Bsw36376/04 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Kononov gegen Lettland, Urteil vom 24.7.2008, Bsw. 36376/04.
Spruch
Art. 7 EMRK - Verurteilung wegen 1944 begangener Kriegshandlungen. Verletzung von Art. 7 EMRK (4:3 Stimmen).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 30.000,– für immateriellen Schaden (4:3 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Der 1923 in Lettland geborene Bf. floh 1941 im Zuge der Besetzung Lettlands durch die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion. Im folgenden Jahr wurde er zur Roten Armee eingezogen, von der er 1943 in das besetzte Gebiet eingeschleust wurde, um gemeinsam mit einer Gruppe „Roter Partisanen" Sabotageakte gegen die Wehrmacht zu unternehmen.
Im Mai 1944 war er an einer Operation gegen Einwohner des in Lettland gelegenen Dorfs Mazie Bati beteiligt. Im Februar 1944 hatte die deutsche Wehrmacht in der Ortschaft eine Gruppe von Partisanen unter der Führung von Major Chugunov entdeckt und getötet. Wegen des Verdachts des Verrats an den Partisanen beschlossen der Bf. und seine Einheit, gegen die mit den Deutschen kollaborierenden Einwohner Mazie Batis vorzugehen. Aus Furcht vor Angriffen der Partisanen hatten sich die männlichen Bewohner des Dorfes an die Wehrmacht um Hilfe gewandt, die sie mit je einem Gewehr und zwei Granaten bewaffnete. Am 27.5.1944 marschierten die Partisanen unter dem Kommando des Bf. in das Dorf, wo sie mehrere Häuser nach Waffen durchsuchten. Nachdem sie Gewehre und Granaten gefunden hatten, töteten sie sechs Männer und drei Frauen und setzten mehrere Häuser in Brand.
Nach Kriegsende wurde der in Lettland verbliebene Bf. mit der höchsten militärischen Auszeichnung der Sowjetunion geehrt. Bis zu seiner Pensionierung 1998 arbeitete er als Offizier der sowjetischen Polizei.
Nachdem Lettland 1991 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, wurde 1998 eine strafrechtliche Untersuchung der Vorfälle vom 27.5.1944 eingeleitet. Am 2.8.1998 wurde gegen den Bf. nach § 68-3 des lettischen Strafgesetzbuchs Anklage erhoben. (Anm.: Diese am 6.4.1993 in das Strafgesetzbuch eingefügte Bestimmung bezeichnete als Kriegsverbrechen „wie in den einschlägigen internationalen Übereinkommen definiert" Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges durch Mord, Folter, Plünderung von Geiseln, Kriegsgefangenen oder der Zivilbevölkerung in einem besetzten Gebiet, die Deportation solcher Personen oder ihre Heranziehung zu Zwangsarbeit sowie die ungerechtfertigte Zerstörung von Städten und Anlagen. Die Bestimmung wurde weitgehend unverändert in das am 1.9.1999 in Kraft getretene neue lettische Strafgesetzbuch übernommen.) Das Regionalgericht Riga verurteilte ihn wegen Kriegsverbrechen nach § 68-3 des Strafgesetzbuchs zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe. Nachdem die Kammer für Strafsachen des Obersten Gerichtshofs das Urteil aufgrund von Rechtsmitteln des Bf. und des Staatsanwalts aufgehoben hatte, wurde der Bf. im Mai 2001 neuerlich wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Die Kammer für Strafsachen erklärte das Regionalgericht der Region Latgale für zuständig. Dieses sprach den Bf. am 3.10.2003 von der Anklage wegen Kriegsverbrechen frei. Das Gericht erklärte den Bf. zwar für schuldig hinsichtlich der Tötung der drei Frauen, doch war diese Straftat bereits verjährt. Sowohl der Bf. als auch der Staatsanwalt erhoben Rechtsmittel gegen dieses Urteil.
Die Strafkammer des Obersten Gerichtshofs hob das Urteil am 30.4.2004 auf und verurteilte den Bf. nach § 68-3 des Strafgesetzbuchs zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. Durch die Tötung von neun Zivilisten in Mazie Bati hätten der Bf. und die unter seinem Kommando stehenden (inzwischen verstorbenen) Männer offenkundig gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßen, wie sie in der Haager Landkriegsordnung von 1907, dem Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und dem Zusatzprotokoll vom 8.6.1977 niedergelegt wären, und damit Kriegsverbrechen begangen.
