Bsw69917/01 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Saccoccia gegen Österreich, Urteil vom 18.12.2008, Bsw. 69917/01.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Keine mündliche Verhandlung in exequatur-Verfahren.
Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist Staatsbürger der USA. 1993 verurteilte ihn das Distriktsgericht Rhode Island wegen Geldwäsche zu einer Freiheitsstrafe und ordnete mit einer vorläufigen Beschlagnahmeverfügung den Verfall von Vermögenswerten des Bf. an. Nachdem die Rechtsmittel gegen die Verurteilung und die Beschlagnahmeverfügung abgewiesen worden waren, erließ das Distriktsgericht Rhode Island am 7.11.1997 eine endgültige Verfallsanordnung, die eine Summe von USD 136.000.000,– betraf, von denen sich USD 9.000.000,– auf den Bf. bezogen. Diese Summe umfasste unter anderem Bargeldbeträge und Inhaberobligationen in österreichischer Währung, die 1992 in Wien aufgrund eines Rechtshilfeersuchens des US-Gerichts beschlagnahmt worden waren. Die Wertpapiere und das Bargeld hatten sich in zwei vom Bf. angemieteten Schließfächern befunden.
Am 9.12.1997 stellte das Distriktsgericht Rhode Island ein Rechtshilfeersuchen, mit dem die österreichischen Behörden um Vollstreckung der Verfallsanordnung gebeten wurden, soweit sich diese auf Bargeldbeträge und Wertpapiere in Österreich bezog. Das LG für Strafsachen Wien ordnete am 12.3.1998 mittels einstweiliger Verfügung die Beschlagnahme von Vermögen des Bf. im Wert von etwa ATS 80.000.000,– (ca. € 5.800.000,–) zur Sicherung der Vollstreckung der rechtskräftigen Verfallsanordnung vom 7.11.1997 an. Das LG verwies auf das Ersuchen der US-Behörden und die Anhängigkeit eines Verfahrens nach dem Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz (ARHG). Der Bf. erhob eine Beschwerde gegen diese einstweilige Verfügung.
Am 1.8.1998 trat der Vertrag zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Rechtshilfe in Strafsachen in Kraft.
Am 12.10.1998 wies das OLG Wien die Beschwerde des Bf. als unbegründet ab. Das OLG stellte fest, dass gute Gründe für die Annahme bestünden, dass die Vermögenswerte für die Begehung einer Straftat erhalten wurden bzw. aus einer strafbaren Handlung stammten und daher der Abschöpfung der Bereicherung nach § 20 StGB bzw. dem Verfall nach § 20b StGB unterliegen würden.
Nachdem die US-Behörden ein weiteres, auf den Vertrag über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 1.8.1998 gestütztes Ersuchen gestellt hatten, fasste das LG für Strafsachen Wien am 14.6.2000, ohne eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den Beschluss, die Vollstreckung der Verfallsanordnung vom 7.11.1997 zu übernehmen und erklärte die beschlagnahmten Vermögenswerte des Bf. zugunsten der USA für verfallen. Dieser Beschluss wurde sowohl vom Bf. als auch von der Staatsanwaltschaft angefochten.
Am 7.10.2000 wies das OLG Wien die Beschwerde des Bf. in nicht öffentlicher Sitzung ab, änderte jedoch die Entscheidung des LG aufgrund der Beschwerde der Staatsanwaltschaft dahingehend ab, dass der Verfall zugunsten der Republik Österreich ausgesprochen wurde.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Der Bf. beschwert sich über das Fehlen einer öffentlichen Verhandlung im Verfahren über die Vollstreckung der Verfallsanordnung des Distriktsgerichts Rhode Island in Österreich.
1. Zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
In seiner Zulässigkeitsentscheidung vom 5.7.2007 (NL 2007, 178) stellte der GH fest, dass das Verfahren über die Vollstreckung der Verfallsanordnung zwar nicht in den strafrechtlichen, sehr wohl aber in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK falle.
Der GH sieht sich durch die Stellungnahme der Regierung, wonach Art. 6 EMRK nicht anwendbar sei, nicht veranlasst, von seiner in der Zulässigkeitsentscheidung vertretenen Meinung abzugehen, möchte aber folgende Überlegungen hinzufügen: Soweit Zivilprozesse vor innerstaatlichen Gerichten betroffen sind, erstreckt sich die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auch auf die Phase der Vollstreckung. Das Recht auf Zugang zu einem Gericht wäre illusorisch, würde es ein Rechtssystem erlauben, dass eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zum Nachteil einer Partei folgenlos bliebe. Der GH hat Art. 6 EMRK auch deshalb für anwendbar auf Exekutionsverfahren erklärt, weil die Entscheidung über einen zivilrechtlichen Anspruch in dem Moment begründet wird, in dem das zugesicherte Recht tatsächlich Wirksamkeit erlangt. Der GH sieht keinen Grund, in Hinblick auf exequatur-Verfahren, also Verfahren über die Vollstreckung der Entscheidung eines ausländischen Gerichts, zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Der GH bestätigt daher, dass das vorliegende Verfahren in den zivilrechtlichen Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt.
