 EMRK alleine. Da hier aber keine neuen Fragen aufgeworfen werden, hält der GH eine gesonderte Prüfung nicht für notwendig (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 4 EMRK:
In Anbetracht seiner Erkenntnisse hinsichtlich Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK sieht sich der GH auch unter diesem Beschwerdepunkt nicht veranlasst, eine gesonderte Prüfung vorzunehmen (einstimmig).
Entschädigung nach 41 EMRK:
€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 10.698,53 für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Hasan und Chaush/BG v. 26.10.2000 (GK), NL 2000, 216.
Willis/GB v. 11.6.2002, NL 2002, 107.
Leyla Sahin/TR v. 10.11.2005 (GK), NL 2005, 285; EuGRZ 2006, 28; ÖJZ 2006, 424.
Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a./A v. 31.7.2008, NL 2008, 232; ÖJZ 2008, 865.
Anm.: Vgl. auch die parallele Sachverhalte betreffenden Urteile Gütl gegen Österreich und Lang gegen Österreich.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.3.2009, Bsw. 42967/98, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 86) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/09_2/Loffelmann.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.