Ein weiteres Rechtsmittel gegen dieses Urteil blieb erfolglos.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).
Zur behaupteten Verletzung von Art. 7 EMRK:
Der Bf. bringt vor, Opfer einer rückwirkenden Anwendung eines Strafgesetzes zu sein, da die ihm zur Last gelegten Handlungen zur Zeit ihrer Begehung weder nach innerstaatlichem Recht noch nach Völkerrecht strafbar gewesen wären.
1. Die Fakten des Falles und ihre rechtliche Beurteilung:
Zunächst stellt der GH fest, dass die belangte Regierung behauptet, es falle nicht in seine Jurisdiktion, die faktischen und rechtlichen Feststellungen der lettischen Gerichte zu hinterfragen. Der GH erinnert daran, dass es grundsätzlich ausschließlich Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, die Tatsachen festzustellen und das innerstaatliche Recht auszulegen. Dies gilt auch, wenn innerstaatliches Recht auf Regeln des Völkerrechts verweist. Etwas anderes gilt allerdings, wenn die EMRK selbst auf das innerstaatliche Recht verweist. In solchen Fällen kann ein Verstoß gegen die innerstaatliche Rechtsordnung für sich alleine eine Konventionsverletzung begründen. Der GH kann und muss daher prüfen, ob die innerstaatlichen Gesetze befolgt wurden. Genau dieses Prinzip gilt in Hinblick auf Art. 7 EMRK, da die Anwendung einer Bestimmung des nationalen Strafrechts auf eine von der Bestimmung nicht erfasste Handlung unmittelbar zu einem Konflikt mit der EMRK führt. Unter solchen Umständen muss sich die Jurisdiktion des GH auf die Entscheidung erstrecken, ob die strafrechtliche Bestimmung eingehalten wurde, da Art. 7 EMRK ansonsten zwecklos wäre. Genau derselbe Grundsatz gilt in Situationen, in denen die innerstaatlichen Gerichte, wie im vorliegenden Fall, Völkerrecht angewendet haben. Was die Tatsachenfeststellungen der lettischen Gerichte betrifft, sieht der GH – der bereits in seiner ZE festgestellt hat, dass das Strafverfahren gegen den Bf. den Anforderungen des Art. 6 EMRK entsprach – keinen Grund, diese in Zweifel zu ziehen. Der GH kann und muss hingegen die Beurteilung der Ereignisse nach innerstaatlichem und internationalem Recht prüfen, um entscheiden zu können, ob den Garantien des Art. 7 EMRK entsprochen wurde.
2. Allgemeine Grundsätze des Art. 7 EMRK:
Nach Art. 7 EMRK müssen Straftatbestände und die jeweiligen Strafen im Gesetz eindeutig definiert werden. Dieses Erfordernis ist erfüllt, wenn der Einzelne aus dem Wortlaut der relevanten Bestimmung und falls nötig unter Zuhilfenahme der gerichtlichen Auslegung derselben vorhersehen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen.
3. Anwendung im vorliegenden Fall:
Es ist nicht Aufgabe des GH, die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit des Bf. zu klären. Seine einzige Aufgabe besteht darin, nach Art. 7 Abs. 1 EMRK zu beurteilen, ob die Handlungen des Bf. am 27.5.1944 Straftaten darstellten, die vom innerstaatlichen Recht oder vom Völkerrecht mit ausreichender Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit definiert waren.