2. Zur Befolgung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
Das Recht auf eine öffentliche Verhandlung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK umfasst ein Recht auf eine mündliche Verhandlung, solange keine Umstände vorliegen, die ein Absehen davon rechtfertigen. Im vorliegenden Fall führte weder das LG für Strafsachen Wien noch das OLG Wien vor der Übernahme der Vollstreckung der Verfallsanordnung des Distriktsgerichts Rhode Island eine Verhandlung durch. § 67 ARHG sieht in Verfahren über die Vollstreckung ausländischer Entscheidungen keine Verhandlung vor. Dass der Bf. eine solche vor dem LG für Strafsachen Wien nicht beantragt hat, kann daher nicht als Verzicht ausgelegt werden. Zudem begehrte er in seiner Beschwerde an das OLG die Durchführung einer Verhandlung. Der GH muss daher prüfen, ob Umstände vorlagen, welche die Gerichte von der Pflicht zur Durchführung einer Verhandlung enthoben. Nach seiner Rechtsprechung kann eine Verhandlung entbehrlich sein, wenn keine Fragen der Glaubwürdigkeit oder umstrittene Tatsachen vorliegen.
Im vorliegenden Fall hatten die Gerichte zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des ARHG und des Vertrags über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 1.8.1998 für die Vollstreckung der Verfallsanordnung erfüllt waren. Zu prüfen waren Fragen der Gegenseitigkeit, ob die vom Bf. begangenen Handlungen zur Zeit ihrer Begehung nach österreichischem Recht strafbar waren, die Fristen eingehalten wurden und ob das Verfahren vor dem Distriktsgericht Rhode Island den Standards des Art. 6 EMRK entsprochen hatte.
Nach Ansicht des GH betraf das Verfahren eher technische Fragen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Geldwäsche durch die Vollstreckung ausländischer Verfallsanordnungen. Es wurden ausschließlich rechtliche Fragen eingeschränkter Natur aufgeworfen. Die österreichischen Gerichte mussten lediglich prüfen, ob die gesetzlichen bzw. vertraglichen Voraussetzungen für die Vollstreckung der Verfallsanordnung erfüllt waren. Eine Befragung von Zeugen oder eine mündliche Beweisaufnahme war nicht erforderlich. Auch eine persönliche Anhörung des Bf. war nach Ansicht des GH entbehrlich, da in dem Verfahren weder seine persönliche Glaubwürdigkeit noch andere Umstände eine Rolle spielten, die das Gewinnen eines persönlichen Eindrucks vom Bf. durch die Gerichte erfordert hätten. Die Gerichte konnten den Fall somit auf der Grundlage der schriftlichen Stellungnahmen der Parteien und anderer Dokumente entscheiden. Da sie daher von der Pflicht zur Durchführung einer Verhandlung befreit waren, liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK:
Der Bf. bringt vor, die Entscheidung der österreichischen Gerichte habe ihn in seinem Recht auf Achtung des Eigentums verletzt. Die beschlagnahmten Vermögenswerte würden ihm gehören und die Vollstreckung der Verfallsanordnung wäre ohne rechtliche Grundlage erfolgt.
Es steht außer Streit, dass der Bf. die Schließfächer gemietet hatte, in denen das Bargeld und die Wertpapiere gefunden worden waren. Ebenso unbestritten ist, dass die Verfallsanordnung des Distriktsgerichts Rhode Island gegen ihn gerichtet war. Ohne die Beschlagnahme und die Vollstreckung der Verfallsanordnung durch die österreichischen Gerichte wäre er in der Lage gewesen, über die in den Schließfächern deponierten Vermögenswerte zu verfügen. Die umstrittenen Maßnahmen begründen daher einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Eigentums.
Die Vollstreckung der Verfallsanordnung fällt unter die Regel des Art. 1 Abs. 2 1. Prot. EMRK, wonach der Staat das Recht hat, „diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse für erforderlich hält."
Die Vollstreckung hatte mit § 64 ARHG und Art. 17 des Vertrags über die Rechtshilfe in Strafsachen eine Grundlage im innerstaatlichen Recht. Die österreichischen Gerichte haben sich mit dem Vorbringen des Bf. detailliert auseinandergesetzt und ihre Entscheidung ausführlich begründet. Nichts deutet darauf hin, dass sie durch ihre Rechtsanwendung die Grenzen der Interpretation überschritten. Die Vollstreckung der Verfallsanordnung hatte ein legitimes Ziel, nämlich die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass Gelder aus dem Drogenhandel tatsächlich abgeschöpft werden. Die Vollstreckung diente damit dem Allgemeininteresse der Bekämpfung des Drogenhandels. Dennoch muss ein gerechter Ausgleich zwischen diesem Allgemeininteresse und dem Interesse des Bf. am Schutz seines Rechts auf Achtung des Eigentums getroffen werden.
Zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen stellt der GH fest, dass zwei Verfahren vor den österreichischen Gerichten durchgeführt wurden. Das erste betraf die vorläufige Beschlagnahme, das zweite die Vollstreckung der Verfallsanordnung. Der Bf. war anwaltlich vertreten und machte regen Gebrauch von der Gelegenheit, seine Argumente vorzubringen. Er war daher in der Lage, die in seine durch Art. 1 1. Prot. EMRK geschützten Rechte eingreifenden Maßnahmen wirksam anzufechten.
Da die Vollstreckung der Verfallsanordnung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentumsrecht des Bf. begründete, liegt keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK vor (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
AGOSI/GB v. 24.10.1986, A/108, EuGRZ 1988, 513.
Hornsby/GR v. 19.3.1997, ÖJZ 1998, 236.
Werner/A v. 24.11.1997, NL 1997, 276; ÖJZ 1998, 233.
Allan Jacobsson/S (Nr. 2) v. 19.2.1998, NL 1998, 63; ÖJZ 1998, 935.
Sylvester/A v. 9.10.2003 (ZE).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.12.2008, Bsw. 69917/01, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 362) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Saccoccia.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.