JudikaturAUSL EGMR

Bsw40825/98 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
31. Juli 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas u.a. gegen Österreich, Urteil vom 31.7.2008, Bsw. 40825/98.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 9 EMRK, Art. 11 EMRK, Art. 14 EMRK - Anerkennung einer Religionsgemeinschaft.

Verletzung von Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 42.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei der ErstBf. handelt es sich um die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Österreich, die vier weiteren Bf. sind führende Funktionäre derselben.

Am 25.9.1978 stellten die Bf. einen Antrag auf Anerkennung als Religionsgesellschaft bzw. Zuerkennung von Rechtspersönlichkeit gemäß Anerkennungsgesetz 1874 beim Bundesminister für Unterricht und Kunst. Aufgrund der Untätigkeit des Ministers wurde am 22.6.1987 abermals ein Antrag auf Anerkennung als Religionsgesellschaft eingebracht, dem der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport nicht stattgab. Der Minister teilte den Bf. mit, dass nach dem AnerkennungsG kein subjektives Recht auf eine Erledigung in Form eines Bescheids bestehe.

Nach mehreren erfolglosen Beschwerden der Bf. an die Höchstgerichte sprach der VfGH am 4.10.1995 aus, dass ein religiöser Zusammenschluss gemäß dem AnerkennungsG bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein subjektives Recht auf Anerkennung als Religionsgesellschaft habe. Das Rechtsstaatsprinzip verlange, dass ein solches Recht auch durchsetzbar sei. Daher müsse eine negative Entscheidung jedenfalls in Bescheidform ergehen.

Der Minister wies am 21.7.1997 den Antrag auf Anerkennung als Religionsgesellschaft ab. Seiner Ansicht nach fehle es den Zeugen Jehovas an interner Organisation und einer positiven Einstellung gegenüber Staat und Gesellschaft. Der VfGH hob die Entscheidung am 11.3.1998 auf und wies die Sache zur neuerlichen Entscheidung an den Minister zurück.

In der Zwischenzeit trat am 10.1.1998 das Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften (BekGG) in Kraft. Somit musste nach Ansicht des Ministers der Antrag auf Anerkennung nach dem AnerkennungsG als Antrag gemäß § 11 Abs. 2 BeKGG behandelt werden. Am 20.7.1998 stellte der Minister fest, dass die ErstBf. als religiöse Bekenntnisgemeinschaft gemäß § 2 Abs. 1 BekGG Rechtspersönlichkeit erworben habe.

Am 22.7.1998 stellten die Bf. neuerlich einen Antrag auf Anerkennung als gesetzliche Religionsgesellschaft im Sinne des AnerkennungsG, der wiederum abgewiesen wurde. Der Minister begründete diese Entscheidung vom 1.12.1998 damit, dass eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft nach § 11 Abs. 1 BekGG nur dann gesetzlich anerkannt werden könne, wenn sie mindestens zehn Jahre als religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit Rechtspersönlichkeit bestanden habe. Diese Voraussetzung sei von der Bf. zum Zeitpunkt der Antragstellung am 22.7.1998 nicht erfüllt gewesen. Der VfGH wies die dagegen erhobene Beschwerde am 14.3.2001 ab.

Auf Antrag der Bf. wurde die Rechtssache im April 2001 an den VwGH abgetreten, der die Beschwerde am 24.9.2004 abwies.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) und Art. 11 EMRK (hier: Vereinigungsfreiheit) jeweils alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), sowie von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 und Art. 11 EMRK:

Die Bf. bringen vor, die Weigerung seitens der österreichischen Behörden, der ErstBf. den Status einer gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft nach dem AnerkennungsG und somit Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen, begründe einen ungerechtfertigten Eingriff in ihr Recht auf Religionsfreiheit.

Die Religionsfreiheit umfasst unter anderem die Freiheit, die Religion einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat auszuüben. Da religiöse Gemeinschaften traditionellerweise in der Form organisierter Strukturen existieren, muss Art. 9 EMRK im Lichte von Art. 11 EMRK interpretiert werden, der gemeinschaftliches Leben vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen schützt. Die Möglichkeit, eine Rechtsperson zu gründen, um kollektiv in einem gemeinsamen Bereich von Interessen zu handeln, ist einer der wichtigsten Aspekte der Vereinigungsfreiheit. Daher ist die Weigerung der innerstaatlichen Behörden, einer Personenvereinigung Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen, ein Eingriff in die Vereinigungsfreiheit. Eines der Mittel zur Ausübung der Religionsfreiheit ist, der Gemeinschaft, den Mitgliedern und deren Vermögen rechtlichen Schutz zu gewähren, was dazu führt, dass Art. 9 EMRK nicht nur im Lichte von Art. 11 EMRK betrachtet werden muss, sondern auch im Lichte von Art. 6 EMRK.

Die Regierung wendet ein, dass es zu keinem Eingriff in die Religionsfreiheit der Bf. kam, da letztendlich die Rechtspersönlichkeit zuerkannt wurde, die Mitglieder der Gemeinschaft nicht an ihrer Religionsausübung gehindert wurden und sie einen Verein mit Rechtspersönlichkeit aufbauen konnten.

Der GH ist nicht überzeugt von diesen Argumenten, da es erheblich lange dauerte, bis es zu einer Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit kam und es fraglich ist, ob dieser Zeitraum als bloße Wartezeit auf eine behördliche Entscheidung verstanden werden kann. Die Tatsache, dass das Fehlen von Rechtspersönlichkeit durch die ersatzweise Gründung von Vereinen kompensiert werden konnte, ist hier nicht entscheidend. Nach Ansicht des GH liegt daher ein Eingriff in das Grundrecht auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit vor. Gemäß § 2 AnerkennungsG müssen in Österreich religiöse Gruppierungen vom zuständigen Minister anerkannt werden. Um Rechtspersönlichkeit zu erlangen, sind die Voraussetzungen der Absätze 1 bis 6 zu erfüllen. Der GH stellt daher fest, dass der fragliche Eingriff vom Gesetz vorgesehen war. Der Eingriff diente einem legitimen Ziel gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK, nämlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit.

Die Bf. stellten den Antrag 1978. Bis zur Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit vergingen 20 Jahre. Nach Ansicht des GH ist eine derartig lange Zeitspanne im Lichte von Art. 9 EMRK sehr bedenklich. Die Gründung und das Bestehen von selbständigen religiösen Gemeinschaften ist für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar. Dies bildet auch den Kern des Schutzbereichs von Art. 9 EMRK.

Daher sind auch alle staatlichen Behörden dazu verpflichtet, die Zeit, während der ein Bewerber auf eine Zuerkennung wartet, im Sinne von Art. 9 EMRK in einem angemessenen Rahmen zu halten. Da die Regierung keine ausreichende und relevante Begründung für dieses Versäumnis vorbringen konnte, ging der Eingriff über das in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Ausmaß hinaus. Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 9 EMRK fest (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Steiner).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK:

Die Bf. bringen vor, dass der Status einer Bekenntnisgemeinschaft schwächer sei als jener, welchen die nach dem AnerkennungsG anerkannten Religionsgemeinschaften genießen, was eine Diskriminierung aufgrund ihrer Religion darstellen würde. Zudem seien die in § 11 Abs. 1 BekGG festgelegten Kriterien für die Gewährung der Rechtspersönlichkeit diskriminierend und nicht objektiv. Eine ungleiche Behandlung ist diskriminierend, wenn sie ohne objektive und begründete Rechtfertigung vorgenommen wird, das heißt wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder wenn die Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels unverhältnismäßig sind.

Die österreichische Rechtsordnung bietet Religionsgesellschaften viele Privilegien, insbesondere steuerliche Entlastungen. Daher ist es umso wichtiger, dass allen religiösen Gruppierungen die gleiche Möglichkeit geboten wird, um einen Antrag auf Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit zu stellen und die Voraussetzungen hierfür nicht in einer diskriminierenden Weise angewendet werden. Der zuständige Bundesminister lehnte den Antrag der Bf. auf Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit am 1.12.1998 ab. Gestützt auf § 11 BekGG muss eine Religionsgemeinschaft zehn Jahre als registrierte Bekenntnisgemeinschaft bestehen, um Rechtspersönlichkeit zu erlangen. Die Bf. bestreiten die Notwendigkeit dieser Wartefrist. Die Anerkennung der Orientalisch-Orthodoxen Kirche als Religionsgemeinschaft durch ein Sondergesetz aus dem Jahr 2003 zeige das Gegenteil.

Der GH ist bereit zu akzeptieren, dass eine derartige Wartefrist in Ausnahmefällen von neu gegründeten und daher relativ unbekannten religiösen Gruppen notwendig sein kann. Aber sie scheint kaum gerechtfertigt in Bezug auf religiöse Gemeinschaften wie den Zeugen Jehovas, die bereits langjährig international bestehen, im Inland etabliert und den zuständigen Behörden bekannt sind. Es sollte daher möglich sein, in einer beträchtlich kürzeren Zeit festzustellen, ob die vom Gesetz geforderten Voraussetzungen für die Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit erfüllt werden. Das Beispiel der Orientalisch-Orthodoxen Kirche zeigt, dass der Staat die gleichförmige Anwendung einer solchen Wartefrist nicht als wesentliches Instrument seiner Politik in diesem Bereich ansieht. Der GH stellt aufgrund der ungerechtfertigten Benachteiligung eine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 9 EMRK fest (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Steiner).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Die Bf. rügen die Länge der Verfahrensdauer bezüglich ihres Antrags

auf Anerkennung als Religionsgesellschaft.