a) Völkerrecht:
Der Bf. wurde nach § 68-3 des früheren lettischen Strafgesetzbuchs verurteilt. Obwohl diese Bestimmung eine Reihe von verbotenen Handlungen auflistet, verweist sie hinsichtlich der genauen Definition von Kriegsverbrechen auf die „einschlägigen internationalen Übereinkommen". Die umstrittene Verurteilung beruhte daher eher auf Völkerrecht als auf innerstaatlichem Recht. Die lettischen Gerichte bezogen sich bei der Beurteilung der Handlungen des Bf. auf die Haager Landkriegsordnung von 1907, das Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und das 1977 verabschiedete Zusatzprotokoll zu diesem. Von diesen drei Instrumenten war zur Zeit der behaupteten Straftaten nur die Haager Landkriegsordnung in Kraft. Die beiden anderen traten erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft und enthalten keine Bestimmungen, die ihnen eine Rückwirkung verliehen hätten. Weder die UdSSR noch Lettland waren Signatarstaaten der Haager Landkriegsordnung, die daher auf den fraglichen bewaffneten Konflikt formal nicht anwendbar war. Wie das Internationale Militärtribunal von Nürnberg in seinem Urteil vom 1.10.1946 jedoch festgestellt hat, stellte der Text dieses Übereinkommens eine Kodifikation gewohnheitsrechtlicher Regeln dar, die zur Zeit des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs 1939 von allen zivilisierten Nationen anerkannt waren.
Mazie Bati befand sich im Mai 1944 in einem von der deutschen Armee besetzten umkämpften Gebiet nahe der Front. Es ist unbestritten, dass der Bf. und die Männer seiner Einheit Mitglieder der Roten Armee und damit Kombattanten im Sinne des Völkerrechts waren. Es konnte daher von ihnen erwartet werden, die universell anerkannten Regeln des ius in bello zu kennen und sie unter allen Umständen zu befolgen. Dies rechtfertigt nach Ansicht des GH die Schlussfolgerung, dass die Haager Landkriegsordnung auf die umstrittenen Ereignisse anwendbar war.
Der GH erachtet eine gesonderte Analyse der Zugänglichkeit dieser Bestimmungen am 27.5.1944 nicht für notwendig. Die Haager Landkriegsordnung gab lediglich die grundlegenden Regeln des von der Staatengemeinschaft anerkannten Gewohnheitsrechts wieder. Als Soldat mussten dem Bf. diese Regeln bekannt sein. Hingegen ist es erforderlich, auf das Kriterium der Vorhersehbarkeit einzugehen. Der GH muss prüfen, ob objektiv eine plausible Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Bf. wegen eines Kriegsverbrechens bestand und ob der Bf. zum gegenständlichen Zeitpunkt subjektiv vorhersehen konnte, dass er sich durch sein Verhalten eines solchen Verbrechens schuldig machen würde.
Die Urteile der lettischen Gerichte sagen nichts darüber aus, durch welche genauen Handlungen der Bf. persönlich an den Geschehnissen in Mazie Bati beteiligt war. Die ursprünglich erhobene Anklage wegen Mordes und Misshandlung von Einwohnern des Dorfes wurde später zurückgezogen. Im Lichte der Unschuldsvermutung akzeptiert der GH daher, dass der Bf. diese Handlungen nicht begangen hat. Unter diesen Umständen und angesichts des Fehlens weiterer Details über die persönliche Beteiligung des Bf. an den Ereignissen gelangt der GH zu dem Schluss, dass der einzige wirkliche Vorwurf gegen ihn darin bestand, dass er die Einheit anführte, welche die Operation vom 27.5.1944 durchgeführt hatte. Der GH muss daher entscheiden, ob die Operation für sich selbst gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstieß, wie sie in der Haager Landkriegsordnung festgeschrieben sind.
Um diese Frage zu beantworten, sind die Zustände in der Region um Mazie Bati und das Verhalten der getöteten Dorfbewohner zu berücksichtigen. Obwohl sich die Ereignisse vom 27.5.1944 nicht im Zuge direkter Kampfhandlungen ereigneten, war die gesamte Gegend doch Schauplatz feindseliger Auseinandersetzungen. Was die Opfer der Operation betrifft, ist zwischen den sechs Männern auf der einen und den drei Frauen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Was die männlichen Opfer betrifft, steht außer Streit, dass sie von der deutschen Militärverwaltung mit Gewehren und Granaten ausgerüstet worden waren. Zwar ist es heute nicht mehr möglich, die genauen Gründe für ihre Bewaffnung festzustellen, doch werfen einige Faktoren Licht auf diese Frage:
Drei Monate vor den umstrittenen Ereignissen wurde eine Partisanengruppe von der Wehrmacht in Mazie Bati angegriffen, wo sie sich versteckt hatte. Wie von den innerstaatlichen Gerichten anerkannt wurde, hatten die Bewohner des Dorfes die Partisanen verraten. Die Gerichte erwähnten zudem eine von den Bewohnern Mazie Batis eingerichtete Nachtwache. Angesichts des Verhaltens dieser Männer und der in der Region herrschenden Zustände hatten der Bf. und die übrigen Roten Partisanen legitime Gründe, die Bauern nicht als friedliche Einwohner, sondern als Kollaborateure der deutschen Armee anzusehen.
