Bsw58911/00 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Leela Förderkreis e.V. u.a. gegen Deutschland, Urteil vom 6.11.2008, Bsw. 58911/00.
Spruch
Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 9 EMRK - Staatliche Warnung vor Religionsgesellschaften.
Zulässigkeit der Beschwerde der ErstBf., der ZweitBf. und der DrittBf. hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Streichung der Beschwerde der ViertBf. und der FünftBf. hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig). Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).
Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung
von Art. 9 EMRK (einstimmig).
Keine Verletzung von Art. 9 EMRK (5:2 Stimmen).
Keine gesonderte Behandlung der behaupteten Verletzung von Art. 9
EMRK iVm. Art. 14 und Art. 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für die Erst-, Zweit- und DrittBf. für Kosten und Auslagen (einstimmig).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Die Bf. sind Religions- oder Meditationsgesellschaften, die der sogenannten Osho-Bewegung angehören. Ihre Aufgabe ist die Verbreitung der Osho-Lehre, deren Ziel die Erleuchtung durch Loslösung von jeglicher Sozialisation mittels Meditation ist. Dazu betreiben sie Meditationszentren und organisieren religiöse Veranstaltungen. Die Bf. wurden in Deutschland erstmals in den 60er-Jahren bekannt. Wegen ihrer Aktivitäten wurden sie bald Thema einer öffentlichen Debatte über die von ihnen potentiell ausgehende Gefahr für die persönliche und soziale Entwicklung von Jugendlichen.
Um die Bevölkerung über mögliche Gefahren für den Einzelnen und die Gesellschaft zu informieren, veranlasste die Bundesregierung ab den 70er-Jahren groß angelegte Informationskampagnen zum Thema Sekten. In der Folge sprach sie mehrmals offizielle Warnungen in Bezug auf Sekten, namentlich auch gegen die Osho-Bewegung, aus. Die Bf. wurden darin als „Jugend-" oder „Psycho-Sekten" sowie als „schädlich" und „pseudoreligiös" beschrieben.
Am 1.10.1984 begehrten die Bf. beim Verwaltungsgericht Köln die Unterlassung weiterer solcher Aussagen seitens der Regierung. Diese seien diffamierend und würden ihr Recht nach Art. 4 Grundgesetz (GG), sich zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen, verletzen. Am 21.1.1986 untersagte das Verwaltungsgericht der Regierung, die Osho-Bewegung erneut öffentlich mit den erwähnten Begriffen zu bezeichnen, da dies das Recht auf Religionsfreiheit verletze. Art. 4 GG verlange absolute Neutralität gegenüber religiösen Gruppen, er verbiete negative, zudem zur Gefahrenabwehr ungeeignete Beurteilungen.
Am 28.4.1986 erhob die Regierung Berufung beim Oberverwaltungsgericht, das die Erstentscheidung am 22.5.1990 aufhob. Dem Gericht zufolge habe die Regierung die rechtlich geforderte Abwägung zwischen Religionsfreiheit und anderen Grundrechten in verhältnismäßiger Weise vorgenommen, ihre Aussagen seien demnach gerechtfertigt.
Nach erfolgloser Anrufung des BVerwG erhoben die Bf. am 3.5.1991 Beschwerde beim BVerfG. 1993, 1995, 1998 und 2000 erkundigten sich die Bf. über den Stand des Verfahrens, doch erst am 26.6.2002 hob das BVerfG das vorangegangene Urteil wegen Verstoßes gegen Art. 4 GG auf. Die Sache wurde an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen. Dem BVerfG nach habe die Regierung ein aus dem GG ableitbares Recht, die Bürger über Konflikte in Staat und Gesellschaft aufzuklären, auch wenn dabei indirekt Grundrechte Einzelner betroffen wären. Äußerungen zu Religion und Glauben müssten aber neutral formuliert und verhältnismäßig sein. Die Adjektive „schädlich" und „pseudoreligiös" seien jedoch, anders als Bezeichnungen wie „Psycho-Sekte", diffamierend und diskriminierend und deshalb verfassungswidrig. Am 8.11.2002 zog die Bundesregierung ihre Berufung im vor dem Oberverwaltungsgericht erneut anhängigen Verfahren zurück.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf. rügen die überlange Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten und dem BVerfG (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Außerdem erachten sie sich in ihrem Recht auf Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK verletzt.
Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:
1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Der GH hat zunächst anhand einer autonomen, den materiellen Inhalt und die Wirkungen des Rechts berücksichtigenden, nicht bloß auf innerstaatliches Recht abstellenden Beurteilung zu prüfen, ob überhaupt ein Streit über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt. Im konkreten Fall ist der zivilrechtliche Charakter des Rechts der Bf. auf Unterlassung negativer öffentlicher Äußerungen durch die Regierung zu prüfen. Ein solches Recht ist nach innerstaatlicher Rechtsprechung aus Art. 4 GG ableitbar, der die Religionsfreiheit schützt. Der GH erachtet eine Prüfung, ob dem Recht auf Religionsfreiheit generell zivilrechtlicher Charakter zukommt, nicht für erforderlich. Die Äußerungen der Regierung betrafen nämlich auch den guten Ruf der Bf. Der GH misst dem Recht auf Schutz des guten Rufs zivilrechtlichen Charakter zu, weshalb im konkreten Fall das Vorliegen eines Streits über einen zivilen Anspruch zu bejahen ist.
