JudikaturAUSL EGMR

Bsw31645/04 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. Dezember 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesachen Kervanci gegen Frankreich und Dogru gegen Frankreich, Urteile vom 4.12.2008, Bsw. 31645/04 und Bsw. 27058/05.

Spruch

Art. 9 EMRK, Art. 2 1. Prot. EMRK - Schulausschluss wegen Tragens eines Kopftuches im Turnunterricht.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (einstimmig).

Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die beiden Bf. sind Musliminnen und besuchten im Schuljahr 1998/99 im Alter von elf bzw. zwölf Jahren die erste Klasse der Sekundarschule in Flers. Im Jänner 1999 erschienen sie wiederholt mit einem Kopftuch bekleidet zum Turnunterricht. Die Lehrerin forderte die Bf. daraufhin mehrmals auf, ihr Kopftuch abzunehmen, da das Tragen eines Kopftuchs mit dem Turnunterricht unvereinbar sei. Die Bf. kamen der Aufforderung jedoch nicht nach.

In einer Sitzung am 11.2.1999 entschied das Schüler-Disziplinarkomitee, die beiden Bf. aus der Schule auszuschließen, weil sie nicht aktiv am Turnunterricht teilgenommen und damit ihre schulischen Pflichten verletzt hätten. Die Eltern der Bf. wandten sich dagegen an die Berufungskommission. Der Direktor für Unterricht in Caen bestätigte jedoch am 17.3.1999 die Entscheidung des Komitees, nachdem er von der Ansicht der Berufungskommission in Kenntnis gesetzt worden war. Letztere war auf vier Gründe gestützt: 1. auf die im Unterrichtsgesetz vorgesehene Pflicht zu schulischem Eifer; 2. auf Bestimmungen der internen Schulordnung, die das Tragen von den Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften entsprechender Kleidung sowie von Sportkleidung im Turnunterricht vorsehen; 3. auf eine Dienstmitteilung betreffend die Sicherheit von Schülern, wonach dem einzelnen Lehrer auch bei gewissenhafter Befolgung der Regeln über die Verantwortlichkeit von Lehrkörpern noch ein weites Ermessen zur Bewältigung einer konkreten Situation verbleibt; 4. auf eine Entscheidung des Conseil d'Etat vom 10.3.1995, in der das Tragen eines die religiöse Zugehörigkeit symbolisierenden Kopftuchs als unvereinbar mit dem im Turnunterricht erforderlichen Verhalten angesehen wurde.

Die Bf. gaben an, im Anschluss an diese Entscheidung Fernunterricht erhalten zu haben, um ihre Schulausbildung fortzusetzen. Die Eltern der beiden Bf. wandten sich an das Verwaltungsgericht Caen, um die Aufhebung der Entscheidung des Direktors zu erwirken. Das Gericht wies die Beschwerde jedoch ab. Es erklärte, die Bf. hätten ihre Pflicht zum regelmäßigen Besuch des Unterrichts verletzt, indem sie während des Turnunterrichts Kleidung getragen hätten, mit der die Teilnahme am Unterricht unmöglich gewesen wäre. Außerdem hätte das Verhalten der Bf. eine angespannte Atmosphäre innerhalb der Schule erzeugt. Der Schulausschluss sei unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt gewesen.

Mit derselben Begründung wurde am 19.12.2002 bzw. am 31.7.2003 auch die jeweilige Berufung der Eltern abgewiesen. Außerdem wurde angeführt, dass die Bf. mit ihrem Verhalten die Grenzen ihres Rechts auf Bekundung ihres religiösen Glaubens überschritten hätten. Die jeweiligen in der Folge beim Conseil d'Etat eingebrachten Rechtsmittel wegen Verletzung des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit wurden für unzulässig erklärt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. erachten sich in ihrem Recht verletzt, ihre Religion gemäß Art. 9 EMRK zu manifestieren. Sie rügen weiters eine Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK (Recht auf Bildung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Sie ist auch aus keinem anderen Grund unzulässig und deshalb für zulässig zu erklären (einstimmig).