Aus diesen Gründen ist der GH nicht der Ansicht, dass die sechs am 27.5.1944 getöteten Männer als Zivilpersonen angesehen werden konnten. Die Kammer für Strafsachen des Obersten Gerichtshofs bezog sich bei ihrer Beurteilung der Opfer als Zivilpersonen auf Art. 50 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte. Zwar gilt eine Person nach dieser Bestimmung im Zweifelsfall als Zivilperson, doch kann dieses erst 1977 in Kraft getretene Protokoll nicht rückwirkend angewendet werden.
Der GH stellt weiters fest, dass die Operation vom 27.5.1944 selektiv war. Die Partisanen beabsichtigten nie, das Dorf Mazie Bati als solches anzugreifen. Die umstrittene Operation richtete sich gezielt gegen sechs bestimmte Männer, die unter dem starken Verdacht standen, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Die Partisanen exekutierten die Männer erst, nachdem sie in ihren Häusern Gewehre und Granaten – konkrete Beweise für ihre Kollaboration – gefunden hatten. Im Gegensatz dazu wurden die übrigen Dorfbewohner – mit Ausnahme der drei Frauen, deren Situation der GH noch erörtern wird – verschont. Um zu entscheiden, ob eine plausible Rechtsgrundlage für eine Verurteilung des Bf. vorlag, müssen die einschlägigen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung analysiert werden. Die lettischen Gerichte zogen lediglich einzelne Bestimmungen derselben heran, ohne zu erklären, wieso diese im Fall des Bf. anwendbar wären. Die Kammer für Strafsachen des Obersten Gerichtshofs nannte drei Artikel des Anhangs zur Haager Landkriegsordnung: Art. 23 Abs. 1 lit. b, der „die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres" untersagt, Art. 25, der Angriffe auf unverteidigte Dörfer verbietet, und Art. 46 Abs. 1, der vorsieht, dass bestimmte Grundrechte, wie die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und das Privateigentum, geachtet werden sollen. Der vorliegende Fall betrifft eine gezielte militärische Operation, die in einer Exekution bewaffneter Kollaborateure der Nazis bestand, die aus legitimen Gründen als Bedrohung für die Roten Partisanen angesehen wurden und deren Handlungen bereits den Tod von deren Kameraden verursacht hatten. Der GH ist daher nicht vom Argument der Regierung überzeugt, es habe sich um ein „unverteidigtes Dorf" gehandelt. Die lettischen Gerichte haben auch nicht erklärt, warum die Operation als „meuchlerisch" anzusehen wäre.
Angesichts dieser Feststellungen gelangt der GH zu der Ansicht, dass nicht ausreichend gezeigt wurde, dass der Angriff am 27.5.1944 als solcher mit den in der Haager Landkriegsordnung kodifizierten Gesetzen und Gebräuchen des Krieges unvereinbar war. Angesichts der summarischen Begründung der lettischen Gerichte gelangt er zu dem Schluss, dass im Völkerrecht keine plausible Rechtsgrundlage für die Verurteilung des Bf. wegen seines Kommandos über die für die Operation verantwortliche Einheit bestand.
Was die Tötung der drei Frauen betrifft, hängt deren rechtliche Beurteilung von zwei Fragen ab: Erstens, ob sie an dem Verrat der Partisanengruppe von Major Chugunov beteiligt waren, und zweitens, ob ihre Exekution von den Roten Partisanen von Anfang an geplant war, oder ob Mitglieder der Gruppe ihre Befugnisse überschritten haben.