Die Beschwerde ist weiters weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Die Viert- und FünftBf. haben ihre Vorbringen vor dem GH widerrufen, die auf sie bezogenen Punkte der Beschwerde werden von der Liste des GH gestrichen (einstimmig).
2. In der Sache selbst:
Der für die Verfahrensdauer relevante Zeitraum liegt zwischen dem Verfahrensbeginn am 1.10.1984 und der Zurückziehung der Berufung durch die Regierung im erneut anhängigen Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht am 8.11.2002, er betrug somit über 18 Jahre. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer hängt von der Komplexität des Falles, dem Verhalten der Parteien und der Bedeutung des Verfahrens für die Bf. ab. Vorliegend ging es um komplexe verfassungsrechtliche Fragen. Aus diesem Grund und wegen einer gewissen Verfahrensverzögerung durch die Bf. geht der GH davon aus, dass die Dauer der Verfahren vor dem Verwaltungs-, dem Oberverwaltungsgericht und dem BVerwG noch angemessen war.
Das verfassungsgerichtliche Verfahren dauerte jedoch über elf Jahre. Staaten sind generell dazu verpflichtet, ihr Gerichtssystem so zu organisieren, dass Verfahren in angemessener Zeit beendet werden können. Ein Verfassungsgericht kann allerdings in seiner Rolle als Hüter der Verfassung gezwungen sein, Beschwerden nach ihrer Wichtigkeit und nicht nach dem Zeitpunkt ihres Einlangens zu behandeln. In Bezug darauf kann – entgegen dem Vorbringen der Regierung – die Einigung Deutschlands, die kurz vor Beginn des Verfahrens vor dem BVerfG stattgefunden hatte, nicht als Rechtfertigung für die lange Verfahrensdauer herangezogen werden, denn nur wenige zum konkreten Zeitpunkt anhängige Beschwerden standen damit in Zusammenhang.
In früheren Fällen hat der GH Zeiträume bis zu vier Jahren und acht Monaten als angemessene Dauer für verfassungsgerichtliche Verfahren akzeptiert. Eine Dauer von elf Jahren überschreitet diese Vorgaben aber bei weitem und ist nach Meinung des GH exzessiv. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK:
Die Bf. erachten sich in ihrem Recht auf Manifestation ihres Glaubens verletzt. Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).
Die bf. Gesellschaften sind als Bf. iSd. Art. 34 EMRK anzusehen, da religiöse Einrichtungen als solche die von Art. 9 EMRK garantierten Rechte im Namen ihrer Anhänger wahrnehmen können.
Die Religionsfreiheit garantiert unter anderem die Freiheit, den eigenen Glauben privat und öffentlich zu bekunden. Dazu gehört im Prinzip auch, seine Nächsten zu bekehren zu versuchen. Das Recht auf Glaubenswechsel würde sonst leer laufen. Art. 9 EMRK schützt aber nicht jede religiös motivierte Handlung. Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit verlangen einen gewissen Grad an Ernsthaftigkeit und Bedeutung der Überzeugung.
Aufgabe der Bf. ist die Verbreitung der Osho-Lehre durch die Betreibung von Meditationszentren und die Organisation von religiösen Veranstaltungen. Das gemeinsame Ziel der Anhänger dieser Lehre ist die Erleuchtung und die Erlangung von Transzendenz in allen Lebensbereichen. Diese Ansichten können als Manifestation des Glaubens der Bf. angesehen werden und fallen daher unter Art. 9 EMRK. Der GH hat nun zu prüfen, ob ein Eingriff in die Garantien des Art. 9 EMRK vorlag, der gemäß Abs. 2 gesetzlich vorgesehen war, einem legitimen Ziel entsprach und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
1. Zum Vorliegen eines Eingriffs:
Die umstrittenen Maßnahmen führten nicht zu einem Verbot der Aktivitäten der Bf. oder ihrer Mitglieder. Die Bf. behielten ihr Recht auf Gewissensfreiheit und auf Ausübung ihres Glaubens. Die in den Äußerungen der Regierung verwendeten Begriffe können jedoch gewisse negative Auswirkungen auf die Rechte der Bf. gehabt haben. Ohne deren Ausmaß genau zu bestimmen, geht der GH davon aus, dass ein Eingriff in das Recht der Bf. auf Ausübung ihres Glaubens stattgefunden hat.
2. Zum Vorliegen einer Rechtsgrundlage:
Ein Eingriff hat auf einer nationalen Rechtsgrundlage zu beruhen, die für den Einzelnen zugänglich und so formuliert sein muss, dass dieser sein Verhalten danach richten kann.
Nach Ansicht des BVerfG kann eine Verpflichtung der Regierung, über Themen von öffentlichem Interesse zu informieren, direkt aus dem GG hergeleitet werden. Dieses sei daher gesetzliche Grundlage für den gegenständlichen Eingriff. Der GH räumt ein, dass eine genaue gesetzliche Regelung von Bereichen wie etwa der Weitergabe von Informationen schwierig und nicht unbedingt angemessen erscheinen mag, wenn sich die zu regelnden Faktoren in Anbetracht der gesellschaftlichen und kommunikationstechnischen Entwicklungen ständig verändern. Deshalb waren auch im konkreten Fall keine weiteren Regelungen erforderlich. Das GG gesteht der Regierung zudem kein unbeschränktes Ermessen bei der Veröffentlichung von Informationen zu. Aussagen, die die Religionsfreiheit im Kern berühren, müssen verhältnismäßig und neutral formuliert sein. Nach Ansicht des GH war der Eingriff daher gesetzlich vorgesehen.
3. Zum Vorliegen eines legitimen Ziels:
Staaten ist es erlaubt zu prüfen, ob die scheinbar zur Verfolgung ihres Glaubens vorgenommenen Aktivitäten einer Vereinigung der Bevölkerung oder der öffentlichen Ordnung schaden. Mit ihren Warnungen beabsichtigte die Regierung, Informationen als Beitrag zu einer öffentlichen Debatte zu verbreiten und auf die von Sekten ausgehenden Gefahren hinzuweisen. Der GH geht davon aus, dass damit die legitimen Ziele des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Rechte und Freiheiten anderer verfolgt wurden.
4. Zur Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft:
Der GH hat nun das Recht der Bf. auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gegen die Verpflichtung der Behörden zur Verbreitung von im Allgemeininteresse gelegenen Informationen abzuwägen.
Das GG bietet der Regierung die Möglichkeit, auf ihr eigenes Betreiben hin Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Wenn solche Informationen Religionen oder Weltanschauungen betreffen, müssen sie nach der Rechtsprechung des BVerfG aber neutral formuliert und verhältnismäßig sein. Ein Eingriff in die Sphäre einer Religion oder Weltanschauung kann jedoch auch dadurch nicht unbedingt ausgeschlossen werden.
Zu bedenken ist, dass das Aufkommen neuer religiöser Bewegungen zur für die Beschwerde relevanten Zeit zu gesellschaftlichen Konflikten in Deutschland geführt und Fragen von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen hat. Die Informationen der Regierung sollten die Lage beruhigen, die Bevölkerung aufklären und vor Auswirkungen wie der Beeinflussung Jugendlicher warnen.
Die Ermächtigung zu derartigem vorbeugenden Einschreiten ergibt sich auch aus den positiven Verpflichtungen der Staaten nach Art. 1 EMRK, die Rechte und Freiheiten der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu schützen. Diese umfassen nämlich auch den Schutz vor Eingriffen durch nichtstaatlichen Einrichtungen angehörende Privatpersonen.
Durch die Handlungen der Regierung wurde den Bf. nicht verboten, ihren Glauben zu manifestieren. Zudem hat das BVerfG eine sorgfältige Analyse der getätigten Aussagen vorgenommen und die Verwendung der Begriffe „schädlich" und „pseudoreligiös" sowie den Vorwurf der Manipulation von Anhängern verboten. Bezeichnungen wie „Sekte" wurden zur gegebenen Zeit hingegen kaum als diskriminierend betrachtet. Der GH geht daher davon aus, dass die von der Regierung gemachten Aussagen in dem vom BVerfG begrenzten Umfang nicht über das hinausgegangen sind, was in einer Demokratie als im öffentlichen Interesse liegend angesehen wird. Der Eingriff in die Rechte der Bf. war somit grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig zu den verfolgten Zielen. Es liegt keine Verletzung von Art. 9 EMRK vor (5:2 Stimmen; Sondervoten der Richterinnen Lazarova Trajkovska und Kalaydjieva).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 iVm. Art. 14 EMRK und Art. 10
EMRK:
Diese Beschwerdepunkte sind wegen des Zusammenhangs mit den vorangegangenen zulässig, betreffen jedoch dieselben, schon unter Art. 9 EMRK vorgebrachten Tatsachen und werfen daher keine gesonderten Rechtsfragen auf (einstimmig).
Entschädigung nach 41 EMRK:
€ 4.000,– für die Erst-, Zweit- und DrittBf. für Kosten und Auslagen
(einstimmig).
Vom GH zitierte Judikatur:
Tolstoy Miloslavsky/GB v. 13.7.1995; NL 1995, 160; ÖJZ 1995, 950. Buscarini u.a./RSM v. 18.2.1999 (GK); NL 1999, 51; EuGRZ 1999, 213; ÖJZ 1999, 852.
Metropolitan Church of Bessarabia u.a./MD v. 13.12.2001; NL 2001,
250.
Calvelli und Ciglio/I v. 17.1.2002 (GK); NL 2002, 12; ÖJZ 2003, 307. Niederböster/D v. 27.2.2003; NL 2003, 77.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.11.2008, Bsw. 58911/00, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 323) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/08_6/Leela.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.