Das Tragen eines Kopftuchs kann nach der Rechtsprechung des GH als religiös motivierter oder inspirierter Akt gesehen werden. Im vorliegenden Fall geht der GH davon aus, dass die Untersagung, im Turnunterricht mit einem Kopftuch bekleidet zu sein, und der aus der Nichtbefolgung resultierende Schulausschluss der Bf. eine, von den Parteien unbestrittene, Beschränkung der Ausübung der Religionsfreiheit der Bf. darstellte. Ein solcher Eingriff ist nur dann nicht als Verletzung zu qualifizieren, wenn er gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK auf einer gesetzlichen Grundlage basierte, ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

1. Zum Vorliegen einer Rechtsgrundlage:

Ein Eingriff ist dann gesetzlich vorgesehen, wenn es dafür eine für den Einzelnen zugängliche innerstaatliche Rechtsgrundlage gibt, aus der der Betroffene die sich für ihn ergebenden Folgen ausreichend vorhersehen kann.

Ein Gesetz, das Schülerinnen das Tragen eines Kopftuchs im Turnunterricht ausdrücklich untersagt hätte, existierte zur relevanten Zeit nicht. Die Behörden stützten sich zur Rechtfertigung des Eingriffs aber auf drei Faktoren – die Pflicht, regelmäßig den Unterricht zu besuchen, die Sicherheitserfordernisse und die Notwendigkeit, sich für sportliche Aktivitäten angemessen zu kleiden –, die auf gesetzlichen und behördlichen Regelungen, internen Dokumenten und Entscheidungen des Conseil d'Etat beruhten. Zu klären ist, ob dies eine ausreichende Rechtsgrundlage darstellte. Eine im vorliegenden Fall anwendbare gesetzliche Bestimmung findet sich im Unterrichtsgesetz aus 1989. Diese sieht vor, dass Schüler zum regelmäßigen Besuch des Unterrichts verpflichtet sind und sich den Regeln und dem Gemeinschaftsleben der Schule konform verhalten müssen. Hinsichtlich dieser und anderer Bestimmungen gab der Conseil d'Etat am 27.11.1989 eine Stellungnahme ab. Darin legte er fest, dass Schülern das Tragen von religiösen Symbolen grundsätzlich erlaubt sei, deren Recht auf Bekundung des Glaubens jedoch weder zur Beeinträchtigung der Lehrtätigkeit oder der Pflicht zum regelmäßigen Unterrichtsbesuch, noch zu einer Gefährdung der Gesundheit der Schüler, noch zu einem Eingriff in die Regelungen der Schule oder in den normalen Ablauf des öffentlichen Dienstes führen dürfe. Er überließ es den Schulen, diese Erkenntnisse in ihren internen Regelungen umzusetzen. Die Disziplinarbehörden sollten dann im konkreten Fall über einen Regelverstoß und die Verhängung einer Disziplinarstrafe entscheiden. Die Schule der Bf. untersagte ausdrücklich, Symbole mit bekehrendem oder diskriminierendem Effekt zu tragen.

Da die Regelungen also auf den Einzelfall angewendet werden, kann dies zu unterschiedlichen Behandlungen von Schülern führen. Die Verwaltungsgerichte haben jedoch bei der Überprüfung der Entscheidungen der Disziplinarbehörden die vom Conseil d'Etat aufgestellten Prinzipien gewissenhaft angewendet und die gegen Schülerinnen wegen des Tragens eines Kopftuchs im Turnunterricht verhängten Disziplinarstrafen systematisch aufrechterhalten. Der vorliegende Fall stellt daher eine Anwendung der einschlägigen Judikatur dar.

Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass eine ausreichende Rechtsgrundlage vorhanden war. Bei den Regelungen handelte es sich um kundgemachte Bestimmungen oder um bestätigte Rechtsprechung des Conseil d'Etat. Damit waren sie für die Betroffenen zugänglich. Außerdem waren die Bf. bei ihrem Schuleintritt auf die schulinternen Regelungen aufmerksam gemacht worden und hatten deren Einhaltung mit Unterzeichnung zugesichert. Aus diesem Grund war es für die Bf. ausreichend vorhersehbar, dass ihr Verhalten möglicherweise zum Schulausschluss führen könnte. Der Eingriff war somit gesetzlich vorgesehen.

2. Zum Vorliegen eines legitimen Ziels:

In Anbetracht der Umstände des Falles und der Entscheidungen der nationalen Gerichte geht der GH davon aus, dass das Ziel des Eingriffs der Schutz der öffentlichen Ordnung sowie der Rechte und Freiheiten anderer war.

3. Zur Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft:

Auch wenn Art. 9 EMRK die Manifestation des religiösen Glaubens auf unterschiedliche Weise garantiert, schützt er nicht jedes religiös motivierte oder von der Religion vorgegebene Verhalten. Das Nebeneinander mehrerer Religionen in einer demokratischen Gesellschaft kann zudem Beschränkungen der Religionsfreiheit durch den Staat als neutralen Organisator erforderlich machen, um Ausgleich und gegenseitige Toleranz zwischen den einzelnen Gruppen zu schaffen.

Der GH erinnert daran, dass ein Staat das Recht auf Manifestation der Religion dann beschränken kann, wenn dieses mit den Zielen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kollidiert. Daher ist z. B. die Helmpflicht beim Motorradfahren aus Gründen des Gesundheitsschutzes auch gegenüber einem Sikh, dessen Religion das Tragen eines Turbans vorschreibt, gerechtfertigt. Ebenso stellt die Pflicht, Turban oder Schleier bei Sicherheitskontrollen abzunehmen, keinen unverhältnismäßigen Eingriff dar.

Im Fall Dahlab/CH sah der GH das Verbot, während des Unterrichtens junger Schüler ein Kopftuch zu tragen, deshalb für gerechtfertigt an, weil die Verfassung des Kantons Genf das Prinzip des Säkularismus und der Neutralität in der Schule vorsah. Im Fall Leyla Sahin/TR kam er zu dem Schuss, dass Säkularismus ein fundamentales verfassungsrechtliches Prinzip des türkischen Staates sei, das eine Garantie für demokratische Werte, die Religionsfreiheit und die Gleichheit der Bürger darstelle und das Individuum nicht nur vor Eingriffen des Staates, sondern auch vor dem Druck extremistischer Bewegungen schütze. Um diese Werte zu garantieren, könne das Recht, die eigene Religion zu bekunden, eingeschränkt werden. Diese Auffassung von Säkularismus sei mit den Werten der Konvention vereinbar und könne als notwendig betrachtet werden, um das demokratische System der Türkei aufrecht zu erhalten. Im Fall Köse u. a./TR erwog der GH, dass die Prinzipien des Säkularismus, der Neutralität in Schulen und des Pluralismus eine klare Rechtfertigung dafür darstellten, Kindern den Zugang zum Unterricht zu untersagen, wenn sie sich weigerten, das islamische Kopftuch abzunehmen. Im vorliegenden Fall stützen sich die Behörden bei der Rechtfertigung des Verbots, im Turnunterricht ein Kopftuch zu tragen, auf die Einhaltung der schulischen Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen und die Pflicht zum regelmäßigen Schulbesuch – Regeln, die unterschiedslos für alle Schüler gelten. Im Verhalten der Bf. sahen die Gerichte eine Überschreitung der Grenzen der Religionsfreiheit. Der GH sieht in der strittigen Beschränkung generell die Bestrebung, den Säkularismus in staatlichen Schulen aufrecht zu erhalten. Unter Betrachtung der Stellungnahme des Conseil d'Etat vom 27.11.1989 und diverser ministerieller Rundschreiben war das Tragen religiöser Symbole nicht von sich aus unvereinbar mit dem Säkularismus, wurde es jedoch durch die Bedingungen, unter denen die Symbole getragen wurden, und den möglichen Folgen.