a) Zur Anwendbarkeit von Art 6 EMRK:

Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK verlangt eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche. Die Verfahren betreffend den Antrag der Bf. auf Anerkennung der ErstBf. als Religionsgesellschaft betrafen auch deren Rechtsstellung und somit, soweit hierfür ein innerstaatliches Recht auf eine Entscheidung bestand, auch die zivilrechtlichen Ansprüche der Bf. Insofern ist Art. 6 EMRK anwendbar.

b) Verfahren betreffend den Antrag vom 25.9.1978:

Mit der Entscheidung des VfGH vom 4.10.1995 begann die Zeitspanne, in der die innerstaatlichen Behörden zur Fällung einer Entscheidung verpflichtet waren. Dies ist auch der Beginn der Zeitspanne, die für Art. 6 EMRK zu berücksichtigen ist. Das Verfahren endete mit der Anerkennung nach dem BekGG am 21.7.1998 und dauerte somit zwei Jahre und zehn Monate. Nach Ansicht des GH war das Verfahren sehr komplex, da es zu einer Änderung in der Rechtsprechung des VfGH kam und währenddessen ein neues Gesetz in Kraft trat. Zudem wurde der Fall vor beiden Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts behandelt. Unter diesen Umständen erachtet der GH das Erfordernis der angemessenen Verfahrensdauer iSv. Art. 6 EMRK nicht als verletzt.

c) Verfahren betreffend den Antrag vom 22.6.1998:

Die unter Art. 6 EMRK zu betrachtende Zeitspanne begann mit der Ablehnung des Antrags durch den zuständigen Minister am 1.12.1998 und endete am 25.10.2004 mit der Zustellung der Entscheidung des VwGH. Das Verfahren dauerte somit fünf Jahre und elf Monate. Zuerst war der Fall zwei Jahre und zwei Monate beim VfGH anhängig, dann vergingen mehr als dreieinhalb Jahre, bis der VwGH über die Beschwerde entschied.

Die Dauer des Verfahrens vor dem VfGH erklärt sich nach Ansicht des GH mit der Komplexität des Falles, die Untätigkeit des VwGH blieb jedoch unerklärt.

Der GH stellt daher eine Verletzung von Art. 6 EMRK fest

(einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Die Bf. rügen das mangelnde Bestehen eines effektiven Rechtsbehelfs zur Erwirkung einer Entscheidung über den Anerkennungsantrag. Insgesamt hätten die Bf. über 130 Jahre nach Inkrafttreten des Anerkennungsgesetzes keinen durchsetzbaren Anspruch auf Anerkennung gehabt.

Der GH stellt fest, dass die Bf. alle von der Verfassung zur Verfügung gestellten Rechtsmittel ausgeschöpft haben und letztendlich Wiedergutmachung auf innerstaatlicher Ebene bekommen haben. Insbesondere löste der VfGH mit der Entscheidung vom 4.10.1995 den negativen Kompetenzkonflikt zwischen VfGH und VwGH und stellte fest, dass ein subjektives Recht auf eine Entscheidung bestehe. Nachdem der ErstBf. Rechtspersönlichkeit nach dem BekGG zuerkannt wurde, reichte sie eine Beschwerde beim VfGH ein, in der einzelne Bestimmungen dieses Gesetzes bekämpft wurden. Die Beschwerde wurde vom VfGH am 14.3.2001 abgewiesen. Die Effektivität eines Rechtsmittels hängt jedoch nicht davon ab, ob es zu einer für den Bf. günstigeren Entscheidung führt. Der GH stellt daher keine Verletzung von Art. 13 EMRK fest (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 10.000,– für immateriellen Schaden, € 42.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Steiner).

Vom GH zitierte Judikatur:

Buscarini u.a./RSM v. 18.2.1999 (GK), NL 1999, 51; EuGRZ 1999, 213; ÖJZ 1999, 852.

Hasan und Chaush/BG v. 26.10.2000 (GK), NL 2000, 216. Mitropolia Basarabiei u.a./MD v. 13.12.2001, NL 2001, 250. Moskauer Zweig der Heilsarmee/RUS v. 5.10.2006, NL 2006, 237; EuGRZ 2006, 24.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 31.7.2008, Bsw. 40825/98, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 232) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_4/Zeugen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rückverweise