Der GH sieht zwei mögliche Erklärungen für die Geschehnisse:
Die erste Variante wäre, dass die drei betroffenen Frauen eine Rolle beim Verrat der Männer von Major Chugunov spielten und ihre Exekution von Anfang an geplant war. Die Regierung hat die dahingehende Behauptung des Bf. nicht widerlegt. Wenn dies zutrifft, haben auch die drei Frauen ihren Status als Zivilpersonen missbraucht, indem sie die mit den Nazis kollaborierenden Männer unterstützten. Unter diesen Umständen ist die Feststellung des GH zu den sechs getöteten Männern grundsätzlich gleichermaßen auf die drei Frauen anwendbar. Die zweite Erklärung wäre, dass die Tötung der Frauen von den Männern des Bf. und ihren befehlshabenden Offizieren nicht geplant war, sondern aus einem Machtmissbrauch resultierte. Weder ein solcher Machtmissbrauch noch die Operation, bei der sich dieser ereignete, können als Verletzung der in der Haager Landkriegsordnung kodifizierten Gesetze und Gebräuche des Krieges angesehen werden. Bei einem solchen Szenario könnten die Handlungen der Mitglieder der Einheit des Bf. Straftaten nach dem allgemeinen Recht begründet haben, die nach dem zum gegenständlichen Zeitpunkt anwendbaren innerstaatlichen Recht zu beurteilen sind.
b) Innerstaatliches Recht:
Die Entscheidungen der lettischen Gerichte enthalten keine Angaben über den genauen Grad der Beteiligung des Bf. an der Tötung der drei Frauen. Es wurde nie behauptet, dass er sie selbst getötet oder seine Kameraden dazu aufgefordert oder angestiftet hätte. Die Parteien sind sich darin einig, dass die auf die Ereignisse in Mazie Bati anwendbare Rechtsgrundlage das Strafgesetzbuch Sowjetrusslands von 1926 war. Selbst unter der Annahme, der Bf. hätte schwere Straftaten nach diesem Gesetz begangen, endeten die gesetzlichen Verjährungsfristen definitiv zehn Jahre nach der Begehung der Delikte, also 1954. Es würde dem in Art. 7 EMRK enthaltenen Prinzip der Vorhersehbarkeit widersprechen, den Bf. beinahe ein halbes Jahrhundert nach Ablauf der Verjährungsfrist für diese Delikte zu bestrafen.
c) Zu Art. 7 Abs. 2 EMRK:
Da der GH den Fall unter Art. 7 Abs. 1 EMRK geprüft hat, erachtet er es nicht für notwendig, ihn auch unter Art. 7 Abs. 2 EMRK zu erörtern. Selbst unter der Annahme einer Anwendbarkeit dieses Absatzes im vorliegenden Fall kann die Operation vom 27.5.1944 jedenfalls nicht als „nach den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar" angesehen werden.
4. Ergebnis:
Angesichts dieser Feststellungen gelangt der GH zu der Ansicht, dass der Bf. am 27.5.1944 nicht vorhersehen konnte, dass seine Handlungen nach dem damals anwendbaren ius in bello Kriegsverbrechen darstellten. Es bestand daher keine plausible Rechtsgrundlage im Völkerrecht für seine Verurteilung wegen einer solchen Straftat. Selbst unter der Annahme, der Bf. habe Straftaten nach dem allgemeinen innerstaatlichen Recht begangen, war deren Verfolgung seit langem verjährt, weshalb auch das innerstaatliche Recht nicht als Grundlage für seine Verurteilung dienen konnte. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 7 EMRK vor (4:3 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Myjer, gemeinsames Sondervotum der Richterinnen Fura-Sandström und Ziemele und des Richters David Thor Björgvinsson, Sondervotum von Richter David Thór Björgvinsson).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK:
€ 30.000,– für immateriellen Schaden (4:3 Stimmen; gemeinsames
Sondervotum der Richterinnen Fura-Sandström und Ziemele und des Richters David Thor Björgvinsson).
Vom GH zitierte Judikatur:
S. W./GB v. 22.11.1995, A/335-B, NL 1995, 223; ÖJZ 1996, 356. Cantoni/F v. 15.11.1996, EuGRZ 1999, 193; ÖJZ 1997, 579. Streletz, Kessler und Krenz/D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 210; ÖJZ 2002, 274.
K.-H. W./D v. 22.3.2001 (GK), NL 2001, 59; EuGRZ 2001, 219.
Achour/F v. 29.3.2006 (GK), NL 2006, 81.
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 24.7.2008, Bsw. 36376/04, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 225) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):
www.menschenrechte.ac.at/orig/08_4/Kononov.pdf
Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.