In Frankreich stellt der Säkularismus, wie auch in der Türkei und der Schweiz, ein verfassungsrechtliches Prinzip dar, an dem die gesamte Bevölkerung festhält und dessen Schutz, insbesondere in Schulen, erhebliche Bedeutung zukommt. Ein Verhalten wider diesem Prinzip wird daher nicht notwendigerweise von der Freiheit nach Art. 9 EMRK umfasst sein. In Anbetracht des Ermessensspielraums, der Staaten bei der Bestimmung des sensiblen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche zukommt, erscheint eine im Sinne des Säkularismus erforderliche Beschränkung der Religionsfreiheit im Sinne der Konvention legitim. Die Entscheidung der Behörden, das Tragen eines Kopftuchs sei aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen mit dem Turnunterricht unvereinbar, war nach Ansicht des GH nicht unangemessen. Die verhängte Strafe war eine Folge der Missachtung schulischer Regelungen, und erfolgte nicht, wie behauptet, aufgrund der religiösen Überzeugung der Bf. Außerdem hatten die Behörden mehrmals erfolglos versucht, mit den Bf. in Dialog zu treten, und ihnen auch Bedenkzeit zugestanden. Dadurch war eine ausgleichende Berücksichtigung der jeweiligen Interessen gewährleistet. Hinzu kommt, dass das Verbot des Tragens eines Kopftuchs auf den Turnunterricht beschränkt war. Was die Wahl der Strafe betrifft, sind nach Meinung des GH die Diziplinarbehörden am besten geeignet, zu bestimmen, welche Maßnahmen im konkreten Fall erforderlich sind. Aufgrund dieser Erwägungen erscheint dem GH der Schulausschluss der Bf. nicht als unverhältnismäßige Strafe. Zudem konnten die Bf. ihre schulische Ausbildung durch Fernunterricht fortsetzen. Die umstrittene Entscheidung stand nicht im Widerspruch zum religiösen Glauben der Bf., sie wurde ausreichend gegen die Erfordernisse des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer und der öffentlichen Ordnung abgewogen. Unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und des staatlichen Ermessensspielraums erachtet der GH den Eingriff daher als gerechtfertigt und verhältnismäßig. Es hat keine Verletzung von Art. 9 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 1. Prot. EMRK:

Da dieser Beschwerdepunkt mit dem vorher behandelten zusammenhängt, ist er ebenfalls für zulässig zu erklären (einstimmig). Der GH erinnert daran, dass das Recht auf Bildung die Ergreifung von Disziplinarmaßnahmen – den vorübergehenden oder endgültigen Schulausschluss mit eingeschlossen – theoretisch nicht ausschließt. Disziplinarmaßnahmen sollen dazu beitragen, das Ziel schulischer Einrichtungen, nämlich die Entwicklung des Charakters und der geistigen Fähigkeiten von Schülern, zu erreichen.

In diesem Zusammenhang ergeben sich keine eigens zu klärenden Fragen. Eine Behandlung dieses Beschwerdeteils kann daher unterbleiben (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Dahlab/CH v. 15.2.2001 (ZE), EuGRZ 2003, 595.

Leyla Sahin/TR v. 10.11.2005 (GK), NL 2005, 285; EuGRZ 2006, 28; ÖJZ

2006, 424.

Köse u.a./TR v. 24.1.2006 (ZE).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 4.12.2008, Bsw. 31645/04 und Bsw. 27058/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 353) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil Kervanci im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Kervanci.pdf

Das Urteil Dogru im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Dogru.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise