Bsw24479/07 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Shingara Mann Singh gegen Frankreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 13.11.2008, Bsw. 24479/07.
Spruch
Art. 9 EMRK - Ausstellung des Führerscheins nur bei Abbildung ohne Turban.
Unzulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der Bf. ist französischer Staatsangehöriger und praktizierender Sikh. Seine Religion gebietet ihm das ständige Tragen eines Turbans. Auch in seinem Führerschein, der 1987, 1992 und 1998 neu ausgestellt wurde, war der Bf. stets mit einem Turban bekleidet abgebildet. Nachdem dem Bf. im Zuge eines Diebstahls der Führerschein entwendet worden war, ersuchte er am 30.4.2004 bei der Präfektur Val d'Oise um die Ausstellung eines Duplikats. Der Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass der Bf. auf den vorgelegten Fotos ausschließlich mit Turban zu sehen sei.
Der Bf. wandte sich mit einem Antrag auf Aufhebung dieser Entscheidung an das Verwaltungsgericht Cergy-Pontoise. Sein Begehren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Aussetzung der Entscheidung wurde jedoch mit Beschluss abgewiesen. Dieser Beschluss wurde am 5.12.2005 vom Conseil d'Etat aufgehoben und die Entscheidung der Präfektur ausgesetzt. Die Entscheidung basiere nämlich auf keiner rechtlichen Grundlage, da sie auf ein Rundschreiben des Innenministers gestützt sei, welcher aber für die Festlegung von Voraussetzungen für die Ausstellung eines Führerscheins nicht zuständig sei. Der Conseil d'Etat ordnete deshalb eine neuerliche Behandlung des Antrags des Bf. durch die Präfektur an.
Am 16.1.2006 verweigerte die Präfektur Val d'Oise erneut die Ausstellung eines Duplikats. Sie berief sich dabei auf ein am 6.12.2005 vom Minister für Transportwesen, Raumordnung, Tourismus und Meer ausgesandtes Rundschreiben. Mit diesem wurde angeordnet, dass für die Ausstellung eines Führerscheins ein Lichtbild verwendet werden müsse, das den Kopf der Person „unbedeckt und von vorne" zeige. Der Bf. und der Verein United Sikhs beantragten daraufhin beim Conseil d'Etat die Aufhebung dieses Rundschreibens wegen Zuständigkeitsüberschreitung.
Beim Verwaltungsgericht Cergy-Pontoise stellte der Bf. einen Antrag auf Aufhebung der Entscheidung vom 16.1.2006. Diese wurde am 14.12.2006 zusammen mit der Entscheidung vom 26.11.2004 mit Urteil aufgehoben und die Präfektur neuerlich zur Behandlung der Angelegenheit des Bf. angewiesen. Der Minister für Transportwesen, Raumordnung, Tourismus und Meer legte dagegen Berufung ein. Am 15.12.2006 wies der Conseil d'Etat den Antrag auf Aufhebung des Rundschreibens vom 6.12.2005 ab. Die darin enthaltenen Bestimmungen würden nämlich die Gefahr des Betrugs und der Fälschung von Führerscheinen vermindern, indem sie eine möglichst sichere Identifikation des Inhabers der Fahrerlaubnis garantierten. In Anbetracht dieses Ziels sei der Eingriff in die Ansinnen und Riten der Sikh-Religion – gerade wegen der bloß punktuellen Verpflichtung, die Kopfbedeckung zur Aufnahme eines Fotos abzunehmen – weder unverhältnismäßig noch würde dies eine unterschiedliche Behandlung der Sikh bedeuten.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14.12.2006 wurde vom Berufungsgericht am 3.6.2008 aufgehoben.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Unter Berufung auf Art. 8, 9 und 14 EMRK bringt der Bf. vor, die Verpflichtung, auf dem Führerscheinfoto mit unbedecktem Kopf abgebildet zu sein, würde sein Recht auf Privatleben und seine Gewissens- und Religionsfreiheit verletzen und eine Diskriminierung aufgrund seiner Religionszugehörigkeit darstellen.
Da die Beschwerde in erster Linie auf religiöse Erwägungen abstellt, wird der GH diese zunächst in Hinblick auf Art. 9 EMRK untersuchen und prüfen, ob die strittige Maßnahme einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Gewissens- und Religionsfreiheit des Bf. darstellte, und wenn ja, ob dieser gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen war, einem legitimen Ziel entsprach und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
Wie der Bf. anführt, gebietet die Sikh-Religion ihren Anhängern unter allen Umständen das Tragen eines Turbans. Dieser ist nicht nur wichtiger Bestandteil ihrer Religion, sondern auch ihrer Identität. Das Tragen eines Turbans ist also ein durch eine Religion oder Überzeugung motivierter oder inspirierter Akt. Der GH schließt daraus, dass die umstrittene Regelung, mit der die Aufnahme von Führerscheinfotos, die die Person mit unbedecktem Kopf zeigen, vorgeschrieben wird, einen Eingriff in die Ausübung der Religions- und Gewissensfreiheit darstellt.
Der Bf. bestreitet nicht, dass die Maßnahme gesetzlich vorgesehen war und eines der in Art. 9 Abs. 2 EMRK aufgezählten Ziele, nämlich die Wahrung der öffentlichen Sicherheit, verfolgte. Somit bleibt zu prüfen, ob sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Die in Art. 9 EMRK geschützte Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist einer der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der Konvention. In ihrer religiösen Dimension stellt diese Bestimmung eines der wichtigsten Elemente der Identität und Lebensanschauung von Gläubigen dar, ist aber auch für Atheisten, Agnostiker und Skeptiker ein wertvolles Gut. Die Religionsfreiheit umfasst die Freiheit, sich zu einer oder auch keiner Religion zu bekennen und diese entweder auszuüben oder auch nicht auszuüben. Auch wenn sich Religionsfreiheit in erster Linie auf den inneren Glauben bezieht, umfasst sie weiters die Freiheit, die eigene Religion einzeln oder gemeinsam, in der Öffentlichkeit und im Kreise jener, die den Glauben teilen, zu bekunden. Dies kann in Form von Kulten, Unterricht oder Praktizierung von Riten erfolgen. Art. 9 EMRK schützt aber nicht jede durch Religion oder Überzeugung motivierte Handlung. Er garantiert auch nicht in jedem Fall das Recht, sich den Vorschriften einer religiösen Überzeugung gemäß zu verhalten oder sich bei einem solchen Verhalten gerechtfertigten Regelungen zu entziehen.
Bezüglich einer Beschwerde eines Sikh, der sich durch die Verpflichtung zum Tragen eines Motorradhelms in seiner Religionsfreiheit verletzt fühlte, hatte die EKMR bereits festgestellt, dass die Vorschreibung einer solchen Verpflichtung in Hinblick auf den Schutz der Gesundheit des Betroffenen gerechtfertigt war. Auch die Verpflichtung eines muslimischen Studenten, für die Ausstellung eines Universitätsdiploms ein Foto mit unbedecktem Kopf vorzulegen, oder die Verpflichtung zur Abnahme des Turbans oder Kopftuchs bei einer Sicherheitskontrolle am Flughafen bewirkten keine Verletzung der Religionsfreiheit.
Im vorliegenden Fall kommt der GH zu demselben Ergebnis. Die Aufnahme eines den unbedeckten Kopf der Person zeigenden Fotos in den Führerschein ist für die mit der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz der öffentlichen Ordnung beauftragten Behörden – gerade bei Verkehrskontrollen – notwendig, um den Fahrer zu identifizieren und sich über seine Fahrerlaubnis zu vergewissern. Derartige Kontrollen sind notwendig für die Gewährung der öffentlichen Sicherheit iSv. Art. 9 Abs. 2 EMRK. Gerade in Anbetracht des Anstiegs der Betrugs- und Fälschungsgefahr bei Führerscheinen erweist sich diese Regelung zunehmend erforderlich. Außerdem liegt die Art der Durchführung derartiger Kontrollen innerhalb des Ermessensspielraums des betroffenen Staates, dies umso mehr, da die Verpflichtung, den Turban zu diesem Zweck oder für die Ausstellung eines Führerscheins abzunehmen, eine punktuelle Maßnahme darstellt.
Die Tatsache, dass es dem Bf. früher erlaubt war, im Führerschein mit Turban abgebildet zu sein, kann nicht ausreichen, um diesen von den strittigen Maßnahmen zu entbinden.
Aufgrund dieser Erwägungen und in Anbetracht des staatlichen Ermessensspielraums kommt der GH zu dem Schluss, dass der umstrittene Eingriff in Art. 9 EMRK gerechtfertigt und verhältnismäßig zum verfolgten Ziel war.
Was die Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK sowie Art. 14 iVm. Art. 8 und Art. 9 EMRK betrifft, kann der GH keinen Anschein einer Verletzung feststellen.
Im Ergebnis ist die Beschwerde daher offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
X./GB v. 12.7.1978 (ZE).
Phull/F v. 11.1.2005 (ZE).
Leyla Sahin/TR v. 10.11.2005 (GK), NL 2005, 285; EuGRZ 2006, 28; ÖJZ
2006, 424.
Arac/TR v. 19.12.2006 (ZE).
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 13.11.2008, Bsw. 24479/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 319) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Die Zulässigkeitsentscheidung im französischen Originalwortlaut
(pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Singh.pdf
Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.